Spukiolo, der Gespensterjunge

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rogathe

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Spukiolo, der Gespensterjunge

Spukiolo, der Gespensterjunge, ist von zuhause ausgerissen und kommt am späten Abend in eine fremde kleine Stadt. „Das ist ja spukig, hier riecht es wie daheim, wenn die alte Kräuterhexe ihren Sud rührt“, wundert er sich, als er am gekippten Fenster der Apotheke vorbeifliegt, in der noch Licht brennt. Neugierig hält er an und beobachtet heimlich, wie die Apothekerin an einer Spatelspitze voll grünem Wackelpudding schleckt. „Hm, ja so ist es gut“, hört er sie durch den Spalt zufrieden sagen. „Ein wenig süß, aber auch bitter muss er sein, denn immerhin ist er eine wirksame Arznei gegen Husten, die die kranken Kinder nicht im Übermaß genießen dürfen.“ Sie nimmt den Glaskolben vom Magnetrührer und stellt ihn gut verschlossen in den Kühlschrank ihres Labors. „Für heute habe ich genug experimentiert, es ist Zeit schlafen zu gehen.“ Gähnend löscht sie das Licht und steigt die knarzenden Stufen zu ihrer Wohnung hinauf.
Augenblicklich schlüpft Spukiolo herein und nascht vom grünen Wackelpudding. „Hm, eigentlich schade, dass ich keinen Husten habe.“ Dann schwebt er weiter durchs ganze Haus, vorbei an der großen Standuhr im Flur, die mit dunklem Klang soeben zwölfmal schlägt, bis auf den Dachboden. „Hier gefällt's mir, das ist ein schönes Plätzchen, um sich auszuruhen.“ Kaum hat er es sich jedoch in einer Ecke zwischen alten Kisten und ausrangierten Möbeln bequem gemacht, hört er jemanden im Vorbeifliegen schimpfen: „Hau gefälligst ab, hier wohne ich!“ „Huch, hast du mich erschreckt! Ich heiße übrigens Spukiolo und bin bloß auf der Durchreise. Wer bist du denn?“ „Flidi, die Fledermaus.“ „Ich werde dich bestimmt nicht stören“, verspricht Spukiolo treuherzig. „Wie kommt es denn, dass du allein hier lebst? Bist du schon lange da?“ Misstrauisch betrachtet Flidi den Gespensterjungen von einem Dachsparren aus. „Sag du zuerst, was du hier willst.“
„Das ist schnell erzählt. Ich habe mich auf unserer Burg Iolo fast zu Tode gelangweilt. Ständig Touristen erschrecken ist ätzend. Deshalb bin ich einfach losgezogen. Ich will andere Gespenster auf der ganzen Welt treffen und Freunde finden!“
„Schön für dich. Mir ist es nicht so gut ergangen. Ich bin als einziger Überlebender meiner Familie hierher geflohen. Alle anderen sind bei einer schrecklichen Explosion in unserer Höhle umgekommen.“
„Das tut mir sehr leid. Willst du mein Freund sein?“ Spukiolo segelt vorsichtig neben Flidi und legt behutsam seinen Arm um ihn. Verdutzt lässt ihn der Fledermausjunge gewähren. „Vielleicht.“ Doch dann vertraut er dem freundlichen Gespenst. „Okay, du darfst tagsüber hier schlafen! Aber jetzt suche ich mir was zu futtern, ich habe einen Riesenhunger. Kommst du mit?“ „Klar!“
Übermütig sausen sie durch die nächtlichen Straßen, schlagen Purzelbäume in der Luft und wirbeln um Straßenlampen herum. Flidi fängt allerlei Insekten, während Spukiolo, der kein Interesse daran hat, auf eine kleine Ratte aufmerksam wird. Sie läuft hurtig an Hauswänden entlang und biegt alsbald in einen Hinterhof ab, wo sie bei einer großen Mülltonne anhält. „Na sowas, die hat ja eine Brille auf der Nase!“ „Ach, das ist die Leseratte vom Buchhändler Waldemar Wamperl. Die hat wohl heute Lust auf italienische Spezialitäten. Hier ist nämlich die Pizzeria“, erklärt er dem Gespenst. „Lass es dir gut schmecken, Ragna, ich komm später bei dir vorbei!“ „Danke, bis dann“, antwortet sie und wendet sich Spukiolo zu: „Das solltest du auch mal probieren!“ „Oh, sehr gerne, so etwas habe ich noch nie gegessen. Das gibt’s nicht auf Burg Iolo!“ Er setzt sich zu Ragna hinter die Mülltonne und will soeben herzhaft in ein herumliegendes Stück Pizza beißen, als ein Auto vorfährt und neben ihnen anhält. Zwei Männer steigen aus und eilen zur Hintertür in das längst geschlossene Lokal hinein, ohne auf die Ratte und das Gespenst zu achten, die mucksmäuschenstill auf dem Asphalt hocken.
