Sternenstaub im Kirschbaum

Thariot

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Im Königreich Begonien herrschte seit zweiundvierzig Jahren, siebzehn Tagen und etwas weniger als drei Stunden der gütige Großherzog Helm-Ranunkel von Lerchensporn, bis just an diesem Tag der morgendliche Gang zum Abort seinem herrschaftlichen Leben jäh ein Ende setzte. Seine Leidenschaft für scharf gewürzte Nachtmahle wurde ihm zum Verhängnis, ein Schicksal, vor dem ihn seine Quacksalber oft, und seit diesem grauenvollen Morgenschiss auch erfolglos, gewarnt hatten.
Sein letzter Furz hallte ehrfurchtgebietend durch die Hallen seines Schlosses, mahnend und erlösend, als verkünde seine Flatulenz einen grandiosen Einzug ins Himmelreich. Seine Diener fanden ihn, wie man ihn auch ansonsten aus der Zeit seiner Regentschaft kannte, würdig aufrecht sitzend, schweigend und mit einem entspannten Lächeln. Er war nie ein Mann großer Worte gewesen.
An diesem Morgen umgab ihn zudem eine passend säuerliche Note aus Ingwer, schwarzen Pfeffer und diesen kleinen, fiesen roten Chilischoten. Die unbeabsichtigte Henkersmahlzeit hatten ihm seine Getreuen am Abend zuvor beim Bankett zu Ehren der angedachten Verlobung seiner Tochter zubereitet, was, nebenbei bemerkt, die abendländische Küche am Hofe zu Lerchensporn über Dekaden in ihren Grundfesten erschüttern sollte.

Die Kunde über das unerwartete Ableben des Landesvaters erreichte Rosenheide bereits kurze Zeit später, was das beschauliche Dorfleben vor den Toren der Fürstenstadt vollständig zum Erliegen brachte. Am Dorfbrunnen bemühten sich zahlreiche Rosenheider Bürger aufgelöst, den Worten des Reiters auf seinem schnaufenden Kaltblut zu folgen. Der Tod des Monarchen war ein nahezu unglaubliches Ereignis und das noch vor der Mittagszeit!
„Unser geliebter Großherzog ist tot!”, rief der Meldereiter mehrfach lautstark über alle Köpfe hinweg, so dass es wirklich niemand gelingen sollte, ihn zu überhören. „Der Großherzog ist tot!”
Bis auf den jungen Musa Rübenkerbel, der in der frühlingshaften Morgensonne die Hiobsbotschaft unter einem Kirschbaum nahe dem Dorfweiher schlichtweg verschlief, was die, die ihn näher kannten kaum überraschen konnte. Musa zeichneten zwei Wesenszüge aus, er liebte diesen Kirschbaum und war vermutlich der minderbegabteste Spruchwirker, der jemals zur Lehre zugelassen worden war. Dass er dennoch die Möglichkeit bekam diesen achtbaren Beruf zu erlernen, lag auch weniger an sonstigen Talenten, als an seiner Tante, der resoluten Lobelie Rübenkerbel. Man munkelte, dass sie sich mit ihrer ganzen Fülle dafür einsetzt haben musste, genug Stimmen in der ehrwürdigen Innung der Spruchwirker für ihr Mündel zu gewinnen. Einige Gemeine sprachen in bierseliger Laune manchmal auch davon, dass weißes Drachenblut durch die Adern seines Urgroßvaters geflossen war! Eine wahrhaft empörende Behauptung, da schon seit mehreren hundert Jahren kein weißer Drache mehr in Begonien gesehen worden war und die ehrenwerte Innung der Spruchwirker auch diese fragwürdigen Begegnungen eher der Sagenwelt zuordnete.
Spruchwirker genossen nichtsdestotrotz in Begonien großes Ansehen, sie waren die Behüter alter Schriften, der Kräuter kundig, durften Ehen schließen und halfen auch den Kühen beim Kalben. Allein die Namensnennung eines Spruchwirkermeisters sorgte stets für ein ehrfürchtiges Raunen, kein Gemeiner hätte es gewagt ihre Worte zu bezweifeln, sie sprachen stets die Wahrheit. Zudem mussten Spruchwirker keine Steuern bezahlen, waren von Frontdiensten freigestellt und wurden in den Dörfern kostenlos mit Speis und Trank versorgt.
Obwohl sich Musa bereits im siebten Lehrjahr befand, blieb ihm die typische Anerkennung eines heranwachsenden Spruchwirkers vorenthalten, was sich vermutlich auch niemals ändern würde. Keiner im Dorf hätte nur einen Silberschilling darauf gegeben, dass er jemals die Prüfung vor der großen Innungskammer bestehen würde. Die öffentliche Meinung über seine Anlagen war dabei durchaus gespalten, die einen befanden, dass er nur zum Schweine hüten tauge und die anderen sprachen ihm selbst diese Befähigung ab.

