Stimmen in den Wellen

Markus Veith

Mitglied
Stimmen in den Wellen

Für eine Stadtpflanze wie mich ist Sylt der Name des immer gleichförmigen Fleckens auf dem Heck vieler Autos. Will ich ehrlich sein, muss ich gestehen, dass mir Sylt kaum mehr sagt, als Begriffe wie "Gesellschaftsinsel" und "Ferienwohnungen", "Strandkörbe" und "Prominentenpromenade".
Dabei: Was mich weitaus mehr anspricht, ist der Begriff "Meer"...
Ich war nie auf Sylt. Ich war als Pseudokruppgeplagtes Kind auf Föhr, wo das Meer mich gesund pflegte, mir Herz und Lungen weitete. Jahre später dann auf Norderney. Klassenfahrt. Himmel, was war ich dort verliebt! Rasendes Herz, flatternde Lungen. Zum ersten Mal glücklich unglücklich. Und vielleicht in Folge dessen: Zum ersten Mal glaubte ich Gemurmel zu verstehen, wenn die Bran-dung den Strand salzig leckte.
In meinem Arbeitszimmer hängt ein großes Bild. Eine Jungen-Silhouette steht barfüßig auf Holzpflöcken vor dem frühen Abend des Atlantiks. Dem Meer zugewandt. Die Arme weit ausgebreitet, als wolle er die Flut empfangen. Die untergehende Sonne scheint direkt aus seinem Kindskopf zu strahlen.
Dieser Junge war ich. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit. Ich kann die Kameraklicksekunde noch genau nachempfinden. Nichts mehr hinter mir. Alles vor mir. Brandungsberauschtes Glück strömte mir aus dem Anblick des Meeres in alle Poren.
Das Meer, dieser weite Teppich, auf dem der Blick ruhen kann, sich in Träumen schlafen legt, die von keinem anderen Ort in solcher Intensität zugelassen werden. Und der Strand. Binsengespicktes Hell, muschelgepflastert und seetangbehangen, windgekörnt und spurenverziert. Wo sonst, wenn nicht hier, kommt die Phantastenseele ins Dahintreiben? Wo sonst soll sie die Suche nach den Geschichten beginnen, die noch nicht erzählt worden sind? All die Pionierfiktionen - die es bereits gibt, sicherlich: Irgendwo hinter der blauen Linie, die Träume, Ideen und all jene hirngespinstigen Lügen zulässt, die wir Menschen Literatur nennen?
Um von der Weite der See immer wieder verzaubert zu werden, muss man nicht auf einer Insel oder am Meer geboren worden sein. Vielleicht darf man es gar nicht. Inseln sind die Schönheitsflecke auf der Pudersandhaut dieser Welt. Und sie sind dazu da, entdeckt zu werden. - Oh, entdeckt sind sie alle. Davon darf man überzeugt sein. Aber verstanden sind sie noch nicht.
Die, ach, so erfahrenen Stadtmenschen sagen, ich sei ein Fabelwesen der Unvernunft, ein Draufgeher, ein Senkrechtentarter, ein Wolkenzerkratzer. Mein Kindskopf hört Stimmen in den Wellen. Doch die kreischende Stimme der Stadt hat meine Ohren zugestaubt. Das Meer wird sie mir wieder freiflüstern.

Wie übersetzten sie doch berauscht die Sprache der tidenden Wasser, meine geliebten Brüder mit den Schreibfederseelen? Dante, der die Hölle durchquerte, um den Gestaden des Läuterungsberges zu lauschen. Stevenson, der mit der Ebbe flüchtete und den Schatz entdeckte. Melville, der dem Leviathan huldigte. Hemingway, der mit den Schwertfischen sprach. Ende, der sich neue Inseln ersann. Eco, der die Sintflut begriffen hat. - Ein Narr, der behauptet, das Meer sei stumm. Seine Winde drücken Geschichten in das Land. Ihre Lüfte sind so alt wie die Welt. Die Wasser wissen, wo die Zeiten den Heldentod starben und ihre Spuren vergruben. Kann es denn anders sein: Sie warten doch nur darauf, ihre Geschichten zu erzählen, ihre Weisheit in willige Ohren zu wehen und die Zeiten zu erklären, die sie geflutet haben. Inseln sind umgeben von Sprache. Aus der Brandung brüllen uns die Geschichten zu, erzählt werden zu wollen! Wir müssen sie nur verstehen wollen. Ihren Dialekt in Zeilen übersetzen.
Ich sehe mich in den Dünen sitzen. Brüderschaft trinkend mit den Gezeiten. Auf die Neugier! Bedächtig nippe ich an der Flut, bis sie mir zu Kopfe steigt; philosophiere mit der Ebbe über die Sehnsucht des täglichen Kommen und Gehens. Eine menschliche Antenne. Meine Bleistifthand als Fahrtenschreiber der Poesie. Mit rot gelauschten Ohren. Und Wellenstimmen in meinem Kindskopf.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
donnerwetter!

was für eine wunderschöne geschichte und in so lyrischer sprache! tief beeindruckt verneigt sich
 

Markus Veith

Mitglied
Vielen Dank ...

... für solch einen Lob einer so LL-präsenten 'Platina'. Drück mir die Daumen, daß die Juroren des Inselschreiber-Stipendiums ähnlicher Meinung sind.
Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
 



 
Oben Unten