St. Pauli, Sehnsuchtsort

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Einmal ließ ich mir alte Möbel, Familienerbstücke, aus Süddeutschland kommen. Der kleine Transporter hatte zwei Mann Besatzung, einen Fahrer jenseits der fünfzig und einen viel jüngeren Helfer. Sie taten sich schwer beim Einparken, wirkten in Hamburg überhaupt fremd und befangen. Dann waren die Sachen abgeliefert und die beiden wollten gleich den Rückweg antreten. Ich hörte den Älteren sagen: „Wir nehmen wieder die A 7, aber vor dem Elbtunnel fahre ich für dich einen kleinen Umweg durch St. Pauli. Wir halten da nicht, wir fahren bloß durch – nur damit du einmal die Reeperbahn gesehen hast.“

Nicht in St. Pauli, in St. Georg hatte ich damals in einer Samstagnacht Kai aufgegabelt. Er war Malergeselle in einer kleineren norddeutschen Stadt, ein, zwei Stunden von Hamburg. Ich fand ihn ungewöhnlich sympathisch. Wir fuhren in seinem Wagen zu mir und er blieb bis zu einem sehr späten Frühstück. Als er nach Hause wollte, kam ich ein paar Straßen weit mit, damit er die A 7 rasch fände. Unterwegs sagte er mir: „Morgen auf der Arbeit erzähle ich den Kollegen, ich wäre auf der Reeperbahn gewesen. Da haben sie dann was zum Träumen und stellen mir weiter keine Fragen.“

Unser Leben verläuft in engen Bahnen, doch der Himmel darüber – sehnsuchtsvolle Projektion – ist nicht für alle der gleiche.
 

petrasmiles

Mitglied
Das ist ein interessantes Phänomen, das Du ins Zentrum stellst. Habe ich noch nie darüber nachgedacht wie fluid Metaphern sein können - und dem einen 'sin Uhl' dem anderen 'sin Nachtigall' wird.
Gerne gelesen und mich am kleinen Licht erfreut.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, Petra, für die Aufmerksamkeit. Ich sehe es so: Es gibt reale Orte, die über ihre physische Existenz in der Geographie hinaus so etwas wie massenhaft verbreitete Zwangsvorstellungen sind. Man kann sie hervorragend für viele Zwecke benutzen. Natürlich gilt das auch für andere Herkünfte von so einsetzbaren Begriffen (aus der Geschichte z.B.).

Liebe Grüße
Arno
 



 
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