„MUSA RÜBENKERBEL!” Die Stimme von Tante Lobelie klang nach einer stumpfen Säge, nur lauter.
„Du faules Stück!” Musa befand, dass die bloße Nennung seines Namens und das Andichten ungerechtfertigter Eigenschaften nicht die Mühe wert waren, aufzublicken. Er lag gerade recht gut, schließlich würde sich seine Tante auch später noch hinlänglich über ihn entzürnen können.
„Ich habe dir doch aufgetragen deinen Meister zu rufen. Die fette Sau platzt gleich!” Dabei träumte Musa gerade wieder von seiner baldigen bestandenen Spruchwirkerprüfung und der passenden Feier, die ihm dann zustehen würde, aber ja, seine Tante hatte ihm nach dem Aufstehen aufgetragen, Meister Tulpenmohn zu ihr zu schicken. Sie war auch selbst schuld, wenn er nicht mitten in der Nacht Schweine füttern müsste, brauchte er sich auch nicht mittags von diesen Strapazen erholen.
„Und ich will keins der Ferkel verlieren! Und du? Du faulenzt schon wieder am helllichten Tag! Oh, was habe ich nur bei deiner Erziehung falsch gemacht!"
Musa blieb wenig Zeit über seine berufliche Zukunft oder die Niederkunft der dummen Sau nachzudenken, und noch weniger, um sich vor dem Holzschuh seiner Tante in Sicherheit zu bringen. Er versuchte sich wegzudrehen, blieb aber mit dem Hosenträger am Kirschbaum hängen.
"Aua! Aber ich habe doch nur eine kurze Pause gemacht!", versuchte er strafmildernd für sich einzuwerfen. Sein Rücken schmerzte, die Wucht des Schuhs hätte ausgereicht, um einem ausgewachsenen hyazinthischen Kampfschwein den Schädel zu zertrümmern. Musa hasste Schweine! Egal welche! Nur ein gebratenes Schwein war ein gutes Schwein! Warum musste auch Tante Lobelies fette Sau genau in seiner verdienten Mittagspause ferkeln?
"Los, los, los ... ich werde dir Beine machen!" Tante Lobelie, die Schwester seines Vaters, maß kaum drei Ellen, galt aber unter Männern als respektabler Gegner im Steinstoßen und gehörte als erste Schildträgerin zur Bürgerwehr von Rosenheide. Zwar hatte Musa ihre kompakte Erscheinung geerbt, nur leider weder ihre Kraft, noch ihre Trinkfestigkeit. Zumindest mit seinem Bartflaum glaubte er bereits mithalten zu können, was aber durch seine hellblonden Haare kaum einer wahrnahm.
Er sprang auf und hastete atemlos zum Haus seines Meisters, blieb aber auf halben Weg stehen, um sich von den Beschwerlichkeiten des Marsches zu erholen.
"Los ... ich kann dich noch sehen! Lauf schneller!" Die Stimme von Tante Lobelie hatte auch auf die Entfernung nichts ihrer Bedrohlichkeit eingebüßt. Immer diese Rennerei, sein Bauch störte ihn zusehends, ab morgen gelobte er weniger zu essen. Oder weniger zu laufen, was die bessere Idee war.
Endlich erreichte er die Stube von Frangipani Tulpenmohn, seinem Lehrherrn, Spruchwirkermeister und ehrwürdiges Ratsmitglied der begonischen Innung seiner Zunft. Musa war sich sicher, dass auch Meister Tulpenmohn Angst vor seiner Tante hatte. Niemand wollte sich mit ihr streiten.
"Meister Tulpenmohn?" Niemand antwortete. Musa setzte sich und erholte sich von der Hektik, ein Blick zurück, Tante Lobelie stand immer noch am Kirschbaum und winkte zornerbost.
