spurlos

4,00 Stern(e) 6 Bewertungen

ENachtigall

Mitglied
spurlos


zöge ich nun
statt dieser zähen Spur
durch die Zeit
eine leichte Bleistiftlinie
auf vergilbtem Papier
hinter mir her:

auf schlankem Bein
zu Hieroglyphen vertanzt
mal schroff schraffiert
mal pfeilgeradeaus gehastet

die Spitze weich gelaufen
angespitzt
abgebrochen
wieder in die scharfe Schneide gesteckt

mal in Gedanken
an eine führende Hand
mal ganz
eigenständig
vorangetrieben...

wünschte
ich jetzt
nur mehr
eine radikale Radierung
hinterließe
nichts

als den Punkt
der ich bin
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo a,

da Du ansonsten grammatikalisch vollständig bleibst, wundere ich mich über:
"wünschte
ich jetzt
nur mehr
eine radikale Radierung!"

wünschte ich mir?
zu sein?

Irgendwie scheint da etwas zu fehlen.

Ansonsten ist Dein Gedicht eine sehr gelungene Metapher.

cu
lap
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo lapismont und GabiSils,

danke für Euer aufmerksames Lesen und die Kommentare. Gabi hat recht, mit dem unsichtbaren Komma. Ich setze es nicht gerne an ein Zeilenende.

Lapismont, Du hast recht bezüglich des Zusammenschreibens: Meine Nachforschungen haben ergeben, dass man "nurmehr" eben so schreibt.

"Nunmehr" hat eine zeitliche Bedeutung. "Nurmehr" eine abgrenzende. Jedenfalls meinem Verständnis nach.

Winke, winke.

A.
 
M

Melusine

Gast
"nurmehr".
Aha.
Erst mal dachte ich ... irgendwie ... dass das ein ernst gemeinter Text sei. Er gefiel mir sogar.
Wie leicht man sich doch täuschen kann.
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wieso mach das Wörtchen für Dich, den Unterschied zwischen ernst gemeint oder nicht, Melusine?

Sich delbst bis auf einen Punkt ausradieren zu wollen, klingt für mich nicht nach Scherz.

cu
lap
 
M

Melusine

Gast
Wieso "sich selbst bis auf einen Punkt ausradieren"? Ich denke, es geht um das Auslöschen der Spuren. Zumindest verstehe ich es so:
Wenn LyrIch könnte, würde er/sie all die bedeutenden oder weniger bedeutenden Spuren auslöschen, die er/sie hinterlassen hat - alles was zählt ist doch das Sein.
Oder: Die Vergangenheit auslöschen und sich ganz auf die Gegenwart konzentrieren. Vielleicht: Vergangene Fehler auslöschen, vergangenes Scheitern vergessen, den bisher gegangenen Weg ignorieren und an diesem Punkt ganz neu anfangen.

Okay, mir gefällt der Text immer noch. Ich war nur irritiert ob der Haarspaltereien und dachte erst mal, dass A. das wohl scherzhaft meinen müsse, da das Wort "nurmehr" doch definitiv nicht existiert, und wenn jemand in einen guten Text absichtlich einen Fehler reinmacht, kann der Text ja dann wohl nicht ernst gemeint gewesen sein...? Aber vielleicht war A. ja auch einfach nur verunsichert.

Mel
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Na ja "nurmehr" ist umgangssprachlich. Habs ausprobiert, die Hälfte der Leute würde nur-, die andere nunmehr sagen.

Mein Problem war ja, dass ich durch das fehlende Komma oder die Auseinanderschreibung von nun und mehr, einen ganz anderen Sinn las.

"wünschte ich jetzt nun mehr eine radikale Radierung zu sein"
Wobei ich Radierung als Zeichenform sah, nicht als Auslöschung.
Das gab einfach einen anderen Sinn.
 
M

Melusine

Gast
Häh? Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen, lap.
"Nurmehr" ist nicht umgangssprachlich, sondern falsch geschrieben.
"Nur mehr" ist korrektes Deutsch.
"Nunmehr" bedeutet ganz etwas anderes.
"Jetzt nunmehr" wäre eine Verdoppelung, da diese beiden Wörter in etwa dasselbe bedeuten.
Von "eine radikale Radierung zu sein" ist nirgendwo die Rede, das hast du vielleicht irrtümlich so gelesen.

A. schrieb (ursprünglich):

...

wünschte
ich jetzt
nur mehr
eine radikale Radierung
hinterließe
nichts

als den Punkt
der ich bin


Da A. - mit Ausnahme des Doppelpunkts am Ende der ersten Strophe - insgesamt auf Interpunktion verzichtet, wäre ein Komma nicht angebracht.
Außerdem entsteht ohne das Komma gewissermaßen ein Doppelsinn:
"... wünschte ich jetzt nur mehr eine radikale Radierung"
bzw. - wie man dann eben weiter liest:
"... wünschte ich jetzt nur mehr[,] eine radikale Radierung hinterließe nichts als ..."

