Sophies Seifenblasen

Sperling

Mitglied
Seit sie denken konnte, fuhr sie alleine in der Bahn und kam sich dabei jedes Mal wie in einer Blase vor. Die Nieten auf ihrer schwarzen Bomberjacke, die silbernen Spikes auf ihrenStiefeln, das giftgrüne Haar und das blasse Gesicht mit den kajalumrandeten Augen hielten die Mehrheitsgesellschaft auf Abstand. Früher, mit vierzehn Jahren, war sie das schüchterne Mädchen gewesen, das in seiner eigenen Welt lebte. Das man belächeln, über das man die Augen verdrehen und das man auch zum Weinen bringen konnte, wenn man es denn wollte. Jetzt, mit zweiundzwanzig, hielt man sich lieber von ihr fern. Ob aus Angst (wirkte sie nun gefährlicher?) oder aus Langeweile (machte das Ärgern keinen Spaß mehr?), sie wusste es nicht. Umso besser, es machte ihre Blase sicherer, man könnte sagen, sie hatte sich von einer Seifenblase zu einem unsichtbaren Schutzschild hochgearbeitet. Am Liebstenhätte Sophie es gehabt, wenn es so geblieben wäre. Außer, wenn es regnete oder wenn es gewitterte. Dann wurde es in ihrer Blase ziemlich einsam. Und mitten in der Bahn kann man sich nicht auf dem Boden zusammenrollen und warten, bis der Sturm vorüberzieht. Man muss es aushalten, wie der Regen umbarmherzig gegen die Scheiben trommelt und der Donner grollt. Und so saß sie ganz hinten, den Blick auf ihre Stiefelspitzen gerichtet, und knabberte an den kümmerlichen
Resten ihrer Nägel. Da Sophie in einer recht niederschlagsreichen Region lebte, war ihr das Abwarten und Aushalten schon zur Gewohnheit geworden. Nur dass diesmal etwas anders war.

