Steckbrief

Bo-ehd

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„Nun erzähl doch mal von deinem neuen Freund Max, Hannah. Ich höre immer nur, wie gut ihr euch versteht und dass er in der Finanzbranche arbeitet und gutes Geld verdient. Wie ist er denn so … menschlich?“ Marlene wollte alles hören, was eine Mutter wissen will.
„Er ist wunderbar, Mama, du wirst ihn ja bald kennenlernen. Ich hatte noch nie einen so rücksichtsvollen Partner, und dass er mich auf Händen trägt, das habe ich dir ja schon erzählt. Er ist so reif, so erfahren. Mama, ich kann nur zu ihm aufschauen. Du wirst beeindruckt sein. Wir haben sogar schon übers Heiraten gesprochen. Max ist etwas ganz Besonderes, sehr reinlich und immer top angezogen. Feinster Zwirn bei jeder Gelegenheit.“ Hannah glühte vor Stolz, einen solchen Mann, der zudem noch blendend aussah, an ihrer Seite zu haben.
„Und warum wollt ihr von Hamburg weg?“
„Max meint, der Finanzmarkt sei ihm zu eng geworden. Zu viele Mitbewerber. Er will aus der Branche aussteigen und sich etwas Neues suchen.“ Hannah war nervös vor Freude und drehte den Henkel ihrer Kaffeetasse von einer Seite auf die andere. Mit der Gewissheit, endlich den Partner fürs Leben gefunden zu haben, schaute sie ihre Mutter erwartungsvoll an.
„Natürlich könnt ihr bei mir wohnen, Hannah. Das Haus ist groß genug. Ich bleibe im Erdgeschoss, ihr könnt die ganze obere Etage belegen. Und wenn dein Max Arbeit gefunden hat, könnt ihr entscheiden, ob ihr bleiben wollt oder euch lieber auf eigene Füße stellt.“
Das hatte Marlene ihrer Tochter Hannah mit Nachdruck angeboten. Sie sah darin auch die Verwirklichung eines eigenen Wunsches. Was konnte es Schöneres geben, sagte sie sich immer wieder, als ihre einzige Tochter bei sich zu haben. Dass sie ihren Freund Maximilian, mit dem sie seit sechs Monaten zusammen war, mitbrachte, schmälerte ihre Freude nicht im Geringsten. Sie betrachtete ihn, den zukünftigen Schwiegersohn, ohne zu zögern als Familienmitglied. Schließlich war es völlig normal, wenn die Tochter einen Mann mit ins Haus brachte. So funktioniert die Gesellschaft seit Jahrtausenden.
An einem warmen Junitag kam der Umzugswagen, und ein halbes Dutzend starke Hände sorgte für einen geräuschlosen Einzug.
Marlene war überglücklich. Ihre Lebensfreude speiste sich bisher aus einer Idylle, die sie schlicht Garten nannte. Er enthielt über dreißig Bäume, dazu Sträucher und Stauden, einen Bereich für den Gemüseanbau und als Ruhebereich einen schattigen Platz an einer lebenden Mauer aus Sandsteinbruch. Hier saß sie in der warmen Jahreszeit täglich, erfreute sich am Anblick der Pflanzen, wie sie all ihre Kraft investierten, um ihre Früchte und Samen zur Reife zu bringen. Oder sie las in einem Buch. Das bewirkte in ihr eine Ausgeglichenheit und seelische Ruhe wie aus einem Lehrbuch für glückliches Leben. Nichts würde ihr mehr gefallen, als dass Hannah dieses Glück mit ihr teilte. Und die Chancen dafür standen jetzt gut.
An einem Sonntagvormittag Ende Juli saß sie aber aus einem anderen Grund in ihrem kleinen Paradies. Sie starrte gedankenversunken vor sich hin, was ihrer Tochter, die sich eine Salatgurke aus dem Gewächshaus holen wollte, sofort auffiel.
„Mama, was ist denn los mit dir? Hast du irgend etwas?“
Marlene schaute auf. „Nein, es ist nichtig wichtig.“ Sie versuchte, ihre Tochter zu beruhigen. „Ich muss nur an morgen denken. In meinem ganzen Leben war ich noch nie auf einer Polizeiwache. Ich habe einfach ein komisches Gefühl.“
„Ach Mama, da musst du dir doch keine Sorgen machen. Du bist doch nur Zeugin. Und Max ist bei dir. Ihr erzählt, was ihr gesehen habt. Das wird protokolliert, ihr unterschreibt, und dann könnt ihr nach Hause gehen.“
„Trotzdem …“ Sie konnte ihr Unbehagen nicht ablegen.
„Nun beruhige dich doch. Es ist wie bei den Krimis im Fernsehen und so harmlos wie ein Besuch beim Einwohnermeldeamt.“

