Sterne

STERNE

In der vorigen Nacht hatte er seit langer Zeit wieder die Sterne betrachtet.
Die Hitze der vergangenen Tage staute sich noch immer in den Räumen und es war beinahe unmöglich, rasch einzuschlafen. Auf dem Balkon hingegen, barfuss und mit freiem Oberkörper, war es angenehm. Mitternacht war noch nicht lange vorbei, und in den Häusern seiner Strasse – eine Sackgasse –, die er von seinem Balkon aus einsehen konnte, brannte kein Licht mehr. Lediglich eingangs der Strasse, zum anderen Ende hin, schien ein einzelnes beleuchtetes Fenster über die Strasse zu wachen. Ohne die Laterne, die ein wenig seitlich versetzt von seinem Balkon stand, hätte die Strasse gänzlich friedlich und beinahe romantisch gewirkt. Die simple, rein funktionelle Konstruktion aus Beton und Stahl sowie das grelle, kalte Licht, um das sich allerlei Insekten tummelten, ließen derartige Stimmungen jedoch nicht recht aufkommen, so wenig wie seine unruhigen, verworrenen Gedanken. Zeitweilige Gefühle von Unruhe und Verwirrung waren nichts Ungewöhnliches für ihn, wenn diese sich auch in den letzten Monaten gehäuft hatten und die Abstände zwischen den schwierigen und weniger schwierigen Tagen scheinbar kürzer geworden waren.

Aber der Nachthimmel war klar und wirklich schön anzuschauen; ein riesiges, pechschwarzes Nadelkissen, dicht gespickt mit unzähligen, für die Augen beinahe schmerzhaft funkelnden weißen Stecknadelköpfen. Als Kind hatte man ihn gelehrt, dass dies Sterne seien, und sein kindlicher Verstand brachte sie mit den einzigen Sternen in Verbindung, die er kannte, den Weihnachtssternen in den Straßen und Geschäften sowie den von der Mutter gebastelten Gebilden aus Stroh im weihnachtlich geschmückten Wohnzimmer. Später, bald nach der Einschulung, ergänzten Märchen wie Sterntaler und Das Hirtenbüblein seine Vorstellung, bis im Gymnasium die wissenschaftlichen Erkenntnisse die Überhand gewannen.

Er interessierte sich durchaus für Astrophysik, Astronomie, das Universum und all das; wie alles entstanden war und funktioniert. (In der Folge beschäftigte er sich sogar mit Astrologie, jedoch überwiegend im Hinblick auf Mythologien, Aberglauben und die Leichtgläubigkeit der Menschen. Er empfand es so erstaunlich wie bedenklich, dass diese oftmals keinen Rat von gebildeten, wohlmeinenden Fachleuten annehmen wollen, dagegen bedingungslos oberflächlichen, vagen, vieldeutigen Weisungen der Planeten gehorchen, die, wie doch hinreichend bekannt sein müsste, fern und teilnahmslos ihre Bahnen ziehen.) Doch war und blieb sein Interesse eher selektiv und wahllos und – da er keinen wissenschaftlichen Verstand sein Eigen nannte – sein Wissen oberflächlich und bruchstückhaft. Urknall, Hintergrundstrahlung, Antimaterie, dunkle Materie, Sternschnuppen, Raum und Zeit, Lichtjahre- und Geschwindigkeit, schwarze Löcher und Ereignishorizonte, und warum wir Planeten und Monde dennoch als leuchtende Objekte wahrnehmen, obwohl diese keine eigene Lichtquelle besitzen: solche Dinge entzogen sich einem tieferen Verständnis.

