Sprachverfall (Sonettatiges alexandrinisches Geröll)

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Bernd

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Für James Blond

Ik gihorta dat seggen,
dat sih urhettun ænon muotin,
Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem.
(Hildebrandlied)​

Was ist seit langer Zeit der Sprache widerfahren?
-- die Söhne sprechen nicht, wie ihre Mütter sprachen
Wenn auch ins Tintenfass sie manche Feder stachen:
die Sprache, sie verfällt seit tausenden von Jahren.

Wo blieb der Dual ab? Ihn trugen sie auf Bahren.
Der fünfte Fall ist hin, die Endungen zerbrachen -
Wer rollt schon noch das "r"? Dem "g" geht's an den Kragen.
Und mit dem Genitiv ist's sowieso verfahren.

Durch Sprache kreist die Drift, der bhratar wurde Bruder
doch damit nicht genug - entstand auch noch ein Luder.
Zum Glück bekommen wir gar manches Wort zurück.

Zwar nicht in einem Stück - und ziemlich stark verdorben.
In Englisch konserviert ist manches nicht gestorben,
das wir vermurksten einst, und das ist doch ein Glück!
 

lapismont

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Bernd

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Der Instrumental ist verschwunden.
Leider können wir das Verschwinden des Genitivs nicht mehr beobachten, weil es einige hundert oder tausend Jahre dauern kann.

Faktisch aus dem Gesicht der Sprachkundler ist der sehr schöne Genitiv "Meiner Oma ihr klein Häuschen" verschwunden.

Seit 1000 sind über die Hälfte der deutschen Wörter verschwunden.

Goethes Muttersprache wurde zu seiner Zeit auch als verfallen betrachtet, sein Dialekt als klassisch.


Wir lesen es nicht mehr im Original. Wen stört es? Kaum jemanden.
 

James Blond

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Lieber Bernd,

über Dein Sonett habe ich mich aus verständlichen Gründen sehr gefreut!

Wann bekommt man schon mal ein so schönes persönliches Geschenk?
Vielen Dank! :)

Und ich mag diese Art eines "geformten" Dialoges über Sprache sehr.

Du führst auch gute Argumente an: Der Sprachwandel ist (wie) ein natürlicher Prozess, eine stetige Drift, die schon seit Urzeiten stattfindet: Lautverschiebungen, Bedeutungswandel, Gebrauchsformen, Grammatik, Lehnworte, Modeworte, Fremdworte.

Das hast Du sehr schön in einfachen Worten dargestellt. Interessant, dass z.B. Worte einst aus dem Deutschen auswanderten, um dann als Modewörter wieder heimzukehren: schick -> chic.

Damit wir uns nicht missverstehen: Mir liegt jede "Sprachgärtnerei" fern, die als Steckenpferd pensionierter Altphilologen die "Reinheit" einer als ursprünglich angenommenen deutschen Sprache bewahren soll. Nichts liegt mir ferner. Ich habe nichts gegen Anglizismen, finde z.B. auch, dass vieles "Sinn macht". Das ist kein Verfall, sondern im Gegenteil ein Vitalitätsbeweis von Sprache.
Insofern ist nur Dein Titel etwas irreführend. "Sprachwachstum" wäre dafür passender.

Was mir wirklich Sorgen macht, ist nicht der Verfall der Sprache, sondern der Gehirne, die sie hervorbringen. Die Sprache ist dafür nur Indiz, nur Symptom eines globalen Hirnzerfalls, der sich in einem dramatischen Nachlassen sprachlicher Kompetenzen äußert. Ich will niemandem zu nahe treten, aber was ich sogar in Foren zur Sprachpflege zuweilen antreffe, ist in seiner Armseligkeit häufig erschütternd: Sprechblasenschäume, die jeden klugen Gedanken zu ersticken drohen.

Meine etwas überspitzte Vermutung: Nicht die Sprache ist es, es sind die Menschenhirne, die zerfallen, weil sie dabei sind, sich zu einem globalen Brain neu zu formieren, in dem sie die Funktion von Neuronen übernehmen und die Aufgaben der sprachlichen Darstellung und Gestaltung kaum mehr benötigt werden. :)

Sorry, dass ich zu wenig über Dein Sonett schreibe und soviel über meine Sprachbetrachtungen, aber das Thema hat mich nun mal gepackt. :)

An anderer Stelle gern mehr dazu!

LG JB

P.S.
Faktisch aus dem Gesicht der Sprachkundler ist der sehr schöne Genitiv "Meiner Oma ihr klein Häuschen" verschwunden.
Dieser Genitiv war in meiner norddeutschen Heimat noch häufig zu hören, wurde uns aber seinerzeit in der Grundschule ausgetrieben.
 

Walther

Mitglied
hi bernd,

die klage ist prekär, korrekt und falsch. aber das schriebst du selbst. in dialekten, den viel gescholtenen, wird vieles konserviert. über die jugendsprache kommt neues in das, was wir deutsch nennen, hinein. wir haben übrigens, wegen der vielen einflüsse (griechisch, latein, jiddisch/hebräisch, französisch, englisch, türkisch etc.) den größten wortschatz aller europäischen sprachen. seien wir froh darüber. in kaum einer sprache kann so nuanciert beschrieben und gefühlt werden.

danke für dieses schöne sonett, an dem es ein paar kleinigkeiten zu monieren gäbe, die wir aber in der aktuellen debatte hintanstellen wollen, weil sie nicht so wesentlich sind - es sei denn, sie wären von dir gewünscht.

lg w.
 

Bernd

Foren-Redakteur
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Hallo, James, danke, dass Du auf mein (etwas polemisches) Sonett geantwortet hast. Es war ja auch tatsächlich eine polemische Antwort auf Deins, es ergänzend und besprechend.