Zu dieser Tageszeit war sein Meister üblicherweise immer daheim anzutreffen. Doch wo war er nun hin? Ob er wieder nackt in seinem Erdloch saß und den Stimmen der Erde lauschte? Es gab Dinge, die Musa auch nach sieben Lehrjahren nicht verstehen wollte. Um hier alleine herumzustehen hätte sich Musa auch nicht so beeilen müssen, sollte doch die fette Sau selbst hierher laufen, um zu ferkeln.
Aber Schweine rochen anders als Apfelkuchen, schnupperte er da etwa Apfelkuchen? Warmen Apfelkuchen, seine Sinne fühlten sich in andere Sphären versetzt. Alle Pein dieses Tages verflog im Nu. Auf der Fensterbank stand doch tatsächlich ein warmer, duftender und garantiert wohlschmeckender Apfelkuchen. Und zudem völlig herrenlos! Er war sich sicher, dass ihn jemand vergessen hatte. Es wäre doch eine Schande, wenn sich eines dieser dreisten Eichhörnchen, die immer heimtückisch die nahen Bäume belagerten, daran laben würde. Nein, so wahr er Musa Rübenkerbel hieß, zukünftiger Spruchwirkermeister von Rosenheide, allseits respektiert und von den Frauen verehrt, er würde den Apfelkuchen retten, und wenn es das Letzte wäre, was er in seinem Leben tun wollte.
Respektiert und verehrt, wobei, eigentlich wollte er nur, dass ein Mädchen ihn verehrte, Vicia von Lerchensporn, das schönste Mädchen in Begonien und die einzige Tochter des Großherzogs, seine zukünftige Frau, zumindest in seinen Träumen. Sie musste ihn nur noch kennenlernen, was aber bloß eine Frage der Zeit war, wie sollte sie ihm auch widerstehen. Musa hatte sie vor einem Jahr vor dem Palast in Lerchensporn gesehen, ihre roten langen Haare, die Sommersprossen, einfach alles war perfekt an ihr. Sie trug goldene Bänder in den Haaren und ein weißes Kleid schmeichelte ihrer grazilen Figur. Nur ihre Möpse hätten ruhig etwas größer sein dürfen, aber man konnte ja nicht alles haben. Musa befand, dass beide ein sehr schönes Paar abgeben würden. Genüsslich verspeiste er den Apfelkuchen und träumte von Vicia und seiner Herrschaft, er würde der mächtigste Spruchwirker werden, den Begonien jemals erblickt hatte. Den Thron würden sie ihm zu Füßen legen und Prinzessin Vicia würde sich an seine muskulösen Oberarme schmiegen. Der weiße Drache würde ihm dienen und seine Nachfahren würden Musas Heldenlied noch hunderte Jahre an ihre Kinder weitergeben. Alles wäre perfekt!
"Musa, du Einfaltspinsel, wo ist der Apfelkuchen? Hast du etwa wieder ... oh ... na warte!" Meister Tulpenmohn ließ ihm noch nicht einmal die Möglichkeit, eine passende Entschuldigung vorzutragen. Er konnte nicht verstehen, warum ihm stets solche profanen Anschuldigungen angedichtet wurden. Zudem war sein Meister nackt und voller Erde, mit einer Hand kratzte er sich an seinem haarigen Hintern und mit der anderen fuchtelte er wild in der Luft herum. Offensichtlich hatten ihm die Stimmen der Erde wenig Gutes mitgeteilt, was Musa auch nicht überraschte, da sein Meister doch beinahe täglich mit dem Weltuntergang rechnete.