Gerade als der Blitz weißblau den Himmel spaltete und die Dunkelheit draußen vor der Scheibe hell erleuchtete, hörte sie jemanden sagen: „Alles gut. Das beruhigt sich wieder.“ Sie blickte auf und sah, dass da jemand vor ihr stand, direkt am Rande ihrer Blase. Das war ungewöhnlich. Ungewöhnlich war auch die Gestalt, die da im Gang vor ihr aufragte. Sofort erkannte sie, dass dieser Mann, genau wie sie auch, eine Blase bewohnte, nur dass seine ganz sicher von der Furcht erzeugt wurde, die er verströmte, zusammen mit einem Geruch von Leder und nasser Wolle. Seine Jacke war ein wenig abgewetzt und ölfleckig,
seine Schuhe klobig. Sein Gesicht hager, mit kurzem, aschblondem Haar und blauen Gletscheraugen. Ein schwarzer Schriftzug erstreckte sich quer über seinen Hals, kyrillisch, vermutete sie. Dunkle Spinnennetze bedeckten seine Handrücken, Zahlen und Buchstaben die Finger. An der linken Hand glänzte eine schwere silberne Uhr, sicher teuer.An der rechten funkelte ein stählerner Ring mit dem Kopf eines Löwen. Nun konnte sich jeder tätowieren lassen -
Sophie selbst hatte eine schwarze Rose auf der linken Wade - und jeder konnte sich einen schweren Ring kaufen. Im Zweifelsfall sah man damit albern, vielleicht auch sehr interessant aus. Doch an diesem Mann wirkte es einfach natürlich, es war seine zweite Haut. Denn die eine Sache war, was man trägt, die andere, wer man ist. Dieser Mann, so schoss es Sophie durch den Kopf, war einer von denen, die ein Messer nicht zum Spaß tragen oder um anzugeben, sondern, weil sie damit umzugehen wissen. Und nun stand ausgerechnet dieser Mann vor ihr, während draußen das Unwetter tobte, und sprach sie an. Nach so vielen Jahren in der schützenden Sphäre ihrer Blase, war das wie eine kalte Dusche. Ihren ersten Impuls, einfach nichts zu sagen, verwarf sie. Was, wenn er anfangen würde, sie zu bequatschen, was, wenn ihn ihr Schweigen anstachelte, gar provozierte? Nichts riskieren, sagte sie sich, lieber dem Hund…oder besser: Löwen!…einen kleinen Knochen hinwerfen und hoffen, dass er sich trollt. „Wird schon“, erwiderte sie also, hoffte, er würde gehen. Der Fremde lächelte. Dafür, dass er so bedrohlich wirkte, war sein Lächeln überraschend freundlich. „Ich hatte früher oft Angst vor Gewitter“, erklärte er, „ich
wollte mich nicht aufdrängen.“ Und damit wandte er sich um und stapfte den Gang hinunter. Fast hätte Sophie ihm zugerufen, er möge doch bitte noch warten. Sein Lächeln hatte sie entwaffnet, sie war es nicht gewöhnt, angelächelt zu werden. Und dass dieser Mann lächeln konnte, überraschte
sie noch mehr. Er wirkte nicht wie jemand, der früher einmal Angst vor Gewitter gehabt hatte, und erst recht nicht wie jemand, der das zugeben würde. Natürlich rief sie ihm nichts dergleichen zu, sondern biss sich brav auf die Lippe. Ein Schutzschild ist ein Schutzschild. Und war es nicht genau dafür da, sie gerade vor solchen Menschen zu schützen? Sie beobachtete, wie die anderen Bahnpassagiere es tunlichst vermieden, in seine Richtung zu sehen, ihre Blicke
schweiften hierhin und dorthin, nur, um ihm nicht begegnen zu müssen. Ganze drei Stationen hatte Sophie Zeit, das vielsagende Mienenspiel zu studieren, bevor der Fremde schließlich ausstieg, sein Gesicht gleichmütig, als habe er nichts davon mitbekommen. Hin und wieder hatte er noch zu ihr hinüber gesehen, aber ganz normal, ohne zu starren oder Ähnliches.


Drei Wochen Bahnfahrten vergingen, bis sie ihn wieder sah. Diesmal regnete es nicht, doch der Himmel war eine graue Glocke, die tief über der Stadt hing. Er saß etwa zehn Meter von ihr entfernt. Als er ihren Blick auffing, nickte er ihr kurz zu, dann zog er ein zerlesenes Buch unter seiner Jacke hervor und vertiefte sich darin. Sophie versuchte, den Titel zu entziffern, doch es gelang ihr nicht. Ob sie vielleicht versuchen sollte, einen besseren Blick auf das Buch zu erhaschen? Rasch verwarf sie den Gedanken. Lieber nicht. Jeden Tag saß irgendwer in der Bahn und las, nie hatte es sie gekümmert. Warum sollte es sie nun interessieren? Nun, andererseits…von den anderen Lesern hatte bisher noch keiner versucht, ihr Mut zu machen, wenn es regnete. Doch ihr Entschluss stand fest, es half nichts. Schutzschild blieb Schutzschild. Schließlich stieg der Fremde an der selben Station wie beim letzten Mal aus und die Chance war endgültig vertan.