„Carlo, Luigi, habt ihr gute Neuigkeiten für mich?“ hören sie von drinnen eine heisere Stimme. „Wie man's nimmt, Don Alfonso, wir haben Hinweise auf den Schatz erhalten, aber die Karte, die uns den Weg zeigen soll, leider noch nicht.“ „Ihr Idioten! Seht beim alten Buchhändler Wamperl nach, der hat sie bestimmt zwischen seinen tausend Schriften versteckt. Seid nicht zimperlich, ihr wisst was zu tun ist!“ Gleich darauf wird die Tür heftig aufgestoßen, die beiden Männer stolpern heraus zum Auto und rasen mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen davon.
„Hast du das mitgekriegt?“ Ragna verschluckt sich vor Aufregung fast an ihrem Bissen. „Die werden meinem lieben Herrn Wamperl etwas antun. Wir müssen ihn warnen, komm schnell mit zum Antiquariat!“ Schon flitzt sie um die Ecke. Spukiolo fliegt ihr in kurzem Abstand hinterher, auch wenn er nur mit großer Mühe ihren Weg aus der Luft verfolgen kann. Endlich angekommen, zwängen sie sich durch einen Spalt im Kellerfenster und stürmen nach oben ins Schlafzimmer, wo sich der alte Buchhändler schwerfällig in seinem Bett herumwälzt und dabei schnarcht, dass es nur so dröhnt. Ragna klettert den Bettpfosten hinauf, setzt sich auf das Kopfkissen und kitzelt ihn mit ihrem Schwanz an der Nase, um ihn aufzuwecken. Doch er reagiert nicht.
„Huhuuu, huhuiii!“ Spukiolo heult so spukig er kann und flattert über ihm hin und her, aber auch das nützt nichts. Herr Wamperl schläft tief und fest.
„Hust, hust, hust!“ - „Hust, huuuust, hust, hust!“ - „Huuuuust, hust, hust!“
„Hast du das gehört?“ Ragna und Spukiolo trauen ihren Augen nicht, als sie an der Tür einen schlaftrunkenen, weinerlichen Jungen entdecken.
„Opa, hast du Medizin für mich?“ „Nein, hat er nicht, das weiß ich genau. Schließlich bin ich seine Assistentin!“ Ragna reckt sich, ihrer Wichtigkeit bewusst und antwortet so energisch, dass ihr die Brille auf der Nase verrutscht.
„Iiiih! Eine Ratte!“, schreit der Junge erschrocken und weicht unwillkürlich zurück.
„Aber, du kannst ja sprechen!“ Nun wagt er sich doch Schritt für Schritt im mondhellen Zimmer an sie heran, um sie genau zu betrachten. „Du hast sogar Opas Brille auf!“
„Ja, natürlich, dein Opa ist ziemlich schusselig. Wenn er sie braucht, ruft er mich und ich bringe sie ihm dann. Sein Gehör ist übrigens auch nicht mehr so gut wie früher. Deswegen wird er jetzt auch nicht wach. Wie zerstreut er ist, siehe ich daran, dass er mir nichts von deinem Besuch erzählt hat. Wie heißt du eigentlich?“
„Dominik ist mein Name, aber alle rufen mich Niki.“
„Aha, Niki, lass mich mal überlegen, wie wir dir helfen können.“ Ragna dreht sich einmal um sich selbst im Kreis herum und versucht sich in ihren Schwanz zu beißen. Das hilft ihr beim nachdenken.
„WIR? Ist hier noch jemand?“ „Ja, ein Freund meines Freundes Flidi, der Fledermaus, die momentan noch auf Futtersuche ist“, nickt Ragna belustigt.
„Spukiolo von Iolo“, räuspert sich der Gespensterjunge und verbeugt sich hoheitsvoll von der Deckenlampe herab. Niki staunt mit offenem Mund, als er ihn dort entdeckt.
„Ich fass es nicht, 'ne Ratte, 'n Gespenst und 'ne Fledermaus. Und ich dachte, bei so 'nem alten Buchhändler würd's total langweilig!“
Schon wieder muss Niki heftig husten.
„Ich habe vorhin in der Apotheke grünen Hustenpudding probiert, den könnte ich rasch holen“, schlägt Spukiolo vor. „Einen – WAS?“ Niki verdreht die Augen und beschließt, sich in dieser Nacht und in dieser Gesellschaft über nichts mehr zu wundern. „Von mir aus! Hauptsache, er hilft!“ „Ich bringe auch einen Messlöffel mit!“ Im Nu ist das Gespenst in der Dunkelheit verschwunden.
