Languedoc
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Sterben am Strand
Beinahe fünfzig Jahre habe ich schon gelebt und vieles erlebt in dieser langen Zeit, aber ich habe noch nie einen toten Menschen mit eigenen Augen gesehen. Vor etwa zwei Monaten jedoch geschah genau das.
Es war ein Samstag Anfang Juni, der erste richtige Sommertag nach einem trüben, windigen Frühling. Die Menschen sehnten sich nach Licht und Wärme, und so zog es jedermann an diesem Wochenende hin zum Strand, um sich zu sonnen und vielleicht einen Sprung in das noch recht kalte Meer zu wagen.
Auch mein Mann und ich packten unsere Badesachen und machten uns auf den Weg zum Plage du Neptune, der Strand, wo wir einige Sommer schon unsere Freizeit verbracht hatten. Wir bogen um die letzte Wegecke und wollten gerade die Stiege runter zum Kieselstrand nehmen, da stürmten drei Männer in Sanitäteruniform an uns vorbei hin zum nahen Wasser. Dort stand ein kleines Grüppchen Leute beieinander. Alle starrten auf den Boden, wo rücklings ein Mensch lag, die nackten Füße im Meer, von winzigen Wellen umkräuselt.
Der erste Sanitäter kniete sich sofort hin und begann die Herzdruckmassage. Bei jedem Stoß auf den Brustkorb schlenkerte der Kopf des Verunglückten hin und her wie die Glieder einer schlaffen Stoffpuppe, wenn sie von forschen Kinderhändchen allzu heftig drangsaliert wird.
Es lag da aber ein Mensch auf den Kieselsteinen, keine Puppe. Er trug nur eine Badehose und war korpulent, und nun wabbelte und schwabbelte alles an dem Körper; „Fleischwackelpudding“, dachte ich, und erschrak.
„Das sieht böse aus“, murmelte mein Mann.
Wir standen da immer noch wie angewurzelt, als ein weiterer Sanitäter an uns vorbei sauste, mit einem weißen Packen unterm Arm; es waren mehrere Stofflaken, die am Unglücksort eilig auseinandergefaltet wurden. Vier Männer haschten sich je die Tuchzipfel und hielten sie in Schulterhöhe so, dass sie um den verunglückten Menschen eine Sichtschutzwand bildeten. Doch seine nackten Füße im Meer, die sah ich immer noch. Sie klappten auseinander und zusammen im Herzschlagrhythmus.
Ich musste immerzu hinschauen. „Komm, wir setzen uns hin“, schlug mein Mann vor. Wir stiegen zum Strand hinab und breiteten unsere Liegetücher auf dem Boden aus. Gleich neben uns hatte sich eine Großfamilie eingefunden und rüstete sich für ein opulentes pique-nique. Sie nahm keine Notiz vom Geschehen nur einen Steinwurf entfernt, ebenso wenig wie die vielen anderen Strandbesucher. Es war ein Betrieb wie zu Hochsommerzeiten. Am Beachvolley-Platz kämpften zwei Mannschaften um den Ball, dass der Sand nur so flog und stob. Ich hörte schmeichelnden Sax-Jazz vom Restaurant herüberklingen. Im Kanuverleih nebenan herrschte Hektik, weil mehr Kinder zum Paddeln aufs Meer raus wollten, als es Plätze in den Kanus gab. Andere Kinder mit Schwimmflügerln tollten im flachen Wasser und jauchzten und quietschten. Viele wintermüde Menschen lagen einfach nur auf ihren Matten und ließen sich von den Sonnenstrahlen kitzeln.
