spurlos

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Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Tula,

ein starkes Gedicht und ja, manche Kerben sitzen sehr tief und bleiben nicht spurlos.
Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Manfred
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Lieber Tula,

dein Gedicht spurlos handelt meiner Interpretation nach von vergangenen seelischen Verletzungen, welche, nie richtig verheilt, im Laufe der Zeit zwar an der Oberfläche verblasst sind, aber doch immer wieder mit großer Macht spürbar werden. Der Titel des Gedichtes weist gleichsam darauf hin, dass dem Lyrischen Ich, welches man sich hier nur denken kann, da es keine direkte Erwähnung findet, die Herkunft der Verwundungen nicht mehr bekannt ist. Es hat sozusagen die Spuren noch nicht wiederentdeckt, welche letztlich den Weg zurück zum Ursprung des Leiderlebens weisen würden.

Diesbezüglich befindet sich das Lyrische Ich im weglosen Terrain, alles scheint verworren und dies spiegelt sich auch sprachlich wider. Am deutlichsten wird dies durch die Enjambements vor allem in der ersten Strophe, in der das letzte Wort aus Vers 1 und das erste Wort aus Vers 2 (das selbe noch einmal bei Vers 2 und 3) sich über ihren eigenen Sinn hinaus noch zu Kompositionen zusammenfügen (stunden/langes, not/fallwege).

Dies ist inhaltlich und stilistisch interessant, meiner Meinung nach aber auch eine Schwäche des Gedichtes, weil zumindest der zweite Vers von Strophe 1 alleinstehend nicht mehr logisch ist - not kann nicht geflutet werden.

Auch die erste Zeile tendiert in diese Richtung, man könnte sie sich aber als Ellipse denken und z.B. so verstehen: die zeit tilgt alle stunden, in denen ich leiden musste. Dies ist aber meiner Ansicht nach eine kreative Forderung an der Leser, die sehr viel Eigeninitiative verlangt. Deswegen habe ich beim Lesen des Gedichtes den Eindruck, dass die erwähnten Verse nicht richtig funktionieren und sich hier der Inhalt dem Versuch, die Form gewinnbringend einzusetzen, unterordnet.

Die zweite Strophe drückt in meinen Augen aus, dass trotz der "Einschnitte", welche in der dritten Strophe als kerbe im mark beschrieben werden, das Leben nicht gänzlich von diesen Erlebnissen bestimmt wurde, sondern sich die Lebendigkeit ihren Weg gebahnt hat. Blätter und Zweige als Symbole der Hoffnung manifestieren diesen Eindruck.

Die bereits erwähnte dritte Strophe drückt zuletzt eine gewisse Ambivalenz aus. Die eiternde kerbe im mark ist einerseits etwas existenziell Bedrohliches, dass sie aber gleichsam nur hin und wieder spürbar wird, verdeutlicht, dass das Leben des Lyrischen Ichs nicht ausschließlich durch die Verwundungen bestimmt wird und es vielleicht auch einen Umgang mit diesen gefunden hat.

Herzliche Grüße
Frodomir
 

Tula

Mitglied
Hallo Manfred

So ist es! Alle Wunden heilt die Zeit nicht und bei näherer Betrachtung trifft jener bekannte Spruch sogar am eigentlich wichtigen Kern vorbei. Auch die schlechten Erfahrungen haben uns zu dem gemacht was wir sind und hoffentlich sind wir aus diesen sogar gestärkt hervorgegangen. Die Erinnerung an vergangenen Schmerz hat auch diesen Zweck, für die Bewältigung des Kommenden.

Dankend lieben Gruß
Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo Frodomir

Vielen Dank für deinen Kommentar, der mich in seiner Ausführlichkeit sogar etwas verlegen macht. Freut mich, dass du dich eingehend mit dem Werk befasst hast.

Die Grundidee ist klar, die hast du am Anfang ja selbst zusammengefasst. Die Enjambements mögen gewiss auch eine stilistische Funktion haben, sollten aber ebenso inhaltlichen Sinn ergeben. Das erste ist leicht, im zweiten geht es darum, dass die die Not selbst flutartig alle Notfallwege sperrt; es gibt keinen Rückzug, Lyrich muss da durch.
Um welches Leid es hier geht, ist unerheblich. Lyrich hat da nichts vergessen; das ist der einzige Kritikpunkt, den ich dann doch nicht nachvollziehen kann.

Das könnte unter anderem am inhaltlichen Verständnis der zweiten Strophe liegen. Die Metaphern pflanzlichen Wachstums (denke auch an den Lebensbaum), des Überwucherns und der jährlichen Erneuerung des Blattwerks deuten auf zweierlei hin: eine größere Zeitspanne (der Baum wächst langsam, allmählich, unbemerkt) und das drüber-hinweg-Kommen, sprich Erneuerung. Viermal? - das ist schwerer zu entschlüsseln. Vielleicht hast du schon mal gelesen, dass sich ein Mensch alle sieben Jahre erneuert, auch seelisch:

alle sieben Jahre

Also in etwa 30 Jahre, die Zeitspanne zwischen der Jugend und dem mittleren Alter. Das muss man natürlich nicht rein rechnerisch sehen. Es passten auch dreimal, fünfmal usw.

Das Ende habe ich oben kommentiert. 'Hin und wieder' beinhaltet Erinnerung, kein weiteres Leiden im eigentlichen Sinne. Das Eitern im Gegensatz zu einer wirklich aufbrechenden Wunde.

LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Hallo Tula,

danke für dein Eingehen auf meinen Kommentar.

Du schreibst:

Die Enjambements mögen gewiss auch eine stilistische Funktion haben, sollten aber ebenso inhaltlichen Sinn ergeben. Das erste ist leicht, im zweiten geht es darum, dass die die Not selbst flutartig alle Notfallwege sperrt; es gibt keinen Rückzug, Lyrich muss da durch.
Mein Leseeindruck war, dass der stilistische Faktor den inhaltlichen überlagert. Durch deine Erklärung weiß ich nun, was du ausdrücken wolltest, in meinen Augen aber ergibt das Bild in Vers 2 dennoch keinen richtigen Sinn.

Lyrich hat da nichts vergessen; das ist der einzige Kritikpunkt, den ich dann doch nicht nachvollziehen kann.
Das war keine Kritik, sondern mein Versuch, deinem Gedicht näher zu kommen ;-) Deine Erläuterungen haben mir dabei nun geholfen.

Vielleicht hast du schon mal gelesen, dass sich ein Mensch alle sieben Jahre erneuert, auch seelisch:
Bisher habe ich das nur über den Körper gewusst. Aber tatsächlich erklärt das so einiges in meinem Leben. Danke für diesen Hinweis. Leider muss ich bis zur nächsten Erneuerung noch eine Weile warten.

Herzliche Grüße
Frodomir
 



 
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