Stadthörnchen

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lietzensee

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Stadthörnchen​

Unter einem Radkasten blitzt Fell hervor. Aber es ist rot und flauschig, nicht rattengrau. Immer wieder hebt das Eichhörnchen den Kopf. Es bleibt stehen. Es sieht sich nervös um und rennt weiter über Motorhauben und Parkplatzbeton. Sein Schwanz folgt ihm wie ein Feuerschweif. Gleich wird es auf den einzigen Baum im Innenhof klettern. Ich kenne es. Seit Wochen beobachte ich das Tier aus meinem Bürofenster.
Früh am Morgen sind wir beide die Einzigen, die sich hier schon regen. Ich hinter der Scheibe, das Eichhörnchen auf dem Hof davor. Zwei Frühaufsteher, die die Ruhe des Morgens schätzen. Wir kennen uns. Wir verstehen uns. Wir sind uns ähnlich.
Doch jetzt zögert das Eichhörnchen vor dem Baum. Es beobachtet nervös. Ein Blick nach allen Seiten, dann springt es, greift mit seinen kleinen Fäusten hinter einen Stein und stopft etwas in seine Backen. Es springt noch einmal. Das Tierchen hat Futter gefunden. Gleich fallen mir die Nüsse aus unserer Büroküche ein. Hat jemand die gesunden Snacks an ein streunendes Tier verfüttert? Das wäre einerseits Zweckentfremdung. Andererseits greift kaum jemand in die Nusstüten hinein und ihr Inhalt wird oft ranzig. Beim Schreiben der nächsten Rechnung frage ich mich, warum nicht auch ich die überflüssigen Nüsse an das Eichhörnchen verfüttern sollte. Bis zum Feierabend lässt mich die Idee nicht mehr los.
Nach der Arbeit muss ich mich immer sehr beeilen, um den sechzehnfünfzehner Bus zu kriegen. Andererseits fährt schon sechzehnfünfundzwanzig der Nächste. An der Bürotür blicke ich nochmal nervös nach allen Seiten. Dann laufe ich mit Nüssen in der Hand zum Baum und denke, dass ich noch nie darunter gestanden habe. Vom Eichhörnchen ist nichts zu sehen. Darum bücke ich mich. Ich gucke hinter den Stein und sehe, was das Tier gefressen hat. Am schütteren Gras kleben Federn und Blut. Das Eichhörnchen hat ein Taubenküken gefleddert. Das Tier und ich verstehen uns? Beschämt streue ich Nüsse über den kleinen Kadaver. Ich fühle mich wie ein Komplize.
 
Hallo lietzensee,

mir begegnet auch manchmal morgens ein Eichhörnchen, leider habe ich es jetzt schon länger nicht mehr gesehen. Als es morgens um halb sieben noch hell und relativ warm war, kreuzten sich unsere Wege öfters. Es hatte auch oft etwas im Maul, was ich nicht identifizieren konnte. Ich wusste gar nicht, dass Eichhörnchen auch Fleisch fressen. Genau genommen wusste ich gar nicht, was sie fressen.

Ein interessanter Text ist dir hier gelungen, vor allem der letzte Satz! Jetzt schämt sich der Protagonist dafür, dass er glaubt, sich mit einem Tier verstanden zu haben, dass noch kleinere Tiere fleddert und offensichtlich auch frisst. Als ob das Eichhörnchen etwas dafür könnte, dass Tiere nun mal sind, wie sie sind. Typisch Mensch, möchte man da sagen ...

P.S. Ich habe es gerade nachgelesen, nur bei Nahrungsmangel plündert das Eichhörnchen Vogelnester. Es hatte also nur großen Hunger.

LG SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:

nikko_rosko

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Mir gefiel „muss ich mich immer sehr beeilen“ (sonst verliere ich ganze zehn Minuten). Gute Strich. Und über Komplize. An seine Stelle würde ich sicherlich denken - wenn ich mit dem Eichhörnchen Einigkeit fühle, dann was weiß ich noch nicht über mich selbst?
 

lietzensee

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Hallo SilberneDelfine,
vielen Dank für deine Antwort und die Bewertung. Es freut mich, dass du die kurze Geschichte interessant findest. Wie du schreibst, Tiere "können nichts dafür." Es ist eher das Problem, dass wir Menschen sie an unseren Maßstäben messen wollen. Als Ehrenrettung muss ich noch anfügen: Das Eichhörnchen gibt es wirklich und ich beobachte es gern. Die Sache mit dem Taubenküken ist aber ausgedacht. Dass Hörnchen zur Not auch kleine Tiere fressen, habe ich auch nur gelesen.

Hallo Nikko,
vielen Dank für deine Antwort. Ich denke, er hat hier einfach sein Selbstbild auf das Tier projeziert. Sowas geht halt schnell schief.

Viele Grüße
lietzensee
 

Matula

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Eine böse kleine Geschichte, die daran erinnert, dass hierorts jeder jeden frisst.
Großartig !

Herzliche Grüße,
Matula
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Matula,
vielen Dank für deine Antwort und die Bewertung! Ja, jeder frisst jeden und die Schlange beißt in ihren eigenen Schwanz

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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