Stark verkopft

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Du weißt es besser, doch niemand versteht dich - darunter leiden viele verkannte Geistesgrößen. Mit den Thesen 'Es gibt ein zweites Leben' sowie 'Träume kann man delegieren' , stürzte ein Student der Psychologie aus der Norddeutschen Tiefebene in eine Sinneskrise während seines Studiums an einer deutschen Elite-Universität. Kurz vor Beendigung des zweiten Semesters verließ er diese. Ausschlaggebend war für ihn die Ablehnung dieser von vielen unverstandenen Thesen als Gegenstand für eine Dissertation. Das Dekanat der Hochschule lehnte die eingereichte Arbeit mit der Begründung ab, bemüht, aber zu stark verkopft. Erst anschließend stellte das Gremium fest, dass sich der potentielle Doktorand gerade einmal im zweiten Semester seines Studiums befunden hatte.
Zu stark verkopft; das blieb tief in ihm haften. Der Studiosus verließ diese Stätte der vermeintlich reinen Wissenschaften und schrieb sich an einer bayerischen Hochschule für das Fach Philosophie ein. Hier im Freistaat erging es ihm ähnlich wie an der Universität im Norden. Man konnte ihm nicht folgen, als er sich hier nach einer Disziplin erkundigte, die dreieinig aus Religion, Naturwissenschaften und Philosophie bestehen sollte. Zusätzlich erlangte er große Aufmerksamkeit, als er dann einen direkten Bezug zwischen Kopflastigkeit und der anatomischen Auffälligkeit des doppelköpfigen römischen Gottes Janus geisteswissenschaftlich nachweisen wollte. Auch an dieser Universität fand er keine Erfüllung.
Doch dieser blitzgescheite junge Mensch gab nicht auf. Endlich, an einer kleineren Universität im Westfälischen, schien er sein Glück gefunden zu haben. Er begann ein Studium der Mathematik, mehr Kopflastigkeit war schwer vorstellbar. Und hier, inmitten dieser schnörkellosen, logischen Denker fühlte er sich schnell heimisch. Die Quantenmechanik wurde sein bevorzugtes Gebiet. Aber dann, er wusste es wieder einmal besser, verstand ihn niemand, als er ein mathematisches Denkmodell entwickelte, nach dem man die Existenz zweier Gegenstände in einem undurchsichtigen, verschlossenen Behälter nachweisen kann, ohne die Möglichkeit zu haben, dort hineinschauen zu können. Genial. Aber die Professoren konnten sich mit dieser Idee nicht anfreunden, sie befanden seine geistigen Anstrengungen, vorsichtig ausgedrückt, als grenzwertig. Einige von ihnen waren der Überzeugung, der Student hätte bereits eine Grenze überschritten. Seine künftige Ehefrau sah das ähnlich und trennte sich von ihm. Eine akademische Karriere endete, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte.
Aber selbst ein solches verkapptes Genie muss auf irgendeine Art seinen Lebensunterhalt bestreiten. Handwerklich war bei ihm nichts Verwertbares zu erkennen, geisteswissenschaftlich hatte er sich nicht durchsetzen können. Da blieb ihm als kluger Kopf nur die unendliche Weite des Internets. Sich mit Nerds und Trollen auszutauschen, langweilte ihn bald; außerdem benötige er Geld. So kamen ihm die 'Hidden Services', das Darknet in den Sinn. Das, was ihm dort als mögliche Geldquelle begegnete, missfiel ihm jedoch: Drogen und Waffen, damit wollte er nichts zu tun haben. Dass in diesem obskuren Netzwerk anonym ungestraft Schabernack getrieben werden konnte, war eher ein interessanter Aspekt für ihn.
Und so gab er eine Broschüre heraus, die er im Netz zum Verkauf anbot: 'Wie werde ich Reichsbürger? – Eine Anleitung'. Die Nachfrage war immens; das Guthaben auf seinem Bitcoin-Konto schoss förmlich durch die Decke. Aber dieses Pamphlet blieb in der breiten Öffentlichkeit nicht unentdeckt. Staatliche Behörden leiteten eine Untersuchung wegen Verbreitung einer volksverhetzenden Schrift ein. Der Ex-Student ohne Examen ging jedoch straffrei aus. Hinter dem Titel, der bei für dieses Thema anfälligen Typen helle Begeisterung hervorgerufen hatte, fanden diese aber nichts, das sie in staatsfeindlicher Absicht hätten umsetzen können – von Volksverhetzung keine Spur. Es war eine rein historische Abhandlung über einen Vorgang im frühen Mittelalter. Hier wurde beschrieben, was erforderlich war, um im Jahr 937 als benachbarter Volksstamm vollwertig in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation aufgenommen zu werden.
Die enormen Erlöse aus dem Verkauf dieses Traktats machten es möglich, dass ein hochbegabter junger Mensch sich materiell sorgenfrei vorzeitig ins Privatleben zurückziehen konnte. Und so verlegte der Neu-Privatier daraufhin seinen Lebensmittelpunkt in ein pittoreskes Gebirgstal in Nepal, wo er überwiegend als Autor von Kurzgeschichten und Verfasser von Leserbriefen tätig wurde. Zusätzlich schrieb er regelmäßig unter dem Pseudonym, Dr. Till E., Leitartikel für das bekannte Lifestyle Magazin, 'Herr, Auto, Hund & Frau'. Die Wertung, zu stark verkopft zu sein, drohte ihm nun nicht mehr. Im Gegenteil, er fühlte sich im Vorgebirgsland des Himalaya nicht mehr als der Kopflastige schlechthin; denn an klaren Tagen hatte er einen freien Blick auf den Mount Everest, der mit seinem mächtigen Haupt über allem thronte. Seine Ex-Verlobte folgte ihm einige Zeit später nach Nepal, wo sie in einem Vorort der Hauptstadt Kathmandu Pulswärmer aus Bio-Yak-Wolle strickte und erfolgreich an Touristen verkaufte.
 



 
Oben Unten