STALKER ...

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AliasI

Mitglied
Ich träumte oft von ihm, aber die Träume waren immer diffus: Ich kam nahe an ihn heran, auf einer Gartenparty zum Beispiel. Ich hatte seinen Namen gehört und wartete dort auf ihn. Aber er zeigte sich nicht, der Mistkerl. Er entzog sich mir. Das war immer so gewesen, vom zweiten Treffen an.
Aber ich bin doch kein Stalker, dachte ich. Das bisschen Nachschnüffeln in Bezug auf seine Adresse, nein, nein ... Er hatte sie mir ja gegeben, doch irgendwas war dann schiefgelaufen.
Und als ich ein Jahr später dort anrief, meldete sich eine Frau. Die kannte ihn, das hörte ich am Tonfall ihrer Stimme: "Ach ja, der ... Der wohnt nicht mehr hier." Es klang bewundernd.
Natürlich wusste die Frau nichts von ihm, er hatte sich verkrümelt, aufgelöst in ungreifbare Bestandteile, in sein Aussehen, in seine Spötteleien, in sein Lächeln, in seine Berührungen, in seine Hände. In sein Stöhnen nach dem Akt ...
Ich wollte mich nicht damit zufrieden geben. Eines Tages werden wir uns wiedersehen, dachte ich, und hoffentlich bin ich dann noch jung genug, um dich zu bezaubern. Damals war ich ja total irre, aber jetzt bin ich gut genug für dich.
Ich schrieb Geschichten, schrieb Romane, in denen meistens er die männliche Hauptrolle spielte. Ich habe ihn durch mein Geschreibsel in einen besseren Mann verwandelt.
Und ich wartete.
Sein Bild war nach über dreißig Jahren verblasst, übrig blieb nur die Erinnerung an seine Anziehungskraft, seine Größe und seine Arroganz, die mich damals erschüttert hatte.
Ich wartete auf etwas. Auf ein Zeichen. Oder wenigstens auf einen guten Traum.
Aber die Zeichen und die Träume, es gab keine. Ich hatte fast vergessen, wie er aussah und fing an, in der Wirklichkeit zu leben. Nämlich mit einem Ehemann und zwei Katzen.
Doch eines Nachts - ganz unerwartet - kam doch ein Traum. Er war es, der Drecksack, der mich so sehr beeinflusst hatte. Er schaute mich an, und ich fühlte mich ... unbeschreiblich. Er war es, er war der einzige, den ich jemals hätte lieben können.
Doch dann verwandelte sich der Traum in einen Albtraum: Er schaute nicht mich an, sondern wandte sich meiner Freundin zu, die direkt neben mir stand. Und die küsste er. Vor meinen Augen.
Dreckskerl! Ja.
Ich bin endlich frei.
Was nun?
 

rainer Genuss

Mitglied
Hallo Aliasl
Dein Text lässt mich ratlos, aber interessiert zurück:
Du beschreibst eine Frau, die von Zuneigung und Sehnsucht geplagt über Jahrzehnte eine Liebe ersehnt, in Wirklichkeit ihr Eheleben vergeigt und dabei immer schlechtere Persönlichkeitszüge entwickelt.
Ihr Freiheitsgefühl ist am Ende nicht echt, sondern ein festsitzende Lebenslüge.
Was war deine Intuition zu dieser Kurzgeschichte? -

Irgendwie gefesselt, weil auch schon erlebt aber ratlos,
LG rainer
 

AliasI

Mitglied
Hallo Rainer,
Intuition? Einiges davon habe ich selber erlebt, allerdings in abgeschwächter Form. Dennoch war es latent immer vorhanden. Vielleicht wollte ich mich durch diese Story endgültig befreien von einer Besessenheit, die nichts gebracht hat außer Verdruss und ein verkorkstes Leben. Ich weiß nicht, ob es geklappt hat und vielleicht will ich es auch gar nicht wissen. Manche leben ihren Traum - und ich träume eben mein Leben.
Eine lieben Gruß an dich
 



 
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