Lieber Tula,
dein Gedicht spurlos handelt meiner Interpretation nach von vergangenen seelischen Verletzungen, welche, nie richtig verheilt, im Laufe der Zeit zwar an der Oberfläche verblasst sind, aber doch immer wieder mit großer Macht spürbar werden. Der Titel des Gedichtes weist gleichsam darauf hin, dass dem Lyrischen Ich, welches man sich hier nur denken kann, da es keine direkte Erwähnung findet, die Herkunft der Verwundungen nicht mehr bekannt ist. Es hat sozusagen die Spuren noch nicht wiederentdeckt, welche letztlich den Weg zurück zum Ursprung des Leiderlebens weisen würden.
Diesbezüglich befindet sich das Lyrische Ich im weglosen Terrain, alles scheint verworren und dies spiegelt sich auch sprachlich wider. Am deutlichsten wird dies durch die Enjambements vor allem in der ersten Strophe, in der das letzte Wort aus Vers 1 und das erste Wort aus Vers 2 (das selbe noch einmal bei Vers 2 und 3) sich über ihren eigenen Sinn hinaus noch zu Kompositionen zusammenfügen (stunden/langes, not/fallwege).
Dies ist inhaltlich und stilistisch interessant, meiner Meinung nach aber auch eine Schwäche des Gedichtes, weil zumindest der zweite Vers von Strophe 1 alleinstehend nicht mehr logisch ist - not kann nicht geflutet werden.
Auch die erste Zeile tendiert in diese Richtung, man könnte sie sich aber als Ellipse denken und z.B. so verstehen: die zeit tilgt alle stunden, in denen ich leiden musste. Dies ist aber meiner Ansicht nach eine kreative Forderung an der Leser, die sehr viel Eigeninitiative verlangt. Deswegen habe ich beim Lesen des Gedichtes den Eindruck, dass die erwähnten Verse nicht richtig funktionieren und sich hier der Inhalt dem Versuch, die Form gewinnbringend einzusetzen, unterordnet.
Die zweite Strophe drückt in meinen Augen aus, dass trotz der "Einschnitte", welche in der dritten Strophe als kerbe im mark beschrieben werden, das Leben nicht gänzlich von diesen Erlebnissen bestimmt wurde, sondern sich die Lebendigkeit ihren Weg gebahnt hat. Blätter und Zweige als Symbole der Hoffnung manifestieren diesen Eindruck.
Die bereits erwähnte dritte Strophe drückt zuletzt eine gewisse Ambivalenz aus. Die eiternde kerbe im mark ist einerseits etwas existenziell Bedrohliches, dass sie aber gleichsam nur hin und wieder spürbar wird, verdeutlicht, dass das Leben des Lyrischen Ichs nicht ausschließlich durch die Verwundungen bestimmt wird und es vielleicht auch einen Umgang mit diesen gefunden hat.
Herzliche Grüße
Frodomir