Mir schien die Zeit ewig, und doch waren erst ein paar Minuten vergangen, seit uns die Sanitäter fast überrannt hatten. Erstretter, so weiß ich es, machen solange Wiederbelebungsmaßnahmen, bis ärztliche Hilfe eintrifft. Nach vielleicht zehn Minuten – ich könnte die genaue Zeitdauer nicht nennen -, hasteten zwei Ärzte die Steinstiege herab; ich erkannte sie an ihrer schneeweißen Bekleidung und den Handköfferchen. Sie verschwanden hinter der Lakenwand, doch tauchten sie wieder auf, noch bevor ich bis zehn hätte zählen können. Sie schüttelten die Hände der gendarmes, die soeben eintrafen, zusammen mit weiteren Männern in einer Uniform, die ich nicht zuzuordnen wusste. Sie rannten jedoch nicht, sondern näherten sich ohne Eile, und trugen eine Bahre mit, ein simples Brett von etwa zwei Metern Länge mit je drei Tragegriffen längsseitig. Einer dieser Männer entfaltete noch im Gehen einen großen, hellfarbenen Sack aus sichtlich steifem, dicken Material. Diesen Sack mit sich her schleifend verschwand der Mann hinter dem Wall aus Stoff, und auf einmal waren die nackten Füße verschwunden.
Dann senkten sich die weißen Tücher wie ein Bühnenvorhang nach einer Theateraufführung, just in dem Moment, als sechs Männer die Bahre hochhoben mit diesem Sack darauf, einer Skulptur gleich, vollkommen geschlossen, mit einem Menschenkörper gefüllt, der nun einfach abtransportiert wurde. Einer der gendarmes folgte der Prozession mit einem winzigen Hündchen an der Leine die Steintreppe rauf in Richtung Straße, und fort waren sie, alle.
Wir saßen da, schwiegen, und schauten aufs Meer hinaus. Es glänzte dunkelblau, fast schwarz, wie an ganz seltenen Tagen nur. Die Wellen rollten sanft ans Land und raunten ihre schmeichelnde Melodie. Wir schlenderten hin und stellten unsere nackten Füße knöcheltief ins Wasser, aber schwimmen gingen wir nicht. Ich hob einen besonders heraus scheinenden, scharf weiß-schwarz-marmorierten Kieselstein vom Boden, und warf ihn in Poseidons Rachen.
Eine Todesanzeige im Lokalblatt fand ich in den kommenden Tagen nicht. Erst Wochen später, als der Sommer seinen Zenit bereits überschritten hatte, traute ich mich wieder soweit ins Meer hinauszuschwimmen, wie ich es früher bedenkenlos gewagt hatte.
Beinahe fünfzig Jahre habe ich schon gelebt und vieles erlebt in dieser langen Zeit, aber ich habe noch nie einen toten Menschen mit eigenen Augen gesehen. Vor etwa zwei Monaten jedoch geschah genau das.
Es war ein Samstag Anfang Juni, der erste richtige Sommertag nach einem trüben, windigen Frühling. Die Menschen sehnten sich nach Licht und Wärme, und so zog es jedermann an diesem Wochenende hin zum Strand, um sich zu sonnen und vielleicht einen Sprung in das noch recht kalte Meer zu wagen.
Auch mein Mann und ich packten unsere Badesachen und machten uns auf den Weg zum Plage du Neptune, der Strand, wo wir einige Sommer schon unsere Freizeit verbracht hatten. Wir bogen um die letzte Wegecke und wollten gerade die Stiege runter zum Kieselstrand nehmen, da stürmten drei Männer in Sanitäteruniform an uns vorbei hin zum nahen Wasser. Dort stand ein kleines Grüppchen Leute beieinander. Alle starrten auf den Boden, wo rücklings ein Mensch lag, die nackten Füße im Meer, von winzigen Wellen umkräuselt.
Der erste Sanitäter kniete sich sofort hin und begann die Herzdruckmassage. Bei jedem Stoß auf den Brustkorb schlenkerte der Kopf des Verunglückten hin und her wie die Glieder einer schlaffen Stoffpuppe, wenn sie von forschen Kinderhändchen allzu heftig drangsaliert wird.
Es lag da aber ein Mensch auf den Kieselsteinen, keine Puppe. Er trug nur eine Badehose und war korpulent, und nun wabbelte und schwabbelte alles an dem Körper; „Fleischwackelpudding“, dachte ich, und erschrak.
„Das sieht böse aus“, murmelte mein Mann.