Und so hatte er beim Betrachten des Sternenhimmels stets gemischte Gefühle.
Einerseits war er empfänglich für seine Schönheit (so wie er etwa auch die Malerei oder eine Fotografie genoss und sich von diesen anregen ließ), andererseits war er sich über seine tieferen Gefühle – die er regelmäßig zu unterdrücken suchte – nie wirklich im Klaren, auch weil der Blick in den nächtlichen Himmel etwas in ihm auslöste, das er nur selten zu benennen wagte. Vor langer Zeit hatte Elena ihm einiges über das Sternbild der Zwillinge erzählt und ihm gezeigt, wo (und wann) man es am Sternenhimmel ausmachen konnte. Zwar waren sie beide nicht im Sternzeichen der Zwillinge geboren, aber sie hielt es für ein passendes Symbol ihrer Beziehung. Elena hatte es sehr mit Astrologie, Meditation, Tarot, sowie Steinen mit vermeintlich besonderen Kräften, die man immer bei sich tragen musste, damit sie ihre Wirkung nicht verlören, und sie machte ihn auf die Sterne Castor und Pollux sowie auf deren Bedeutung in der griechischen Mythologie aufmerksam.
Einstmals hatten sie oft zusammen den Sternenhimmel betrachtet; der späte Abend sowie die Nacht war meist ihre beste gemeinsame Zeit gewesen. Jenseits der langweiligen, trivialen Vorbereitungen auf den Alltag, etwa den nächsten Arbeitstag mit seinen Pflichten, Zwängen und Terminen, lebten sie in einer parallelen, abgeschiedenen Welt, die in der Hauptsache aus Lachen und Zärtlichkeiten bestand, aus Träumereien und Zukunftsplänen, die so schön wie der Sternenhimmel waren, weil sie in beiderseitigem stillen Übereinkommen niemals versuchten, sie dem Tageslicht auszusetzen.

Ach, und wie schön Elena war; schön wie ein Stern, wirklich!
So antwortet er stets, wenn er nach ihr gefragt wird. Kommt er von selbst auf sie zu sprechen, so ist sie die schönste Frau die er kennt, mehr noch, die schönste Frau die es gibt oder geben könne. Lächelt man ihm nachsichtig und ein wenig verständnislos zu, beginnt er sogleich ausführlich von ihrer gemeinsamen Zeit zu erzählen, und unvermittelt wähnt man sich in einem Gedicht, etwa von Petrarca oder Keats. –


Eine leichte Brise, welche das Brummen der Autos von der nahe gelegenen Autobahn mit sich trug, strich über den Balkon. Ein wenig Schweiß rann ihm über Brust und Nacken, und der Wind ließ ihn frösteln. Er hatte den Eindruck, kurz eingenickt zu sein; Brise und Brummen hatten ihn wohl aufgeweckt, aber sicher war er sich nicht. Jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, gefröstelt zu haben, seit er den Balkon betreten hatte. In letzter Zeit hatte er häufig das Gefühl, an keinem Ort vollständig anwesend zu sein und, immer wenn ihn diese unruhigen, verworrenen Gedanken überfielen, die Welt um sich herum minutenlang wie durch einen leichten Schleier wahrzunehmen, durch den er sich wie eine zwar von ihm erschaffene, ihm dennoch fremd gebliebene Person beobachtete. Es war nicht so, dass er überhaupt keine Antworten mehr erhielt; vielmehr fand er es zunehmend schwerer, die entsprechenden Fragen auf eine Weise zu stellen, die unweigerlich zu einer Antwort führte, die ihn wenigstens für den Moment beruhigen würde.