Dachte sie. Doch in den Wochen darauf traf sie ihn regelmäßig in der Bahn, jedes Mal mit dem selben Buch. Vielleicht war es ja seine Bahnlektüre, ein Buch, das er nur zur Hand nahm, um die Fahrten zu überbrücken. Wieder und wieder bemühte sie sich, einen Blick auf das Cover zu erhaschen. Vergebens. Doch dann, eines Nachmittags, stand er plötzlich auf und schlenderte durch das Abteil zu ihr hinüber. „Dostojewski. Schuld und Sühne“. Er hielt ihr das Buch unter die Nase. „Das wolltest Du doch wissen, oder?“ Vollkommen überrumpelt blieb Sophie nichts anderes übrig, als mechanisch zu nicken. „Na dann. Wenn ich fertig bin, leih' ich es Dir aus, wenn Du magst. Wir sehen uns ja ab und zu.“ Sophie hatte nie viel gesprochen. Diesmal jedoch war es die schiere Überraschung, dass dieser Mann schon wieder in ihre Blase eingedrungen war, die ihr die Sprache verschlug. „Willst Du es denn lesen?“, fragte der Unbekannte - besser: Der Fremde, irgendwie war ihr sein Anblick ja schon vertraut - sie ein wenig ungeduldig. „Klar, wieso nicht“, brachte sie heraus, ohne wirklich zu überlegen, ob sie das Buch denn tatsächlich lesen wollte. „Ich bin übrigens Finn“, erklärte der Mann und streckte ihr die tätowierte Hand entgegen. Kurze, saubere Nägel, aber
Schwielen von harter Arbeit. Vielleicht auch vom Gewichteheben? Bestimmt trainierte er. Endlich fing sich Sophie und drückte die ihr dargebotene Hand. „Sophie. Freut mich Dich kennenzulernen, Finn.“ Was für ein Bild sie doch abgeben mussten. Das Goth-Mädchen mit dem giftgrünen Haar und der große, tätowierte Mann mit dem Löwenring.


Tatsächlich lieh ihr Finn zwei Wochen später in der Bahn das Buch. Sie las es binnen einer Woche aus und gab es ihm zurück. Zusammen mit ihrem zerlesenen Edgar Allan Poe Sammelband. „Ist mein Lieblingsautor. Vielleicht gefällt er Dir.“, hatte sie auf einen karierten Zettel geschrieben und ihn vorne in dem Buch eingelegt. Und so begann ein regelmäßiger Büchertausch. Alle zwei Wochen gab er ihr seine neueste Lektüre und nahm dafür ihre entgegen. Alle zwei Wochen ein kurzer Wortwechsel und dazwischen jedes Mal ein freundliches Nicken oder Lächeln, wenn sie sich in der Bahn sahen. Wenn Finn lächelte, schien er ein wenig ungefährlicher. Doch seine Blase aus Angst umgab ihn nach wie vor und hielt die Menschen auf Abstand. Wenn er nicht
Sophie anblickte, sondern sein Blick ins Leere ging, vereisten seine Gletscheraugen und manchmal schlossen sichunwillkürlich seine tätowierten Fäuste. Das war kein Mann, dem Sophie anbieten konnte, mit ihr in ihre kleine Studentenwohnung zu kommen, um einen Kaffee zu trinken. Auch kein Mann, dessen Einladung auf einen Kaffee Sophie folgen würde. Aber manchmal, wenn draußen vor ihrem Schlafzimmerfenster der Regen an die Fenster trommelte, stellte sie sich vor, wie er sie beruhigte, wenn einmal wieder die Furcht ihre kalten Hände nach ihr ausstreckte. Wenn sie nicht schlafen konnte, wenn sie gedankenverloren auf ihrer Couch lag, sah sie ihn vor ihrem inneren Auge. Finn war das Gespenst, das nie von ihrer Seite wich, das ihr beim Lesen über die Schulter guckte und dessen rote Unterstreichungen und Randnotizen in seinen Büchern sie jedes Mal überraschten, wenn er eine Passage markiert hatte, die auch ihr gefiel. Und manchmal, wenn Sophie diese Gedanken weiterspann, kam unwillkürlich auch die Frage auf, ob irgendwo in Finns Leben ein Sophie-Gespenst existierte.