Bedeutung (so wie ich sie verstehe): Ich wünschte, falls ich einen Bleistiftstrich als Spur in der Zeit hinterlassen hätte, jetzt nichts weiter als dies: Dass dieser Bleistiftstrich radikal ausradiert werden möge, so dass nichts von meiner Spur übrig bliebe, sondern nur der Punkt, der ich [hier und heute] bin.
Das mag man nun so interpretieren, dass das lyrische Ich seine Vergangenheit auszulöschen wünscht, oder - ganz Bescheidenheit - den bleibenden Eindruck, den er/sie in der Welt hinterlassen hat. Vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten der Interpretation.

Beim Zeichenverfahren der Radierung werden Linien in Metallplatten geätzt. Vielleicht war diese Assoziation beabsichtigt. Ätzen ist ja wohl um einiges "radikaler" als das sanfte Entfernen eines weichen Bleistiftstriches mit einem ebenso weichen Radiergummi. Okay, zugegeben, das wirkt etwas irritierend, da bei einer Radierung ja gerade Linien erzeugt und nicht entfernt werden ... hm. Ich finde aber, dass der Sinn dennoch vollkommen verständlich bleibt.
Bei der radikalen Aus-"Radierung" eines Bleistiftstriches denke ich an diese blauroten Tintenradierer und an das wütende, papierzerstörernde Radieren eines Kindes oder vielleicht eines cholerisch veranlagten Künstlers, der sich über seine Fehler ärgert ...

Mel
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Dann ausführlicher Melusine.

Das Wort nunmehr im Sinne von jetzt, wird in meinem Sprachumfeld dowohl als nurmehr als auch nunmehr gesprochen.
Diese sprachliche Ungenauigkeit ist linguistisch spannend, aber natürlich hier nicht weiter wichtig.
Rechtschreibtechnisch ist nurmehr falsch.
A. will es abgenzend verwenden, daher: nur mehr

Was aber ohne Kommasetzung wieder zu meinem (!) Leseproblem führt.

Meine Interpretation der ursprünglichen Version.
Meine interpretierenden und nicht im Original enthaltenen Wörter habe ich blau eingefärbt.
Der Text beginnt mit
"zöge ich nun"
Alle folgenden Strophe beziehen sich auf diesen Konjunktiv.
Was wäre wenn.
dann:

wünschte
ich [blue]mir[/blue] jetzt
nur mehr [blue]als[/blue]
eine radikale Radierung [blue]zu sein.[/blue]
hinterließe
nichts

als den Punkt
der ich bin

Meine Lesart daher:
Damit ich kein Punkt nur bin, zeichnete ich mich, um als ein radikales Bild mehr zu sein.

Damit entging mir aber das Auslöschende des Radierens.

Das der Satz nach Radierung weitergeht, hab ich nicht erkannt und somit Radierung als Druckzeichnung gelesen, was ja auch im Bild bleibt.
Vielleicht liegt das nicht nur am fehlenden Komma, sondern auch an der Strophentrennung nach nichts.

Oder aber an der Altersblindheit eines trotteligen
laps
 
M

Melusine

Gast
Okay, alles klar.
Muss wohl landschaftlich sehr unterschiedlich sein - ich kenne überhaupt niemanden, der "nunmehr" sagen würde, in welcher Form auch immer. In gesprochener Sprache klänge das für mich irgendwie affig.

Der Rest... na ja, da liest du den Text wohl offenbar ganz anders als ich. Ich kenn das - man liest einmal etwas, was gar nicht da steht, und dann kommt man davon einfach nicht mehr weg. Hat wohl nichts mit Alter zu tun, so ging es mir auch schon in jüngeren Jahren.

LG Mel
 

ENachtigall

Mitglied
nurmehr

hallo Melusine, hallo lapismont,

nur kurz zur Existenzberechtigung von nurmehr ein Zitat:

http://www.zitate-online.de/literat...dem-er-die-angst-erfuhr-hatte-er-nurmehr.html

Der Text ist wirklich ernstgemeint. Ja, es geht um die vorgestellte Auschlössung der Spur. Einmal fast so rein sein wie weißes Papier. Die Radierung existierte quasi als Zwischenstadium; eine zur Kunst? erhobene und verworfene Form der Vergangenheitsbewältigung - wie es auf Psycho-Neudeutsch so unpoetisch heißt.

Liebe Grüße

A.
 
M

Melusine

Gast
Hallo A.,
na gut, du hast mich überzeugt.
Mir gefällt es besser getrennt geschrieben, aber es ist ja dein Text.
LG Mel
 

ENachtigall

Mitglied
Danke Mel,

ich war mir ob der korrekten Schreibweise nicht sicher. Da die Originalfassung meinem eigenen Sprachgefühl entsprang, Dich mehr überzeugt und auch lapismont nicht falsch erscheint, entscheide ich jetzt springteufelgleich, zu dieser ersten Schreibweise zurück zu kehren.

Offen gestanden, dass die Radierung eine Ätzung ist, hatte ich beim Schreiben nicht präsent; in der Metapher geht es aber tatsächlich ums Löschen oder etwas unsichtbar machen: Als Momentaufnahme, freigesprochen von Klischees. Ohne Gepäck und Erbschaften.

Ihr habt Euch beide intensiv in den Text hineingedacht. Das finde ich klasse.

A.
 



 
Oben Unten