Stars and Stripes

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Druckmaus

Mitglied
Stars and Stripes

Die Strecke zieht sich. Sie zieht sich wie Gummi. Ich kenne diese Strecke im Schlaf, sie zieht sich immer wie Gummi.
Ich fahre. Ich fahre wie erstarrt weiter.
Mein ganzer Körper ist angespannt. Schmerzhaft spüre ich jeden einzelnen Muskel. Ich sitze verkrampft hinter dem Lenkrad und fahre. Ich fahre neunzig km/h. Bloß jetzt nicht zu schnell fahren denke ich und starre auf den Tacho.

Ich denke an Holger. Ob er mich wohl abholt denke ich.
Attention! Your are leaving the american sector.
Die Grenze kommt näher.
Ich kann den Kontrollpunkt bereits sehen. Ich halte an. Eine graue Uniform kommt auf mich zu.
Ich kurbele die rechte Scheibe meines Sciroccos herunter.
„Sind se allein im Wagen?“ Die Uniform steckt den Kopf halb durch das Fenster.
„Ja“ antworte ich artig und denke, dass siehste doch.
„Wo wollense denn hin?“ Er starrt mich an.
„Nach Berlin“ sage ich artig und füge hinzu: „West.“ Und denke, was geht dich das an.
„Fahrense ma rechts ran!“
Ich fahre wie befohlen rechts ran und denke auch das noch.
„Sooo, zeigen se ma ihre Papiere.“
Ich krame meinen Pass und Führerschein aus dem grünen Nylonrucksack und denke dass hätteste auch gleich haben können.
„Hmhm.“ Er stiert mich an als stünde ich auf Platz eins einer internationalen Fahndungsliste von Interpol.
„Machense ma den Kofferraum auf.“
Vorsichtig steige ich aus meinem Wagen schleiche nach hinten, öffne langsam den Kofferraum und denke hoffentlich ist das bald vorbei.
Mein Brustkorb verengt sich, ich kann nur schwer atmen.

Er sieht hinein, zieht den schwarzen Veloursteppich hoch, leuchtet mit einem Handscheinwerfer jede Ecke des Kofferraums aus.
„Weiterfahren“, befiehlt er.
Ich springe hastig in meinen Wagen und versuche tief durchzuatmen.
Es gelingt mir nicht.
Ich fahre weiter.
Weiter neunzig km/h.
Meine schweißnassen Hände umklammern das schwarze Lenkrad, so als könnte ich es nicht loslassen.
Die Transitstrecke zieht sich wie Gummi. Wieder denke ich fahr bloß nicht schneller und starre unentwegt auf die Tachonadel.
Nach zwei Stunden endlich die Abzweigung. Geradeaus Ostberlin, rechts nach Berlin West. Ich fahre rechts ab. Hoffentlich holt mich Holger ab, denke ich.

Plötzlich sehe ich sie. Dahinten am Horizont weht sie majestätisch im lauen Wind. Stars and Stripes. Freiheit und Unabhängigkeit. In mir wächst Vertrauen. Sie gibt mir Freiheit. Sie gibt mir Sicherheit. Sie nimmt mir die Angst. Ich kann wieder frei atmen. Ich atme tief und lange durch. Meine schweißnassen Hände lockern sich am Lenkrad. Gleich ist es geschafft denke ich.
Ein Soldat in amerikanischer Uniform winkt mich zur Seite.
Wieder kurbele ich das Fenster runter. Er fragt mich in fließendem Deutsch mit amerikanischem Akzent: “Sind sie belästigt worden?“
„ Nöö.“ Ich schüttele den Kopf.
„Na dann viel Spaß und einen angenehmen Aufenthalt in Berlin.“
Ich fahre zügig weiter. Gott sei dank denke ich, es ist geschafft.
Hundert Meter weiter am Rastplatz entdecke ich Holger. Er wirbelt seine hochgerissenen Arme in der Luft umher und winkt kräftig.
Ich bremse direkt neben ihm.
„ Hallo Schatz“, ruft er, und reißt die Beifahrertür auf.
Er stürzt sich ins Auto und schlingt seine stark behaarten Arme um meinen Hals.
„Na wars schlimm?“
Er hält mich liebevoll im Arm und küsst mich zärtlich auf die Wange.
Ich entdecke auf dem Rasen ein junges Päarchen. Sie sitzen auf einer ausgebreiteten Wolldecke und picknicken. Sie lachen und unterhalten sich angeregt.
Ich genieße den Augenblick und für einen Moment vergesse ich, dass ich mich auf einer Insel befinde.
Auf einer ungewollten Insel.
Übermorgen, übermorgen werde ich die selbe Strecke wieder zurück nach Hause fahren müssen.
 

