Blumenberg
Mitglied
Stahlgewitter
Dicht gedrängt warten wir in der Dunkelheit. Es ist noch nicht lange her, da ist das trübe Licht der einzelnen Lampe, inmitten der Erschütterungen und des Dröhnens der Einschläge, ausgegangen. Es gab ein ohrenbetäubendes Krachen. Der Boden zitterte, dass sich der Putz von den Wänden löste und auf unsere Köpfe niederfiel. Uns ist das Herz stehen geblieben. Einen schrecklichen Moment lang fühlten wir es alle. Das Gewicht der Betondecke, jeden einzelnen Stein über uns. War es ein direkter Treffer oder das Nachbarhaus? Wankt unser Zuhause, neigt es sich ächzend, langsam zur Seite? Ich sah vor mir in der Dunkelheit, wie sich die Träger in Agonie verdrehten. Nur noch einen Moment, dann werden all die gesammelten Stücke Heimat zu Steinen auf unserem Grab. Gibt es eine vollständigere Art der Vernichtung?
Ein Stück die Straße herunter ist vor ein paar Tagen ein Haus nach einem Bombentreffer eingestürzt. Ich habe beim Schutträumen geholfen. Da geraten Tonnen von Material in Bewegung, die Bunkerdecke hat dem nichts entgegenzusetzen. Wie sollte sie auch. Was großspurig Bunker genannt wird, ist nur ein Kellerraum, daran ändert auch der neue Name nichts. Den von Nummer dreiundzwanzig haben wir bis heute nicht freigelegt bekommen.
Der ganze Raum lauscht gespannt, zittert bei jeder neuen Erschütterung und wartet auf das Ende. Jeder neue Einschlag jagt uns einen Schauer ins Mark. Ich höre Kinder, aber auch gestandene Männer schluchzen. Die Stimme der alten Frau Winkler erklingt. Sie betet und andere fallen ein. „Vater unser, der du bist …“, der Rest versinkt in ohrenbetäubendem Dröhnen, als der nächste stahlummantelte Hagel niedergeht. Ich wünschte, auch ich könnte mich daran festhalten. Aber bei mir wären das nur Worte ohne Trost.
Es gibt einen kurzen Moment, in dem völlige Stille herrscht. Ich möchte glauben, dass es vorbei ist, traue der Sache aber noch nicht so recht. Vielleicht ist es überstanden, vielleicht nur eine Atempause, bevor die nächste Welle anbrandet. Denn sie kommen in Wellen. Manchmal in weitem Abstand, um uns wieder ins Freie zu locken.
Dann ist der Augenblick vorbei und die Leute beginnen wispernd zu sprechen. Ganz leise, als könnte ein zu lautes Wort durch die Wände nach oben schweben und uns, von den Geräten in den fliegenden Festungen eingefangen, verraten. Die Dunkelheit schärft die anderen Sinne. Auch wenn ich ihn nicht sehe, weiß ich, dass Herr Heim von gegenüber immer noch neben mir steht. Ich höre sein pfeifendes Ein- und Ausatmen. Er war bei der Luftwaffe, bis er krank wurde. Tuberkulose, wenn ich mich richtig entsinne. Ich stoße ihn an.
„Das ging noch einmal gut. Stellen Sie sich das wie bei einem Gewitter vor, je lauter es kracht, umso näher sind wir dran. Und vorhin haben sich die Einschläge eindeutig entfernt. Die nehmen jetzt ein anderes Viertel dran“, versichert er mir, ohne dass ich die Frage zu stellen brauche. „Auch wenn´s verflucht knapp war dieses Mal. Wahrscheinlich das Nachbarhaus oder das daneben. Wir haben Glück gehabt. Trotz der Lautstärke und des Bebens war das nur eine kleine, maximal eine halbe Tonne, schätze ich. Wär´s eine von den großen gewesen, wär´s jetzt vorbei mit uns, das können Sie mir glauben. Wir hatten auch solche Exemplare, als ich noch bei der Luftwaffe war. In London können sie davon ein Lied singen.“ Wie um ihm recht zu geben, springt in diesem Moment auch das Licht wieder an.
„Meinen Sie, die werden Brandbomben abwerfen?“, frage ich, froh, jemanden zu haben, der meine Zweifel zerstreuen kann. Wir alle haben von Hamburg gehört.
„Nein, ich glaube nicht. Sonst hätten sie vorher 5,5-Tonner abgeworfen. Sie wissen schon, für die Luftzufuhr.“ Mein fragender Blick lässt ihn weitersprechen. Er scheint zufrieden mit seiner augenblicklichen Rolle als mein Lehrer. Seine Stimme nimmt einen ruhigen, sachlichen Ton an, die Flucht in technische Einzelheiten hilft ihm dabei, mit dem Schrecken des eben Erlebten fertig zu werden. „Nehmen Sie einmal an, Sie wollen ein Feuer machen und schichten dazu Holz auf. Unter ihm, in der Mitte, liegen Papier und kleine Zweige, um den Brand zu entfachen. Damit das klappt, müssen Sie darauf achten, dass das Feuer ausreichend Luft bekommt. Haben Sie die Hölzer zu dicht beieinander aufgestellt, brennt es nicht richtig, da sie dem Feuer den Sauerstoff nehmen. So ist das meistens in einer Stadt. Da stehen die Häuser zu dicht beieinander. Um eine maximale Wirkung zu erzielen, müssen sie zunächst Schneisen in die Blocks sprengen, durch die das Feuer atmen kann.“ Ein keuchendes Husten unterbricht ihn. „Machen Sie sich keine Sorgen, wenn sie das nicht tun, werfen sie auch keine Brandbomben, das lohnt nicht. Heute sind wir noch einmal davongekommen.“
Er weiß besser als wir alle, was genau da draußen passiert. Es muss verstörend sein, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen. In Heims Ausführungen schwingt der Stolz auf die Ingenieursleistung mit. Auf den meisterhaft konstruierten Tod, den er früher planmäßig zu seinem Ziel gebracht hat. Wir haben, wenn ich mich nicht irre, zu jener Zeit sogar einen Ausdruck geprägt: coventrieren. Damals, als Herr Heim gesund war. Als der Führer noch von Sieg zu Sieg eilte und auf seinen bloßen Wink hin ganze Städte unter einem Bombenteppich verschwanden. Präzise umschreibt das Wort, was wir nun am eigenen Leib erfahren. Ich frage mich, ob es wohl gnädiger ist, in den Häusern zu leben, die als Schneise vorgesehen sind, wenn es soweit ist. Dann wäre es immerhin vorbei, bevor der Feuersturm kommt.
Er nickt aufmunternd und klopft mir auf die Schulter. „Wird schon werden, Herr Bichler. Ich muss nach meiner Frau sehen. Sie war vor mir hier unten und verträgt laute Töne überhaupt nicht gut.“ Mit diesen Worten drängt er sich an mir vorbei in die Richtung, in der er seine Frau vermutet, und ich warte darauf, zumindest vorläufig in meine Wohnung zurückzukehren.