Wir standen da immer noch wie angewurzelt, als ein weiterer Sanitäter an uns vorbei sauste, mit einem weißen Packen unterm Arm; es waren mehrere Stofflaken, die am Unglücksort eilig auseinandergefaltet wurden. Vier Männer haschten sich je die Tuchzipfel und hielten sie in Schulterhöhe so, dass sie um den verunglückten Menschen eine Sichtschutzwand bildeten. Doch seine nackten Füße im Meer, die sah ich immer noch. Sie klappten auseinander und zusammen im Herzschlagrhythmus.
Ich musste immerzu hinschauen. „Komm, wir setzen uns hin“, schlug mein Mann vor. Wir stiegen zum Strand hinab und breiteten unsere Liegetücher auf dem Boden aus. Gleich neben uns hatte sich eine Großfamilie eingefunden und rüstete sich für ein opulentes pique-nique. Sie nahm keine Notiz vom Geschehen nur einen Steinwurf entfernt, ebenso wenig wie die vielen anderen Strandbesucher. Es war ein Betrieb wie zu Hochsommerzeiten. Am Beachvolley-Platz kämpften zwei Mannschaften um den Ball, dass der Sand nur so flog und stob. Ich hörte schmeichelnden Sax-Jazz vom Restaurant herüberklingen. Im Kanuverleih nebenan herrschte Hektik, weil mehr Kinder zum Paddeln aufs Meer raus wollten, als es Plätze in den Kanus gab. Andere Kinder mit Schwimmflügerln tollten im flachen Wasser und jauchzten und quietschten. Viele wintermüde Menschen lagen einfach nur auf ihren Matten und ließen sich von den Sonnenstrahlen kitzeln.
Mir schien die Zeit ewig, und doch waren erst ein paar Minuten vergangen, seit uns die Sanitäter fast überrannt hatten. Erstretter, so weiß ich es, machen solange Wiederbelebungsmaßnahmen, bis ärztliche Hilfe eintrifft. Nach vielleicht zehn Minuten – ich könnte die genaue Zeitdauer nicht nennen -, hasteten zwei Ärzte die Steinstiege herab; ich erkannte sie an ihrer schneeweißen Bekleidung und den Handköfferchen. Sie verschwanden hinter der Lakenwand, doch tauchten sie wieder auf, noch bevor ich bis zehn hätte zählen können. Sie schüttelten die Hände der gendarmes, die soeben eintrafen, zusammen mit weiteren Männern in einer Uniform, die ich nicht zuzuordnen wusste. Sie rannten jedoch nicht, sondern näherten sich ohne Eile, und trugen eine Bahre mit, ein simples Brett von etwa zwei Metern Länge mit je drei Tragegriffen längsseitig. Einer dieser Männer entfaltete noch im Gehen einen großen, hellfarbenen Sack aus sichtlich steifem, dicken Material. Diesen Sack mit sich her schleifend verschwand der Mann hinter dem Wall aus Stoff, und auf einmal waren die nackten Füße verschwunden.
Dann senkten sich die weißen Tücher wie ein Bühnenvorhang nach einer Theateraufführung, just in dem Moment, als sechs Männer die Bahre hochhoben mit diesem Sack darauf, einer Skulptur gleich, vollkommen geschlossen, mit einem Menschenkörper gefüllt, der nun einfach abtransportiert wurde. Einer der gendarmes folgte der Prozession mit einem winzigen Hündchen an der Leine die Steintreppe rauf in Richtung Straße, und fort waren sie, alle.
Wir saßen da, schwiegen, und schauten aufs Meer hinaus. Es glänzte dunkelblau, fast schwarz, wie an ganz seltenen Tagen nur. Die Wellen rollten sanft ans Land und raunten ihre schmeichelnde Melodie. Wir schlenderten hin und stellten unsere nackten Füße knöcheltief ins Wasser, aber schwimmen gingen wir nicht. Ich hob einen besonders heraus scheinenden, scharf weiß-schwarz-marmorierten Kieselstein vom Boden, und warf ihn in Poseidons Rachen.
Eine Todesanzeige im Lokalblatt fand ich in den kommenden Tagen nicht. Erst Wochen später, als der Sommer seinen Zenit bereits überschritten hatte, traute ich mich wieder soweit ins Meer hinauszuschwimmen, wie ich es früher bedenkenlos gewagt hatte.