Mit den Monaten merkte Sophie, wie sich etwas in Finns Leben veränderte. Zuerst war es die Lederjacke, die einem Parka wich, dann wurden die Pullover zu Hemden und manchmal wich der Parka einem Sakko. Die Bücher, die Finn mitbrachte, änderten sich ebenfalls. „Einführung in die Betriebswirtschaftslehre? Wieso liest Du so was?“, kommentierte sie einmal mit hochgezogenen Brauen. Finn zuckte die Achseln. „Warum nicht?“ Beim nächsten Mal brachte ihm Sophie dafür ein Philosophielehrbuch aus ihrem Studium mit. Als er es ihr zurückbrachte, gab er zu, dass es ihm tatsächlich zunächst langweilig vorgekommen war, aber er während des Lesens angefangen hatte, sich mehr und mehr dafür dafür zu interessieren. Manchmal schauten die Umstehenden und Umsitzenden befremdet, zuweilen besorgt oder alarmiert, wenn dieses hagere Mädchen mit den zerrissenen schwarzen Jeans und den verwaschenen
Bandshirts zielsicher den großen, tätowierten Mann ansteuerte, der, wie Sophie bereits ganz am Anfang festgestellt hatte, ja immerhin aussah wie jemand, der gewohnheitsmäßig ein Messer am Leib trägt. Wie lange braucht man, um jemanden kennenzulernen? Wochen, Monate, Jahre? Und ab wann ist jemand ein Freund? Wann wird jemand von einem Freund zu dem einen Freund? Schwierige Fragen. Ihre Sprache war das Verleihen von Büchern, das Nicken, das Lächeln, die kurzen Silben. Das „Wie geht’s?“, das „Du siehst müde aus, mach langsam.“ Wie konnte man dem Anderen in dieser Sprache
mitteilen, dass man Angst hatte, ihn eines Tages zu vermissen? Was wussten sie denn voneinander? Es vergingen Jahre. Sophies Bandshirts wichen Bluse und
dunklen Jeans. Finns Tattoos blieben logischerweise, aber er trug nun Hemden und Chinos, den Ring sah man seltener. Die
Aura der Gefahr wurde zu einem Nebel, Leute zuckten nicht mehr zusammen, wenn sein Blick auf sie fiel, stierten nur auf seine Tätowierungen. Statt Bücher zu lesen, scrollte er auf seinem Smartphone herum. Sophie las in der Bahn oder hörte Musik. Ihre Blasen, so schien es ihr, waren keine Schilder mehr, hier und da zeigten sich Löcher. Aber sie saßen beide nach wie vor mutterseelenallein da, egal wie voll die Abteile wurden. Sie schnitt sich einen Bob, Finn ließ sein Haar wachsen. Die Wortketten, die sie wechselten, wurden länger, manchmal standen sie beieinander, innerlich die Stationen abzählend, die noch vor ihnen lagen. „Ich wünschte, ich müsste erst später aussteigen“, sagte Finn dann. Er sagte es immer öfter, und irgendwie geisterte die Einladung zum Kaffee in Sophies Hinterkopf herum. Doch sie sprach sie nicht aus, und auch er hielt sich bedeckt. Zwei Menschen in ihrem Panzer können nicht einfach aussteigen und die Luke hinter sich zufallen lassen. Und deshalb nahm Sophie das Wort „Kaffee“ nicht ein einziges Mal in den Mund.


Dann kam der Tag, wo Sophie erfuhr, dass sie umziehen würde. Ihre Arbeit verlangte es, unmöglich, da nein zu sagen. Das Leben, wurde ihr bewusst, wartet nicht, ob Du bereit bist. Finn vermissen zu müssen, war eine furchtbare Vorstellung. Und deshalb war es Zeit, einmal die Blase zu verlassen und zu schauen, wie es draußen aussah. Ein wenig nackt, ein wenig angreifbar fühlte sie sich. Ob Finn auch seine Blase verlassen konnte? Ob er bereit war, von dem Mann, dem man ein Messer in der Tasche zutraute, zu dem Mann zu werden, der das Messer daheim lassen und mit dem Mädchen mit den nunmehr grünen Strähnen im schwarzen Haar (Zugeständnis an ihren Beruf) einen Kaffee zu trinken? Zeit, es herauszufinden. Sie betrat die Bahn, den Rücken gerade, den
Kopf erhoben. Aber Finns Platz war leer.
 



 
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