F Fuller

Mitglied
Hallo Druckmaus:

Die ersten beiden Absätze erinnern mich an ein Lied, deren Strophen aus Wiederholungen eines Verses bestehen:
Die Strecke zieht sich. Sie zieht sich wie Gummi. Ich kenne diese Strecke im Schlaf, sie zieht sich immer wie Gummi.
Ich fahre. Ich fahre wie erstarrt weiter.
Ich würde das etwas verkürzen, etwa so:
"Die Strecke zieht sich wie Gummi. Ich kenne diese Strecke im Schlaf, sie zieht sich immer wie Gummi.
Ich fahre wie erstarrt weiter."

Und dann die Frage: warum "wie erstarrt"?
Für mich ist jemand "wie erstarrt", wenn er gerade einen Schrecken bekommen hat. Ich denke eher, Dein Protagonist ist nur steif vom langen Sitzen.

Ich denke an Holger. Ob er mich wohl abholt denke ich.
Auch hier reicht m.E. ein Satz: "Ich denke an Holger und frage mich, er mich abholt."

"denke ich" kommt überhaupt sehr häufig vor. Ich finde das nicht sehr störend, denn die Story "lebt" von einer gewissen Monotonie (nämlich die der Fahrt). Blöd ist nur, dass an zwei Stellen zwischen dem "denke ich" und dem, was gedacht wird, keinerlei Zeichensetzung erfolgte. Das macht es manchmal etwas schwierig zu lesen.

Ich fahre wie befohlen rechts ran und [red]denke[/red] auch das noch.
„Sooo, zeigen se ma ihre Papiere.“
Ich krame meinen Pass und Führerschein aus dem grünen Nylonrucksack und [red]denke[/red] dass hätteste auch gleich haben können.
Nach der Kontrolle erzählt der Protagonist wieder, dass sich die Strecke zieht und er auf die Geschwindigkeit achten muss. Das verdeutlicht, wie monoton die Fahrt verläuft - gut!

Dann nur noch zwei kleine Fehlerchen:
"Hundert Meter weiter am Rastplatz entdecke ich Holger. Er wirbelt seine hochgerissenen Arme[strike]n[/strike] in der Luft umher und winkt kräftig."

Nette kleine Geschichte!

Gruss
Fuller
 

Druckmaus

Mitglied
Hallo Fuller,

ich danke Dir für Deine konstruktive Rückmeldung.
Ich freue mich, das die Geschichte Dir gefallen hat.

Gruß Druckmaus
 
C

Corto

Gast
Hi Druckmaus,

Text gefällt mir sehr gut. Im Gegensatz zu Fuller bevorzuge ich kurze Sätze, vor allem wenn Gedanken wiedergegeben werden. Meine Gedanken kommen jedenfalls nicht ausformuliert und mit mehreren Nebensätzen ans Tageslicht. Von daher würde ich diesen Teil auch nicht zwingend ändern.

Diese Thematik an 9/11 und eine Woche vor der Bundestagswahl einzustellen, rief doch ein breites Grinsen bei mir hervor. Sehr gute Wahl!

Wir neigen dazu, zu schnell zu vergessen. Deine Reise in und durch die Vergangenheit ist ein gelungener Beitrag gegen das Vergessen!

*lg
Corto
 

norge

Mitglied
hi druckmaus

klasse Geschichte, die gekonnt eingesetzten Wiederholungen gefallen mir sehr gut.