Der erste große Vertreter der Theorie des Sprachverfalls war übrigens aus meiner ursprünglichen Heimatgegend, er stammte aus Sonneberg, ich aus Haselbach, geboren in Steinach.
Es ist August Schleicher, aus dem 19. Jahrhundert.
Er behauptete, mit der Verschriftlichung setzte der Verfall ein, sofern ich mich recht erinnere.


Eine wachsende Verdummung kann man teilweise finden, ich denke aber, auch das ist teilweise stationär.

Interessant ist, dass Englisch ursprünglich eine Mischung eines französischen Dialektes und altenglischer Dialekte war, unter fast vollständigem Ausschluss des Keltischen und Lateinischen, mit usnahme von Ortsnamen.

Ich habe zwei Bücher gehabt über die Überhäufung des Deutschen mit französischen Ausdrücken. Vom Anfang des 20. Jahrhunderts.

Für heute erst mal viele Grüße und danke für Dein spannendes Gedicht.


Hallo, Walther,
danke für die Besprechung.
Welches sind die konkreten Fehler? (Ein kleiner Teil ist Absicht, aber grundlegende Formfehler würde ich beheben. Zu solchen werde ich mir auch James' Sonett nochmal ansehen, aber dort sind sie wahrsceinlich eher Absicht, denn die Formen der Strophen sind sehr frei.
 

James Blond

Mitglied
Ah, vielen Dank für Deinen Hinweis auf August Schleicher, den begnadeten Linguisten, von dem ich kaum etwas kenne. Allerdings wundert es mich nicht, wenn ein Linguist der Schriftsprache kritisch gegenübersteht. Schließlich ist sein Metier die "natürliche" gesprochene Sprache und nicht etwa das Kunstprodukt des Schriftlichen. (Ob es sich heute, im Zeitalter der Massenmedien und des Internets noch um eine "natürlich gesprochen Sprache" handelt, ist eine ganz andere Frage.)

Schleicher war wie viele seiner Zeitgenossen von der Darwinschen Evolutionstheorie angetan und korrespondierte dazu mit deren bedeutendstem Vertreter in Deutschland, Ernst Haeckel. Auch Sprachen, erkannte Schleicher, entwickeln sich wie Organismen und lassen sich ebenso in Stammbäumen darstellen. Von dieser Sichtweise her ist es dann nur ein kleiner Schritt, vom Werden, Blühen, Verfall und Untergang zu sprechen und wenig später wurde diese Sichtweise von Oswald Spengler auch auf ganze Kulturen übertragen. Der naturwissenschaftliche Blick war das Paradigma der Zeit. Die Vorstellung von Degenerationsprozessen im sozialen Leben wurde leider auch zur Grundlage rassenhygienischer Bestrebungen. Es ist also nicht immer hilfreich, wenn biologisches Gedankengut in soziale Sphären eindringt. :)

Ein wenig von dem reaktionären Tenor bleibt wohl stets, wenn es um Hinweise auf Zerfallsprozesse geht, insbesondere in der Sprache hört man diesen Ruf ja seit tausend Jahren. In Wahrheit handelt es sich dabei jedoch um Umbauprozesse, nur dass die Kritiker zwar das Verschwinden des Alten bemerken, für die Entstehung des Neuen jedoch kaum ein Gespür entwickeln, nicht entwickeln können, weil ihre Wahrnehmung es nicht mehr zulässt: Eine verbreitete Form der Altersblindheit.

Insofern lasse ich mich als alter Grantler gerne eines Besseren belehren (neue Sichtweisen sind für einen künstlerischen Prozess ja immer essentiell) und auf Neues hinweisen. (Leider bin ich von vielen "Erscheinungen" bisher enttäuscht worden, sei es nun Rap oder Poetry-Slam: "Masse statt Klasse" bleibt das Motto der Veranstaltung.) Und da bin ich wieder beim "Sprechblasenschaum" des Internets: Mir scheint, als wäre die Hemmschwelle zur Veröffentlichung eines eigenen Textes an den Zinssatz gekoppelt: Sie strebt gegen Null. Einer exponentiell ansteigenden Flut von literarischen Veröffentlichungen steht eine schwindende Zahl von interessierten Lesern gegenüber. Wahrscheinlich wird diese Entwicklung erst dann ihr "natürliches" Ende finden, sobald man - frei nach Joseph Beuys - feststellen darf: "Jeder Mensch ist sein eigener Schriftsteller - und sein einziger Leser!" :D

LG JB
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe natürlich diese "Sprachzerfallstheorie" etwas auf die Schippe genommen, obwohl sie im Rahmen ihrer eigenen Kriterien funktioniert.
Wenn wir jedoch feststellen, dass der Zerfall kein Zerfall sondern eine Weiterentwicklung ist ... bleibt nur die Möglichkeit zur Ironie.

Meist wird ja von außen kritisiert.
In Dresden waren die Poetry-Slam-Veranstaltungen immer Höhepunkte und gut besucht. Die Qualität der Werke ist sicher unterschiedlich.

Der Zerfall der Sprache ist ein scheinbarer. Das "Sterben" von Sprachen findet aber statt.

Und der Prozess ist verschieden schnell. Wir lesen heute bereits die Werke von Goethe nicht mehr im Original, sondern redigiert und den heutigen Regeln angepasst.

Mittelhochdeutsch versteht man noch - wenn auch teilweise miss.

Althochdeutsch - selbst wenn man es versteht, versteht man wenig.

Die Jugend ist übrigens schon seit tausenden Jahren verdorben. Einer der Verderber hieß Sokrates.

Schleicher hat übrigens auch Märchen gesammelt (hauptsächlich litauische.)
 



 
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