*

Marlene schaffte es tatsächlich, ein wenig von ihrer Ruhe wiederzuerlangen. Sie rückte ihren Blaser zurecht, kontrollierte ihre Frisur im Spiegel einer Glastür und betrat zusammen mit Max das Innere der Wache. Ein Beamter ließ sie in einem Vernehmungsraum Platz nehmen. Nach nur einer Minute erschien Hauptkommissar Rolf Becker mit einer Akte in der einen und einem Aufzeichnungsgerät in der anderen Hand, das er gleich auf den Tisch stellte. Er begrüßte sie sehr höflich, was Marlene sofort etwas von ihrer Nervosität nahm. Dann erklärte er kurz das Procedere und forderte beide auf, den gesamten Vorfall so zu schildern, wie sie ihn wahrgenommen hatten. Marlene sollte anfangen.
„Wo haben Sie gestanden, als Sie den Täter gesehen haben?“, wollte Becker wissen.
„Mein zukünftiger Schwiegersohn und ich haben neben dem Eingang zur Stadtbücherei gestanden, etwa zehn Meter links von dem Juweliergeschäft, und auf meine Tochter gewartet. Sie ist Bibliothekarin, müssen Sie wissen, und hat diese Anstellung bekommen, gleich nachdem sie von Hamburg wieder zu mir gezogen ist. Es war zwölf Uhr, vielleicht eine oder zwei Minuten später. Ich schaute gerade in Richtung Innenstadt, also nach links, als ich den Mann sah, wie er seelenruhig aus dem Juweliergeschäft kam. Er mischte sich unauffällig unter die Fußgänger wie jeder Kunde, wenn er ein Geschäft verlässt. Soweit ich mich erinnere, trug er eine Aktentasche unter seinem linken Arm, und in seiner rechten Hand befand sich etwas Schwarzes, das ich nicht erkennen konnte.“
„Sehr gut beobachtet, Frau Kieling. Was hatte er an? Können Sie seine Kleidung beschreiben?“
„Graubraun meliertes Jackett, blaue Jeans“, kam es unverzüglich. „Etwa einsfünfundachtzig groß, breite Schultern. Er fiel mit seiner athletischen Figur in der Menschenmenge auf dem Bürgersteig ziemlich auf.“
„Das deckt sich mit den Angaben des Juweliers. Jetzt kommt die entscheidende Frage: Haben Sie sein Gesicht gesehen? Er ist ja direkt an Ihnen vorbeigelaufen. Bei dem Überfall hatte er nämlich noch eine Maske getragen.“ Becker schaute sie erwartungsvoll an.
„Natürlich! Deswegen bin ich doch hier, oder?“ Marianne hatte ihre Nervosität endgültig abgelegt. Max neben ihr nickte nach jedem Satz zustimmend.
„Da haben Sie ganz Recht“, bestätigte Becker sie und wandte sich an Max.
„Können Sie die Aussage von Frau Kieling bestätigen, Herr Rückert?“ Vielleicht möchten Sie noch etwas ergänzen?“
„Nein, mehr ist mir auch nicht aufgefallen. Die Haare, ja, die waren dunkelblond, etwa so wie meine, und sein Alter schätze ich auf knapp vierzig.“ Max überlegte weiter und schüttelte dabei bedächtig den Kopf. „Nein, mehr fällt mir auch nicht ein.“
„Die Angaben müssten für ein brauchbares Bild reichen. Lassen Sie uns zu Herrn Apelius gehen. Er ist unser Zeichner für Gesichter. Was heißt Zeichner? Natürlich geht das alles heute elektronisch. Na, Sie werden es ja gleich sehen.“ Becker ging voran und hielt den beiden Zeugen die Tür zum „Zeichenlabor“ am Ende des Ganges auf.
Es dauerte eine dreiviertel Stunde, bis die Zeichnung stand. Marlene hatte die Angaben vorgegeben und an den Zeichnungsvorschlägen immer wieder Veränderungen vornehmen lassen, und als sie nichts mehr zu korrigieren hatte, sorgte Max noch für den Feinschliff.
„Die Augen noch etwas tiefer liegend“, „die Jochbeine nicht so markant“, „die Lippen eine Idee stärker und schwungvoller“ - die Änderungen, die Max wünschte, waren marginal. Marlene akzeptierte sie.
Als die Zeichnung fertig war, wollte sich Becker verabschieden, aber Max hob kurz die Hand, um zu signalisieren, dass er noch eine Frage hatte.
„Sollten wir nicht kurz die Verbrecherdatei durchsehen? Vielleicht entspricht ja der Juwelendieb einem der Typen aus der Kartei?“ Max gab sich betont interessiert an der Aufklärung des Diebstahls.
„Wenn Sie sich die Zeit noch nehmen wollen? Gern! Gehen wir in mein Büro.“ Solch hilfsbereite Zeugen hatte der Kommissar nicht jeden Tag.

