Staubblindheit

Morfy

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Als diesen Sommer bei uns in der Firma ein Besuch des Investors bevorstand, wurden sämtliche Mitarbeiter zum Reinigungsdienst verurteilt; wir sollten das Haus vom Fundament bis zu den Dachspitzen von jeglichen Verschmutzungen befreien. So wischte auch ich in einer warmen Mittagsstunde den großen Eichentisch im Saal und seufzte vor mich hin; dies hatte nicht in der Stellenbeschreibung gestanden; ein Kundenberater hat doch nicht zu putzen. Das Sonnenlicht traf das Holz und ich sah deutlich mein Gesicht in der spiegelnden Oberfläche. Mit der Reinigung war ich zu Ende und den Lappen hing ich mir außer Atem über die Schulter. Der Chef trat ein. Er musterte die zu reinigende Fläche. Diese hätte sauberer nicht sein können, dachte ich, doch dies entpuppte sich als gefährlicher Irrglaube, als der Chef mit seinem Zeigefinger die Konturen der Staubreste andeutete; mehr als die Hälfte der Tischplatte war noch mit einer grauen Landschaft belegt – wie hatte ich das übersehen können! Dieser Vorfall verschob meine Reputation unter den Kollegen verhängnisvoll, doch vor allem verfolgt mich seither diese klagende Besorgnis, dass meine Wahrnehmung zu untauglich sei, um auch nur die einfachsten Wartungsarbeiten ausreichend erfüllen zu können. Wie viel Staub hatte ich womöglich auch andernorts zu anderen Anlässen liegen gelassen?
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

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Mal eine sehr interessante Perspektive darauf, was sich alles als Problem herausstellen könnte.
Wir haben alle unsere Kernkompetenzen, und wenn Wahrnehmung von Staub nicht dabei ist (oder gar bewusstes Ignorieren), kann trotzdem etwas Ordentliches aus uns werden :D
Bei all der mitschwingenden Tragik: Ein durch die Ernsthaftigkeit von Sprache und Erleben durchaus witziger Text - ging mir jedenfalls so.

Liebe Grüße
Petra
 

Sammis

Mitglied
Hallo!

Was mir so auffiel:

Als diesen Sommer bei uns in der Firma ein Besuch des Investors bevorstand, wurden sämtliche Mitarbeiter zum Reinigungsdienst verurteilt (beordert? Eine Verurteilung erfordert doch eine vorangegangene Tat, oder?); wir sollten das Haus vom Fundament bis zu den Dachspitzen von jeglichen Verschmutzungen befreien. So wischte auch ich in einer warmen Mittagsstunde den großen Eichentisch im Saal und seufzte vor mich hin; dies hatte nicht in der Stellenbeschreibung gestanden; ein Kundenberater hat doch nicht zu putzen. Das Sonnenlicht traf das Holz und ich sah deutlich mein Gesicht in der spiegelnden Oberfläche. Mit der Reinigung war ich zu Ende und den Lappen hing ich mirKOMMA außer Atem KOMMAüber die Schulter. Der Chef trat ein. Er bemusterte (eine Bemusterung, gerade im Zusammenhang mit Möbeln, ist etwas anderes, oder täusche ich mich?) die zu reinigende Fläche. Diese hätte sauberer nicht sein können, doch dies entpuppte sich als gefährlicher (folgenschwerer? Gefahr geht ja nicht wirklich damit einher) Irrglaube, als der Chef mit seinem Zeigefinger die Konturen der Staubreste andeutete (aufzeigte? Er wies ihn ja klar darauf hin); mehr als die Hälfte der Tischplatte war noch mit einer grauen Landschaft belegt – wie hatte ich das übersehen können! Dieser Vorfall verschob meine Reputation unter den Kollegen verhängnisvoll, doch vor allem verfolgt mich seither diese klagende (anklagende?) Besorgnis, dass meine Wahrnehmung zu untauglich sei, um auch nur die einfachsten Wartungsarbeiten ausreichend erfüllen zu können. Wie viel Staub hatte ich womöglich auch andernorts zu anderen Anlässen liegen gelassen?

Darüber hinaus schließe ich mich Petra an.

BG,
Sammis
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Morfy,
ein interessanter Blickwinkel, den ich gut nachvollziehen kann. Mir gefällt besonders der Titel.

Zwei Anmerkungen:

Diese hätte sauberer nicht sein können, doch dies entpuppte sich als gefährlicher Irrglaube, als der Chef mit seinem Zeigefinger die Konturen der Staubreste andeutete;
Für mich funktioniert der Perspektivwechsel zwischen Erzähler und Chef hier nicht gut. "Diese hätte sauberer nicht sein können, " klingt für mich nicht subjektiv genug. Sicher willst du die Spannung nicht mit Floskeln wie "Scheinbar" oä verderben. Aber ich würde deutlicher signalisieren, dass es sich um die Wahrnehmung des Erzählers handelt. Vielleicht kannst du diese Wahrnehmung direkt benennen. "Ich sah keinen Krümel Staub" oä


Dieser Vorfall verschob meine Reputation unter den Kollegen verhängnisvoll, doch vor allem verfolgt mich seither diese klagende Besorgnis, dass meine Wahrnehmung zu untauglich sei, um auch nur die einfachsten Wartungsarbeiten ausreichend erfüllen zu können. Wie viel Staub hatte ich womöglich auch andernorts zu anderen Anlässen liegen gelassen?
Meiner Meinung nach wäre das Ende effektvoller, wenn du nur den letzten Satz stehen lassen würdest. In ihm steckt für mich der Kernpunkt. Ich finde ihn sehr gelungen und wenn du das Beiwerk weg streichst, hat er mehr Platz, um zu glänzen.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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