„So, wir beide gehen jetzt in die Küche hinunter und du bekommst von mir in der Zwischenzeit eine Tasse heiße Milch mit Honig. Das wird dir guttun.“ Ragna schätzt dieses alte Hausmittel sehr. „Dabei kannst du mir etwas über dich und deinen Besuch erzählen.“
„Meine Eltern sind zu einem wichtigen Kongress nach Singapur geflogen. Deshalb wohne ich solange bei meinem Opa.“
Rrrumps!
„Was war denn das?“ Ragna sieht den Jungen entgeistert an.
„Eines steht fest, das Geräusch kommt aus dem Buchladen!“ Niki ist sich ganz sicher.
„Einbrecher! Und Herr Wamperl schläft immer noch!“ Ragna kreiselt wild in der Küche herum, so angestrengt überlegt sie, was zu tun sei.

Spukiolo, der sich mit dem Glaskolben aus der Apotheke bereits wieder auf dem Rückflug befindet, trifft unterwegs auf Flidi, der mittlerweile genug gefuttert hat und ihn nun zur Buchhandlung begleitet. Schon von weitem sehen sie den hin und her schweifenden Lichtschein einer Taschenlampe im dunklen Laden. Misstrauisch nähern sie sich. Vor dem Antiquariat parkt das Auto, das Spukiolo vorhin auf dem Hof der Pizzeria gesehen hat. Darin wartet der Fahrer. Er zieht hastig an seiner Zigarette und trommelt hektisch auf dem Lenkrad herum. „Das ist einer der beiden Gangster. Der andere ist offensichtlich drinnen. Vielleicht kann ich ihn mit einem Spuk vertreiben“, flüstert Spukiolo. Lautlos gibt er Flidi ein Zeichen und schwebt unbemerkt hinein. Flidi saust los, um Ragna und Niki zu warnen. „Es geht ganz bestimmt um diese Schatzkarte!“ Die Ratte läuft vor Aufregung immer schneller im Kreis herum. „Wir müssen die Polizei rufen!“ Niki sucht sein Handy. „Mist, das liegt oben auf dem Nachttisch!“ „Im Flur ist ein Festnetzapparat“, macht ihn Ragna aufmerksam. Auf Zehenspitzen schleicht der Junge dorthin und wählt den Notruf: „Hilfe! Einbrecher in Waldemar Wamperls Antiquariat!“ Weiter kommt er nicht, denn ein schlimmer Hustenkrampf schüttelt ihn.
Der Eindringling, der soeben einen dicken Atlas fahrig durchblättert, erschrickt furchtbar. Prompt zieht er seinen Revolver, zielt in die Richtung, aus der das Husten kommt und drückt ab. Einmal, zweimal und sogar ein drittes Mal! Kaum fallen die Schüsse, rast sein Komplize voller Panik im Fluchtwagen davon. Flidi bemerkt es und verfolgt ihn geistesgegenwärtig.
„In Deckung!“, kreischt Ragna in Todesangst. Niki duckt sich, dann huscht er tief gebückt den Flur entlang und die Treppe hoch, zu Opa ins Schlafzimmer. „Opa, wach auf, Einbrecher!“ Er zieht ihm mit einem heftigen Ruck die dicke Daunendecke weg, packt ihn an den Schultern und rüttelt ihn mit aller Kraft.
„Was ist los?“ Erschrocken reißt er Mund und Augen auf und schwingt sich aus dem Bett. Niki hilft ihm rasch in seinen Morgenmantel und die Pantoffeln. „Ragna, meine Brille, bitte!“ Doch Ragna ist im Erdgeschoss und lugt ganz vorsichtig durch den Türspalt in den Laden hinein. Der Einbrecher liegt reglos am Boden, am Kopf blutet eine klaffende Wunde, von Gesicht und Haaren tropft zäh grüner Glibber, ringsumher auf dem Parkett sind Glasscherben. Daneben leuchtet noch immer die Taschenlampe.
Unter der Zimmerdecke schwebt Spukiolo: „Drei Mal hat der Typ geschossen! Ich habe vor Schreck den Glaskolben fallen gelassen! Na, wenigstens habe ich ihn getroffen! Tut mir leid um Nikis Medizin, aber...“
„Tatü-tata, tatü-tata!“, schrillt die Sirene eines Polizeiautos in einiger Entfernung.
Herr Wamperl poltert, auf Niki gestützt, halbblind die Treppe hinunter zum Tatort. Dort steckt ihm Ragna schnell seine Brille zu. „Ach du meine Güte, wie sieht es denn hier aus? Wer ist der Mann?“ Der alte Buchhändler schlägt entsetzt die Hände zusammen.
