Stadtgedanken I.

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klaatu

Mitglied
Stadtgedanken I.

Wenn die Stadtreinigung wirklich konsequent wäre,
könnte es hier vielleicht erträglich sein...

Immerhin gibt es einen netten neuen Service im Supermarkt:
Am Ausgang kann man sich seit Neuestem
den Inhalt seines Einkaufwagens pürieren lassen!

Auf der Rolltreppe:
Eingepfercht wie Vieh
in einem Schlachtautomaten.
In einsamer Massenpanik
biete ich meinen Mitmenschen Kleingeld an,
wenn sie alle sofort nach Hause gehen.

Im Übrigen:
Zum Schutz vor Taschendieben
trage ich zwei leere Portmonees bei mir.
Ebenso ein Suspensorium,
ein schuss- und stichfestes Kettenhemd
und einen Bauhelm
gegen herabstürzenden Weltraumschrott.

Das ist das Internet in 3D:
Ich sehe dicke Mädchen,
die durch Glasfaserkabel krabbeln,
optimistisch in die Zukunft blickende Graffiti
("Ich lieeeeebe Nike Footwear")
halbe Hähnchen im Formationsflug
und Münzschlitze an Abfalleimern.

Keine Frage:
Das hier ist das wüste Land
hinter den Fernsehkameras.

Von der Jugend ist auch nicht viel zu erwarten,
nicht mal ein erhobener Mittelfinger.
Zu groß ist anscheinend die Angst,
dabei das Smartphone fallen zu lassen...

Der Stadtspielplatz
wirkt wie ein Bootcamp für Kleinkinder.
Man trainiert für den Ernstfall.
Ein kleiner Junge schreit
seine merkwürdig stille Mutter an.
Ob die junge Frau
meine ausgeprägte Beinmuskulatur bewundern würde,
wenn sie sieht, wie weit ich ihr plärrendes Kind treten kann?
Die Hälfte der Mütter scheint schon wieder schwanger.
Können die Frauen nicht Nützlicheres zur Welt bringen?
Einen Schraubenzieher vielleicht
oder von mir aus eine Kiste Bier.


Eigentlich bin ich kein schlechter Mensch,
nur andere Menschen machen mich manchmal dazu.
In großen, ungefilterten Mengen kaum erträglich.
Kein Wunder, dass so viele online leben und sterben.

Zu viele Gesichter, zu viele Stimmen.
Und als die Stimmen fremder,
die Gesichter dunkler
und die Kinder wilder werden,
stelle ich fest, dass ich zu weit nach Süden gegangen bin.

Die Sonne geht hier schnell unter
und schickt ein letztes Warnlicht über den Horizont,
bevor sie für mich verschwindet...
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Eine witzige Ideenfolge, ganz schön verrückt.
 

Tula

Mitglied
Hallo klaatu

Gefällt mir soweit auch,die Strophe in 3D besonders. Anderes wieder weniger, vor allem der Kinderspielplatz. Ginge auch kürzer und noch würziger. Vielleicht einfach nur bis zu den Fernsehkameras.

LG
Tula
 

klaatu

Mitglied
Hallo Tula, danke für Deine Aufmerksamkeit. Ich habe recht lange mit mir gerungen, wie lang der Text werden soll. Der Originaltext ist ca. viermal so lang. Ich habe ihn jetzt auf 2 - 3 Teile aufgeteilt. Vielleicht kürze ich noch mal und streiche ein paar Stellen.
LG
 

Tula

Mitglied
du kannst vielleicht auch einen 'irr-sinnigen' Prosatext draus machen; dafür braucht es dann allerdings so etwas wie eine Handlung

Tula
 

klaatu

Mitglied
@ Tula

Auf so was wie eine Handlung habe ich bewusst verzichtet. Es ging mir nur um die Gedanken, die mir so im Kopf rumschwirren, wenn ich in Städten unterwegs bin.

LG
 

kad sgard

Mitglied
hallo,
ich bin hier und da eine stille mitleserin deiner werke, manche gefallen mir gut andere nicht.
dieses finde ich gut, aber bisschen lang, was ich wiederum nachvollziehen kann, da mich ähnliche gedanken überfallen wenn ich draußen bin.

tulas idee hat was für sich .. der rest von dem text würde auch mich interessieren.




gern gelesen und lg
kad
 

klaatu

Mitglied
Hallo stille Mitleserin,
freut mich immer, wenn ich gelesen werde - egal ob still oder schreiend... Zur Länge des Textes hatte ich ja schon was geschrieben: Der Originaltext ist ca. vier DIN-A4-Seiten lang, ich tat mich schwer es auf ordentliche Länge zu kürzen, ohne dass der Flow verloren geht. Werde beizeiten noch mal ein bisschen rumexperimentieren.

Verrätst du mir, welche Texte gefallen haben und welche gar nicht? Mir fällt es immer sehr schwer die Qualität meiner Sachen einzuschätzen (die von anderen übrigens auch).

LG
k
 

Der Andere

Mitglied
bitte, bitte, lieber klaatu, das ist ja ganz wunderbar, was du schreibst! das kann auch prosa sein (, die, wie ich finde, auch sehr gut ohne (na gut: fast ohne) handlung auskommen kann; z.b. jonkes geometrischer heimatroman). nicht unbedingt "experimentell" im formalen sinn, aber wer will schon wegen irgendwelcher kategorien streiten. das ist gleichgültig.

die gedankenwelt, die du in den zwei texten, die ich jetzt kennengelernt habe, entwirfst, macht mir sehr viel freude.

ich bin gespannt auf mehr.

der andere
 



 
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