"Hab ich dir nicht verboten meinen Apfelkuchen zu essen!" Sein langer grauer Bart wogte im Schwall üblicher Strafandrohungen, wenig schmeichelhafter Kosenamen und der üblichen Suche nach dem Rohrstock. Er sollte sich lieber etwas anziehen und überhaupt, immer diese Verdächtigungen, schließlich hätte es auch ein Eichhörnchen gewesen sein können.
"Da ist ja sogar noch ein Apfelkuchenfleck an deinem Hemd!" Damit hatten die Eichhörnchen eine Ausrede, Musa brauchte einen anderen Sündenbock.
"Nein, wartet ... das war nicht so ..." Der Junge konnte seinen Satz nicht beenden. Mit einem Rohrstock prügelte Meister Tulpenmohn seinen Lehrling durch die Stube, ohne sich weitere mögliche Schuldige aufzählen zu lassen. Und dabei warteten doch Tante Lobelie und die fette Sau auf Meister Tulpenmohn, mit Panik dachte Musa an die Ferkel, deren Leben er doch retten sollte.
„Meister, Meister, der Großherzog ist tot!”, warf er geistesgegenwärtig ein, der Meldereiter hatte doch eben lautstark diese Kunde verbreitet. Wobei Musa jetzt selbst erst begriff, dass ihr geliebter Fürst gestorben war. Meister Tulpenmohn blickte ihn nur mit starrem Blick an, Musa war selbst überrascht, normalerweise kamen ihm schlagfertige Antworten immer erst, wenn alles vorbei war.
„Musa, das ist das Zeichen. Die Welt wird untergehen! Wir müssen sofort nach Lerchensporn.” Frangipani Tulpenmohn hatte seine Contenance zurückgewonnen und warnte, wie üblich zur Mittagszeit vor der drohenden Apokalypse. Glücklicherweise hatte er mittlerweile seine Robe gefunden, eine dunkelgrüne Meisterrobe der Spruchwirker, mit goldenen Ornamenten, die er persönlich vom Großherzog für seine treuen Dienste verliehen bekommen hatte. Ein wahrhaft beneidenswertes Kleidungsstück, das Musa auch jede Woche zu seiner Tante zu waschen bringen musste.
Seltsamerweise hatte die Meisterrobe plötzlich eine frappierende Ähnlichkeit mit der Schweinedecke, die Tante Lobelie immer den Sauen auf den Buckel legte, damit der Eber auch die richtigen Viecher besprang. Das arme Tier hatte seinen Geruchssinn verloren, ein Problem was seine Tante gewitzt gelöst hatte, inzwischen besprang er alles, was mit einer grünen Decke auf dem Rücken in sein Gatter gescheucht wurde.
„Äh...” Musa konnte sich nicht konzentrieren, ihm kam gerade in den Sinn, dass die Meisterrobe eigentlich anders aussah und überhaupt, sie roch normalerweise auch nicht dermaßen nach geiler Sau.
„MUSA! MEINE ROBE!” Jetzt kamen auch Meister Tulpenmohn Zweifel an seiner Bekleidung, dabei sahen sich die beiden Kleidungstücke auch zum Verwechseln ähnlich. Na gut, bis auf die Flecken und die eine oder andere Bissspur des Ebers. Was konnte der aber auch beißen, wenn er rauschig war. „ICH SCHLAG DICH WINDELWEICH!”
Musa befand nun, dass es besser wäre zu laufen, das Missgeschick mit der Robe und der Schweinedecke würde er unmöglich den Eichhörnchen in die Schuhe schieben können. Er hoffte inständig, dass sich die Meisterrobe nicht dort befand, wo er sie zu wissen glaubte, sonst würde die Welt doch noch untergehen. Zumindest für ihn.

***

Das ist der Beginn der Abenteuer von Musa Rübenkerbel. Euer Feedback ist willkommen!
 



 
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