Nur Kleinigkeiten:

heißt es wirlich "den" tacho (meter)? oder das? inzwischen ist selbst ein grammatikfreak wie ich verunsichert ;-)

zweimal "artig antworten" nacheinander würde ich etwas verändern

einige Gedanken würde ich in Anführungsstriche setzen, nicht immer, ich stehe auf so etwas, aber manchmal verwirrt es doch, wenn sie wie im Satzfluss eingesetzt werden und es kein satzfluss ist


Ich entdecke auf dem Rasen ein junges Päarchen. Sie sitzen auf einer ausgebreiteten Wolldecke und picknicken. Sie lachen und unterhalten sich angeregt.

für deine geschichte ist dieser satz nicht wichtig, nett, aber nicht wichtig. Würde ihn für andere forum als das der sds rausnehmen ;-)))
Aber das ist wie jede Meinung nur meine Meinung!

liebe Grüße von norge aus dem ostfriesischen Norden
 

Druckmaus

Mitglied
Hallo norge,

vielen Dank für deine Rückmeldung. Ich werde mir deine Vorschläge durch den Kopf gehen lassen.

Ich entdecke auf dem Rasen ein junges Päarchen. Sie sitzen auf einer ausgebreiteten Wolldecke und picknicken. Sie lachen und unterhalten sich angeregt.

Der obige Satz mag vielleicht nicht wichtig sein. Ich finde das er die Geschichte ein wenig abrundet.


Grüße Druckmaus
 

AliasI

Mitglied
Hallo Druckmaus,
ich würde das auch anders machen mit dem Denken, denn man kann ja kaum erkennen, wo gedacht wird und wo nicht. Normalerweile ist mir der Stil einer Story egal, aber das ist ein bisschen viel Denken...

Ein Beispiel:

Ich atme tief und lange durch. Meine schweißnassen Hände lockern sich am Lenkrad. Gleich ist es geschafft denke ich.
Besser: Ich atme tief und lange durch. Meine schweißnassen Hände lockern sich am Lenkrad. Gleich ist es geschafft.

Ich denke also, manchmal wäre es besser, das Denken ganz wegzulassen, zumindest es nicht mehr hinzuschreiben, dass man denkt.

Ansonsten kann ich das gut nachvollziehen, diese Reise auf der Transitstrecke. Ich hab das auch öfter erlebt, dieses Gefühl der Beklemmung - und hinterher die Erleichterung, wennn man endlich glücklich angekommen ist in Westberlin.

Tja, das waren noch Zeiten.

Liebe Grüße Ingrid
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Zitat: Das Transitabkommen sieht vor, daß der Personen- und Güterverkehr zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin künftig ohne Behinderungen und in der "einfachsten, schnellsten und günstigsten Weise" abgewickelt werden soll. Die bisher üblichen Durchsuchungen und Schikanen der DDR-Grenzbeamten sollen nun aufhören.
Das bedeutet: nach 1971 wurde kein Kofferraum mehr geöffnet.
Wenn die DDR Grenzer einen Verdacht hatten wurden Hunde über das Auto gejagt oder der Waagen wurde mit strahlentechnisch sehr bedenklichen Röntgengeräten untersucht.
Die Uniformen der Grenzer waren nicht grau. Der Pass wurde nicht nach einem kurzen Blick zurückgegeben - er verschwindet und taucht 100 Meter weiter hinten in einem anderen Grenzerhäuschen auf geheimnisvolle Weise wieder auf.
Soviel zu den Fakten. Vielleicht hab ich die Geschichte ja auch missverstanden. Dann nehme ich alles zurück. ;)
Ach ja, der erste VW-Scirocco wurde 1974 produziert.
Alles in fünf Minuten im Internet zu ermitteln.

Einen schönen Tag
Mumpf
 

Mumpf Lunse

Mitglied
;) was war denn wichtig?
ich finde die idee, mal zu beschreiben wie sich jemand da gefühlt hat, nicht schlecht.
allerdings glaube ich, dass fakten etwas mit glaubwürdigkeit zu tun haben. du verschenkst einfach zu viel. das fand ich schade.

schönen tag..
mumpf
 

Druckmaus

Mitglied
mumpf du hast ja recht, die fakten waren für mich sekundär,
es ging mir mehr darum die gefühle rüber zu bringen. diese strecke bin ich jahrelang gefahren.

viele grüße
 



 
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