*

Als die beiden Zeugen Platz genommen hatten, drehte er seinen Bildschirm ein wenig in ihre Richtung und öffnete die Datei mit den Daten der Tatverdächtigen. Er setzte mehrere Filter ein und wartete. „Was Sie jetzt sehen werden, sind Verdächtige, die per Haftbefehl gesucht werden. Es handelt sich ausschließlich um Täter, die für solche Straftaten hier in unserer Gegend infrage kommen.“
Marlene und Max starrten auf den Bildschirm, auf dem zunächst nur das Polizeilogo zu sehen war.
„Es handelt sich nicht nur um die Ausführenden solcher Diebstähle, sondern auch um Täter, die im Hintergrund arbeiten.“ Kaum hatte er ausgesprochen, erschien das erste Gesicht auf dem Schirm.
Marlene schaute es interessiert an und überflog die Informationen unter dem Konterfei. Dabei entdeckte sie zwei Felder, die sie besonders interessierten. Im ersten waren die Vorstrafen aufgelistet, im zweiten der aktuelle Tatverdacht und die Begründung des Haftbefehls. Da sie so etwas noch nie zuvor gesehen hatte, las sie begierig jede Zeile.
Becker holte tief Luft. „Sie müssen nicht den ganzen Text lesen“, sagte er in einem beruhigendem Ton. „Es kommt doch jetzt nur darauf an, dass Sie das Gesicht wiedererkennen.“
Marlene las schneller, so dass Becker zufrieden war.
„Was es nicht alles für Menschen gibt“, murmelte sie kopfschüttelnd nach dem achtundzwanzigsten Konterfei. „Man sieht’s denen schon an, dass sie etwas auf dem Kerbholz haben“, konstatierte sie.
„Typische Verbrechervisagen!“, kam es nun verächtlich von Max. Bisher hatte er sich kaum geäußert. „Alles Typen für den Knast!“, fügte er hinzu und rückte sein Brioni-Jackett zurecht.
Marlene befand, dass sich die folgenden Beschreibungen sehr ähnelten und wollte den Rest schon gar nicht mehr lesen, als sie zu Bild achtunddreißig kamen. Sie starrte auf das Polizeifoto, schlug die Hände vors Gesicht, nahm sie wieder herunter und heftete ihre Blicke auf die Beschreibung. Innerhalb von Sekunden schien ihr Kopf blutleer zu werden. Die Lippen reduzierten sich auf zwei schmale Striche und ihre Augen waren leicht zusammengekniffen und bemüht, trotz der Tränen den unter dem Foto befindlichen Text zu entziffern.
Die erste Zeile begann mit den Namen: Bruno Wehncke alias Kurt Grosser alias Friedrich Braun alias Günther Voigtländer. Dann folgte das Feld mit den Vorstrafen: Anlagebetrug, Versicherungsbetrug, Beihilfe zu Schwerem Diebstahl, Hehlerei. Haftbefehl ausgestellt am 20. Mai 2024 wegen Anfangsverdacht auf Unterschlagung und Untreue gemäß §§…“
Das Datum – es war ganz frisch, erst vier Wochen alt. Mehr wollte sie nicht lesen. „Arme Hannah“, hauchte sie vor sich hin, und dann schlug sie sich mit der eigenen Faust gegen die Stirn, weil sie nicht schon früher reagiert hatte. Hannah hätte nicht so gutgläubig sein dürfen, kam es ihr.
Da meldete sich ganz unerwartet Max zu Wort. „Ganz schönes Früchtchen da auf dem Foto! Sieht mir komischerweise sogar etwas ähnlich, ein Doppelghänger, unglaublich, dieser Wehncke oder wie der richtig heißt. Gleiche Haarfarbe, gleiche Größe wie ich. Was für ein Zufall! Zum Glück heißt er nicht auch noch Rückert.“
Marlene hatte nicht gemerkt, dass Hauptkommissar Becker aufgestanden war und einen Kollegen zu sich gewunken hatte. Als die Handschellen klickten, sah Max kurz zu Marlene, zuckte mit den Schultern und ließ ein leises „Tut mir leid“ vernehmen.


Während Max erkennungsdienstlich behandelt wurde, trat Becker zu ihm. „Würde mich mal interessieren, warum Sie unbedingt die Fotokartei einsehen wollten. Ich vermute, Sie wollten Ihre Kollegen warnen.“
„Nicht einmal das“, erwiderte Max und wollte schon seinen Mund für eine Speichelprobe öffnen. „Ich war nur neugierig, wer von den alten Kumpanen so dämlich war, sich erwischen zu lassen und wer sich aus früheren Zeiten noch in der Kartei befindet. Aber: Neugier macht unvorsichtig, das wissen Sie doch besser als ich, Kommissar.“
 



 
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