„Tatü-tata, tatü-tata!“
Zwei Polizisten springen aus dem Streifenwagen und stürmen in den Buchladen, um den Einbrecher zu verhaften. „Ah, unser alter Bekannter, Carlo! Verrate uns gefälligst, was du hier gesucht hast und wo dein Komplize ist!“ Carlo, der soeben das Bewusstsein wiedererlangt und noch ganz benommen von dem Schlag auf den Kopf ist, presst die Lippen fest aufeinander und schweigt.
„Die sind hinter einer Schatzkarte her“, wendet sich Niki an die Polizeibeamten.
„Ich weiß, wohin der andere abgehauen ist“, flüstert ihm Flidi, der soeben unbemerkt zurückkommt, klammheimlich ins Ohr. „Sie finden den zweiten Mann in der Pizzeria“, gibt Niki den Hinweis der Fledermaus sofort an die Polizisten weiter.
„Darum kümmern wir uns gleich, aber zuerst brauche ich folgende Angabe für das Protokoll: Herr Wamperl, haben Sie oder Ihr Enkel Carlo niedergestreckt?“ Einer der Beamten zückt erwartungsvoll seinen Stift. Der ahnungslose Buchhändler räuspert sich verlegen und rückt umständlich seine Brille zurecht, um Zeit für eine Erklärung zu gewinnen. „Ach, Sie wissen doch, dass es in alten Häusern nachts spukt. Das war das Hausgespenst, das ist besser als jede Alarmanlage!“
„Ha, ha, der Witz ist gut!“, lacht sein Kollege. „Los, wir müssen weiter! Das Protokoll können Sie auch morgen noch unterschreiben, Herr Wamperl!“
Die beiden Beamten zerren Carlo in ihr Auto. „Über deine Rechte brauchen wir dich wohl nicht mehr aufzuklären. Zum Arzt bringen wir dich nachher.“ Dann fahren sie, diesmal ohne Sirene, zügig zur Pizzeria. Dort erwischen sie Luigi, der sich heftig mit Don Alfonso prügelt. „Der ist an allem Schuld. Er hat uns zu dem Einbruch gezwungen!“ Also wird auch Don Alfonso festgenommen und alle drei Männer schnurstracks zum Polizeirevier gebracht.

„Nach dieser Aufregung gibt es nichts besseres als heiße Milch mit Honig!“ Ragna macht sich erneut in der Küche zu schaffen. Herr Wamperl und Niki schlürfen dankbar und genüsslich ihre Tassen leer. An Schlaf ist ohnehin nicht zu denken.
„Seltsam“, sinniert der Großvater. „Wer hat denn nun tatsächlich Carlo das Glasgefäß mit dem grünen Glibber auf den Kopf geschlagen? Warst du das, Niki? Und woher hast du das Zeug?“
Niki grinst: „Opa, mit dem Gespenst lagst du vorhin total richtig!“
„Wie bitte?“ Er sieht seinen Enkel verständnislos an. „Darf ich dir meine neuen Freunde vorstellen? Ihnen haben wir es zu verdanken, dass die Polizei die Gangster festnehmen konnte!“ Jetzt erst wagen sich Spukiolo und Flidi aus ihrem Versteck, hoch oben auf dem Küchenschrank hinter einem großen Gurkentopf und einer Flasche Kräuterbitter, hervor. Freudestrahlend und stolz gleiten sie zu ihnen herab und nehmen ebenfalls am Tisch Platz. Niki freut sich über die gelungene Überraschung. Dann erzählen sie ihm, wie sich alles zugetragen hat.
„Das ist ja kaum zu glauben!“ Fassungslos schüttelt der alte Buchhändler den Kopf.
„Wenn wir morgen früh zur Apotheke gehen, um Hustenmedizin zu besorgen, wird sich Frau Pillenbrink ziemlich über ihren verschwundenen Glaskolben wundern“, gibt Ragna zu bedenken. Bestürzt zwirbelt Herr Wamperl seinen Schnurrbart. „Das war Diebstahl, auch wenn er aus einer Notlage heraus für einen guten Zweck verübt wurde. Richtig wäre es gewesen, bei ihr zu klingeln und sie um die Arznei zu bitten. Nun, da sie eine alte Freundin von mir ist und ein Herz für Gespenster hat, dürfen wir vielleicht auf ihr Verständnis hoffen, wenn ich mich bei ihr dafür entschuldige und für den Schaden aufkomme.“ Zerknirscht senken sie den Blick. Daran hatten sie nicht gedacht.
„Aber für euren mutigen Einsatz habt ihr euch ein Dankeschön verdient“, lenkt der Großvater ein. Da hellen sich ihre Gesichter wieder auf und Niki lächelt verschmitzt:
„Opa, hast du wirklich eine alte Schatzkarte?“ Gespannt warten alle auf seine Antwort.
„Wer weiß - bei so vielen uralten Büchern in einem Antiquariat ist alles möglich“, schmunzelt er geheimnisvoll.
 



 
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