Strafen Gottes

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Foenix

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„Aufgrund massiver Waldbrände mussten die Bewohner mehrerer Ortschaften in Oberbayern evakuiert wer...“ Noch bevor er den Motor ausstellte, schaltete Ludwig das Radio ab - er wollte die Meldungen nicht mehr hören. Müde zog er das zerknüllte Stofftaschentuch aus seiner Brusttasche und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Als er die Fahrertür öffnete und ausstieg, drückte ihn die Hitze nieder wie ein Mehlsack, den jemand auf seine Schultern geladen hatte.
Er hatte sich die Freiheit genommen, den Ortstermin mit dem Vorstand der hiesigen Bauernschaft noch etwas hinauszuzögern und war zum Friedhof gefahren. Über staubige Sandwege taste er sich vor bis zum Grab mit den Namen „Ottmar“ und „Gisela Semmler“. Hier legte er den schon leicht verwelkten Strauß Gladiolen ab. Die Pollen machten ihm immer noch zu schaffen, nicht mehr so schlimm wie früher, doch ganz ohne Alleovite ging es nicht (trotzdem ein großer Fortschritt gegenüber dem Kortisol seiner Kindheit). Er versuchte auch ein Gebet, still, in seinem Kopf, doch es gelang ihm nicht, noch immer verpassten sich die Wörter, wie Güterzüge, die man aneinander koppeln wollte, obwohl sie auf verschiedenen Gleisen rollten.
Er dachte an Rosemarie. Sie lag nicht hier bei den Eltern. Wer sich selbst richtet, hat das Recht dazu verwirkt, das wussten alle im Dorf, schon immer, in diesem Fall gab es keine zwei Meinungen, nur eine unumstößliche Gewissheit.
Ludwig stieg wieder ein, und der schwarze Mercedes rollte über den dampfenden Asphalt, bog kurz hinter dem Schild am Ortsausgang rechts ab und passierte wenig später das breite, offenstehende Tor zum Erlhammer´schen Hof.

Im Schatten der Platane saß Hubert Erlhammer und erwartete den Beistand aus München. Er war von den hiesigen Bauern dazu auserwählt, den Schafsköpfen aus der Landeshauptstadt klar zu machen, dass dieser Jahrhundertsommer vielleicht in den dortigen Biergärten für steigende Umsätze und gute Laune sorgen könne, hier auf dem Lande dagegen die Hitze einer Strafe Gottes gleichkäme, die nicht durch Gebete gemildert werden könne, sondern nur durch Ausgleichszahlungen für die Ernteausfälle.
Nun beobachtete er, wie sich dieses Gefährt mit den getönten Scheiben in den Schatten vor der Scheune schob wie ein behäbiges Reptil. Dann öffnete sich die Tür auf der Fahrerseite. Den großgewachsenen Mann mit den schütteren Haaren und der kleinen rundgefassten Brille erkannte er fast sofort: Ludwig Semmler, Agrar-Ingenieur im Dienste des Bayerischen Landesministeriums, betrat zum ersten Mal seit 14 Jahren wieder den heimatlichen Boden von Kohlfeld.
Hubert erhob sich mühsam.
„Grüß dich, Ludwig.“
Der Angeredete streckte ihm wortlos die Hand entgegen. Hubert war gespannt, was dabei herauskommen würde, wenn er zum ersten Mal den Mund aufmachte.
„Komm, wir geh´n rein - ´s is kühler da drin.“ Damit drehte er sich um und stapfte die Stufen zur offenen Eingangstür hinauf und durch den langen dunklen Flur bis ins geräumige Wohnzimmer. Ludwig folgte dem rotgefärbten, verschwitzten Stiernacken.
„Magda, machst uns mal zwei Kaffee?“, rief der Hausherr in Richtung einer Tür, hinter der sich wohl die Küche befand. Dann wandte er sich an seinen Gast: „Oder willst lieber was anderes? Wasser? Oder ´n Bier?“ Er empfing das erwartete Kopfschütteln und steuerte den gewaltigen Buchenholz-Esstisch an.
„Setz dich. Wie geht’s dir denn so in München? Bist lang nimmer da g´wesn hier in Kohlfeld.“
Die beiden Männer saßen sich gegenüber und schauten einander schweigend in die Augen. Die Frau kam, setzte das Tablett ab und goss die Tassen voll:
„Mei, is des eine Hitz´.“ Strahlend blaue Augen über Wangen, die vor Anstrengung rot und gesund leuchteten . „Servus, Ludwig. Kennst mi noch?“
„Grü-üß dich, Magda.“ Er nickte ihr mit einem schmalen Lächeln zu.
Sie plapperte weiter, während sie Milchkännchen und Zuckerdose zusammen mit einem Teller voller selbstgebackener Kekse auf den Tisch stellte: „Wohnst direkt in München? Wie isses denn so in der Großstadt? I kann mir des ja net vorstell´n mit so viele Leut´ so eng aufeinand...“
Hubert wurde ungeduldig, er wollte klären, was zu klären war. „Geh, Magda, las uns mal allein, wir müssen was Geschäftliches besprechen.“
Ludwig beobachtete sie aus den Augenwinkeln, sie akzeptierte und ging, ohne beleidigt zu sein. Vermutlich war sie damals erst sechs oder sieben, dachte er. Ob sie sich noch an Rosemarie erinnerte?
„Hast Kariere g´macht in München, hab i g´hört. Na, des sog i meinen Buben auch immer, wenn´s des in der Schul´ schleifen lass´n: Mit Fleiß kann ma alles erreichen – auch, wenn die Bedingungen net so rosig san.“ Hubert blickte dabei in seine Kaffeetasse, vermied Blickkontakt, lauschte dem Echo seiner Worte nach, aber da kam nichts, Ludwig blieb stumm.