In der Küche im Haus gegenüber ging das Licht an, und durch die hellen, grobkörnigen Gardinen, die nur etwa die obere Hälfte der Fensterscheiben bedeckten, sah er die Nachbarsfrau etwas aus dem Kühlschrank holen. Ihr machte die Hitze in der Wohnung wohl ebenso zu schaffen wie ihm, denn sie war lediglich mit einem Slip bekleidet. Sie mochte Mitte/Ende vierzig sein, hatte eine attraktive Figur mit großen Brüsten, und er beobachtete sie mit verschämter, unbestimmter Lüsternheit, ohne daran zu denken, dass man ihn im Schein der Straßenlaterne auf seinem Beobachtungsposten sehen konnte. Als er sich dessen gewahr wurde, hatte er wiederum jenes irritierende Gefühl, kurz eingenickt zu sein, und er rutschte hastig tiefer in seinen Stuhl, sodass sein Oberkörper einigermaßen von den Blumenkästen vor ihm verdeckt wurde.
Es schoss ihm durch den Kopf, dass er seit Jahren keine nackte Frau mehr mit denselben Augen betrachtet hatte wie einst Elena, die jetzt ungefähr im selben Alter sein musste wie seine Nachbarin, und sofort verirrten sich seine Gedanken wieder. Er erinnerte sich daran – jedoch nicht an den Anlass; zwar liebte sie Lyrik, das Land Italien und seine Geschichte und Kultur, aber wahrscheinlich wollte er lediglich vor ihr angeben –, wie er ihr einmal die Schlusszeilen der Göttlichen Komödie vorgetragen hatte, wiewohl ihm die unterschwellige Feierlichkeit der deutschen Übersetzung ein unbestimmtes Unbehagen bereitete. Er erwähnte, er vermute, dass es im Italienischen nicht nur irgendwie besser, sondern angemessener klinge, aber im Gegensatz zu ihr sprach er kein Italienisch. Ein paar Tage darauf fand er auf seinem Kopfkissen eine zweisprachige Ausgabe vor, aus der sie ihm vor dem Einschlafen, nachdem sie sich geliebt hatten, auf Italienisch jene Schlusszeilen vorlas, und wirklich hatten die Worte ihre unangenehme, prätentiöse, liturgisch anmutende Feierlichkeit verloren. Aus Elenas Mund klangen die Worte würdevoll, weise, melodisch, kraftvoll und zärtlich zugleich, und es war in diesem Moment, dass er zum ersten Mal dachte, dass er sie nie mehr würde loslassen können, selbst wenn er dies wollte. –

Nachdem das Licht im Nachbarhaus abrupt erloschen war, wand er seinen Blick wieder dem Sternenhimmel zu und wurde plötzlich von einem Lichtpunkt irritiert, der sich zwar gemächlich, jedoch eindeutig in einer Wellenbahn inmitten der anderen Sterne, denen er in Größe und gleichbleibender Helligkeit völlig glich, bewegte. Er dachte umgehend an ein Flugzeug, wurde dann aber unsicher, da Flugzeuge, die er von seinem Balkon aus am nächtlichen Himmel beobachten konnte, stets als blinkende, vorbeihuschende Objekte erschienen, welche auf dem nahe gelegenen Flugplatz zur Landung ansetzten. In der Regel unterschieden sie sich selbst für ungeübte Augen deutlich von Sternen. Er vermutete dennoch, dass es eine Art von Flugzeug war, vielleicht eine kleine Sportmaschine (bzw. deren Positionslichter), die ganz woanders hinflog und nicht vorhatte, zu landen. Vielleicht war es auch eine Sternschnuppe, sann er wehmütig, gleichzeitig verblüfft darüber, dass ihm dieser Begriff in den Sinn gekommen war, wo er sich darunter doch nichts Konkretes vorstellen konnte und Sternschnuppen für ihn im Grunde immer Teil jener Märchen waren, an die er sich als Erwachsener nur noch vage erinnerte.

In letzter Zeit geschah es häufig, dass er sekundenlang nicht zu sagen vermochte, ob ein Gedanke, der ihm hartnäckig durch den Kopf ging, einem inneren Drang – etwa einer Sorge – oder seinen häufigen Tagträumen entsprang. Es war erstaunlich, dass er so wenig über die Ursache, den Ursprung von Träumen wusste, wo sie ihm doch überaus wichtig waren und er einen nicht geringen Anteil der Inspiration für seine künstlerische Arbeit aus ihnen bezog. Wenn er es recht betrachtete, fand er kein einziges Merkmal, mit Hilfe dessen er in bestimmten Situationen über jeden Zweifel hinaus feststellen konnte, ob er wach war oder träumte, weil die Bilder des Traums und die Erlebnisse und Gedanken seines Wachzustandes sich so sehr ähnelten. Vielleicht, sann er nach, ist es letztlich gar nicht so wichtig, dass man weiß, woher etwas kommt, solange man es nur besitzt, und das Wissen darüber, wo es hergekommen ist, gewinnt erst dann an Bedeutung, wenn man es verliert.

