Sprechstunde

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anemone

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Ich erkannte ihn schon beim Betreten des Wartezimmers. Er war der typische (Ex)Alkoholiker (vermutlich, da es immerhin die Sprechstunde eines Arztes war).

Einige Patienten drückten ihre Nase tief in ihre Zeitschrift.
„Papa“ drang die Stimme eines etwa 2-jährigen Kindes an unsere Ohren. Papa stützte seine Arme auf die Knie und hielt den Kopf gesenkt. Unruhig lief der Junge um den Tisch herum und nahm sich eine Zeitschrift nach der anderen, um sie auf den Boden zu befördern.
„Lass das!“ kam die tiefe Brummstimme des Vaters zurück. Eine etwa 60-Jährige hob geduldig alle Zeitschriften wieder auf und sprach mit ihm.
Danach lief der Junge unruhig hin und her, scheinbar mit der Überlegung beschäftigt, wie er diese langweiligen Menschen etwas aufmischen könnte.
Er begann damit, Stühle zu verrücken und hatte Erfolg. Vaters Stimme dröhnte: „Komm mal hier!“ Er nahm ihn auf seinen Schoß und das Kind bäumte sich auf, um wieder dort hin zu gelangen, wo seiner Meinung nach die Freiheit war, mit der er nichts anzufangen wusste.
Sein Vater polterte erneut und drohte dem Jungen Schläge an. Da griff die Dame erneut in das Geschehen ein, nahm das Kind auf den Schoß und spielte mit ihm einfache Fingerspiele.
Das Kind sah und hörte fasziniert zu und blieb bei ihr sitzen, bis sie es wieder frei gab.
„Mit Kinder muss man sich beschäftigen, dann sind sie ruhig!“ sagte sie zu mir. „Ich habe schon 11 Kinder großgezogen.“ „Sind denn auch eigene Kinder dabei?“ fragte ich sie.
„Ich hatte vier Kinder, doch jetzt sind es nur noch zwei.“ gestand sie mir mit traurigem Blick.
Eine Tochter verlor im Alter von 10 Jahren ihr Leben durch einen Autounfall. Ich hielt es nicht mehr aus allein zu Hause und suchte mir Arbeit im Haushalt mit Kindern. Noch heute kommen diese Kinder oft zu mir und umarmen mich.“ Leider war unser Gespräch da zu Ende, weil sie zum Arzt gerufen wurde.
„Er war nicht mehr geplant!“ gestand mir der Vater. Der Kleine machte dermaßen viel Lärm, dass er sich gezwungen sah, mit ihm in den Flur zu gehen.
Das Leben ist oft ungerecht.
 



 
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