Sprung

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Flitzi

Mitglied
Da steh´ich nun. Vor meinem Spiegel, aufrecht, angespannt. Der grelle Deckenfluter, ähnlich einem Polizeischeinwerfer, beleuchtet mich. Das Licht fällt auf mein akkurat gekämmtes Haar. Ich zupfe; zupfe eine letzte Haarsträhne in eine korrektere Position, zupfe meinen Rock Richtung Knie, zupfe meine Jacketärmel näher zu den Händen. Ich betrachte mich von vorne, von hinten, von rechts, von links. Die braune Aktentasche klemmt unter meiner Achsel, verknautscht, weil ich sie so fest an meinen Körper presse.
Ich fühle mich wie damals, an meinem ersten Tag im Kindergarten, dem ersten Schultag, dem ersten Tag an der Uni, dem ersten Arbeitstag. Ein Gefühl, dass mir immer wieder über den Weg läuft, dass ich kenne, aber trotzdem nicht lieben kann: diese in mir hoch kriechende Unsicherheit.
Ich muss hinaus in die weite Welt. Ich muss, ich will aber nicht. Lieber möchte ich in den warmen Wänden meines Schneckenhauses verweilen und aus dem Fenster schauen. Die Welt betrachten, wie sie an mir vorbeizieht.
Ich blicke auf die Uhr. Ihr drohender Zeiger warnt mich. Beeile Dich, sonst kommst Du zu spät! Ich atme tief durch. Meine Hände sind kalt und nass; sie zittern. Mein Gesicht ist blaß und fahl. Mein Hals ist rot. Verräterische kleine rote Flecken übersähen meine Haut. „Sie hat schon wieder diese hektischen Flecken!“, höre ich die Stimme meiner Mutter in meiner Erinnerung.
Papperlapapp! Bauch rein, Brust raus, Schultern zurück! Was soll mir schon passieren? Die werden schon nicht beißen!
Genau genommen ist es nichts Neues. Ich kenne meine Arbeit. Jahrelang habe ich gearbeitet: den Computer bedient, die Kunden bedient, die Maschinen bedient. Ich habe Konten eröffnet, Kreditanträge ausgefüllt, Zahlungsverkehrsvorgänge abgewickelt, Geld gezählt, jahrelang. Trotzdem fühle ich mich, wie an meinem ersten Arbeitstag. Es ist mein erster Arbeitstag. Der erste Arbeitstag seit Jahren.
Für unendlich lange Zeit habe ich mich zu Hause verkrochen; habe Windeln gewechselt, Brei gekocht, Laufen und Sprechen gelehrt. Vorbei.
Ich begebe mich wieder an die Front und werde kämpfen, kämpfen, wie ich es immer getan habe.
Mein Magen rebelliert. Es ist nicht die Arbeit, die mich abschreckt. Es ist die Angst vor dem Ungewissen, die Angst, das Gewohnte zu verlassen, die Angst ein neues Leben zu führen. Wie wird es sein? Wird es mich verändern? Werde ich mich wohl fühlen? Werde ich es schaffen?
Wieso nicht? Nur weil ich jahrelang aus dem Job bin? Weil ich alt bin? Weil ich alles verlernt habe? Weil die anderen jünger, cleverer, schneller sind?
Ich atme tief durch, kehre dem Spiegel den Rücken zu und springe, springe in das kalte Wasser hinein.
 

Aceta

Mitglied
Ich finde

diese Protagonistin wurde sehr, sehr mutig beschrieben!
In mir - als Leser(in) - erweckt es
"Daumendrücken" ...
*lächel*

Aceta
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
Hallo Flitzi,

eine wirklich flüssig geschriebene Geschichte, die sehr schön die Situation der Frau beschreibt, die nach der Babypause wieder in den Beruf zurückkehrt! Besonders gut hat mir die Stelle mit den "hektischen roten Flecken" gefallen :)

Viele Grüße,
 



 
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