Er hatte einmal gelesen, dass man in einer mondlosen, ansonsten aber klaren Nacht mit bloßem Auge bis zu zweitausend Sterne erkennen kann, welche zum Teil so weit entfernt sind, dass eine Unzahl Jahre vergangen sein mochten, bis uns ihr Licht erreicht; wiederum etliche würden gar nicht mehr existieren, obwohl wir sie noch sehen. Er hatte jedoch den Eindruck gewonnen, dass die Menschen die Sterne gar nicht mehr betrachten, es sei denn aus rein sachlichen, beruflichen Gründen. Stattdessen begnügen sie sich mit dem Blick auf die Apps ihrer Smartphones, welche ihnen wiederum so universell wie unseren Vorfahren der Sternenhimmel erscheinen mochten, und vielleicht, mutmaßte er, werden spätere Generationen das digitale Zeitalter auch als das Zeitalter des Verlustes (oder der Aufgabe) der Träume beurteilen. Der Gedanke kam ihm, dass es nicht nur inspirierend, sondern überdies nützlich sein könnte, mehr über das Universum zu wissen. Er hatte die vage Vorstellung, dass er danach sein Leben mit ein wenig mehr Leichtigkeit und Gelassenheit betrachten könnte, so als würde das Wissen über die Unendlichkeit den Blickwinkel auf das Leben hier unten derart erweitern, dass ihm wenigstens ein Teil der Pflicht erlassen würde, sich eingehender mit jener hiesigen, vergleichsweise armseligen, unbedeutenden Welt zu beschäftigen. Daraus würde mit zwingender Logik folgen, dass man die vollständige Verantwortung für seine Gedanken irgendwie abgeben könnte – eine Schlussfolgerung, die ihn zugleich erheiterte wie beschämte.

Aus einem Impuls heraus versuchte er, das Sternbild der Zwillinge zu finden – in seinen Träumen erschien ihm Elena häufig als einer der Sterne –, bis er sich daran zu erinnern glaubte, dass man dieses in den Sommermonaten optisch nicht ausmachen kann. Er hätte auch gar nicht gewusst, wo es zu finden war. In Wirklichkeit hatte er dies nie gewusst und es auch nie gefunden, obwohl Elena es ihm mehrmals beschrieben und gezeigt hatte, und er erinnerte sich schuldbewusst daran, wie sein Blick mit gespielter Begeisterung ihrer ausgestreckten Hand in Richtung des Nachthimmels gefolgt war und er dabei Fröhlichkeit sowie ein Glücksgefühl vorgab, das er nie länger als für einen Augenblick empfinden konnte, wie sehr er sich auch bemühte.
Seltsam, dachte er: Da studieren die Menschen die Sterne, beobachten, erforschen und vermessen sie, leiten ihr persönliches Geschick und sogar Charaktereigenschaften von ihnen ab, geben ihnen fantasievolle Namen, schreiben Bücher über sie, beten gar zu ihnen – und werden sie doch niemals körperlich erfahren können.

Hier draußen unter dem Sternenhimmel, wenn er derart an Elena dachte, dass er sie wohl nie mehr hätte loslassen können, hätte sie ihn nicht losgelassen, wäre nicht geschehen, was geschehen und unterblieben, was unterblieben ist, war er sich sicher, dass Träume die Wirklichkeit weit besser beschreiben, als es die alltäglichen Sinne vermögen, und dass es wunderliche Dinge gibt, die mit der Nähe verschwimmen und mit der Entfernung wachsen.
Jawohl, er hätte sie wohl nicht mehr loslassen können, aber so, als Stern – nun, das würde angehen.











 



 
Oben Unten