Ein Junge stürmte herein und blieb erschrocken stehen, als er die Männer bemerkte.
„Ah, schau, des is der Tommy“, sagte Hubert und grinste stolz. Der Junge reichte Ludwig zögernd die Hand.
„Wo is denn der Micha?“
„Wois i net – i glaub, der is mit der Gudrun zum See schwimmen.“ Der Papa grunzte unwillig und der Sohn verschwand im Flur.
„Na, ich hoff´, der Große macht kei´ Dummheiten. ´ne Schwangerschaft wär´ wirklich des letzte, was mer brauchen könnt.“
Ludwig öffnete leicht seine Lippen, sagte aber nichts.
Hubert schnaubte durch die Nase. „Na, wenn i dran denk, was i in dem Alter getrieb´n hab.“
Auf Ludwigs Stirn erschien eine kaum sichtbare Falte: „Wie a-alt sind deine Söhne?“
„Der Micha wird 16 und der Thomas is jetzt 11.“

11 – die Zahl gab ihm einen kleinen Stich. Er wischte den Gedanken beiseite und sah seinen Gegenüber erwartungsvoll an.
Hubert räusperte sich: „Also, Ludwig, die Sache is so, wie ich schon mehrfach ans Ministerium geschrieben hab: wir kämpfen hier wirklich um unsere Existenz. Die Hitze hat schon 60 Prozent vom Mais verbrannt und... ich bin davon auch ganz persönlich betroffen, weil ja meine Felder... und die in Brüssel wissen ja eh nicht, wie der Hase läuft...“
Weiter und weiter mäanderte der Monolog und Ludwig tat, als hörte er zu. Dabei versuchte er eine Verbindung herzustellen zwischen diesem freundlichen, feisten und etwas einfältig wirkenden Bauern und den Bildern aus jenem Sommer von vor 20 Jahren.
Eine halben Stunde hielt er aus, dann hatte er genug. Er entschuldigte sich, dass er nicht noch zum Essen bleiben könne („Muss noch andere Gemeinden aufsuchen und dann noch der Bericht...“) und brach auf.
Nach einer Viertelstunde Fahrt im klimatisierten Benz erreichte er den Friedhof von Enzingen. Hier setzte er sich auf eine Bank gegenüber von Rosemaries Grab und holte die Vergangenheit in die Gegenwart zurück:

„Ob Gott das gewollt hat?“, dachte der elfjährige Junge, während er den dumpfen Glockenschlägen entgegen strebte, welche die Bürger von Kohlfeld in Richtung Dorfkirche trieben.
Er rannte in den brüchigen Ledersandalen, die schon sein älterer Bruder Gerd getragen hatte bis sie ihm zu klein geworden waren, den staubigen Weg an den Gerstenfeldern entlang. Das rot-weiß karierte Hemd klebte an Brust, Schultern und Rücken des schmächtigen Jungen. Er keuchte gegen den Heuschnupfen an und seine Wangen glühten - rot von der Hitze und den unglaublichen Bildern, die in seinem Kopf ein Eigenleben führten. Wie ein Daumenkino prasselten sie wieder und wieder auf sein inneres Auge ein: Huberts nackter schweißglänzender Arsch unterm fleckigen Unterhemd, das Gesicht von Rosemarie, von Huberts behaarter Schulter halb verdeckt; ihre zusammengekniffenen Augen, die sie immer wieder aufriss und panisch umherschweifen ließ, so dass Ludwig sich schon von ihr entdeckt glaubte.
Doch dann erlosch der Blick wieder und ihr Mund stieß piepsende Laute hervor, die Ludwig an das Pfeifen von Hundewelpen denken ließ.
„Das war nicht richtig, was ich da gesehen habe.“ Was er gesehen hatte, verstand er nicht. Wieso lag der Erlhammer Hubert auf seiner Schwester, halb ausgezogen, mit herabgelassener Unterhose? Ludwig ahnte, dass er das beichten musste, was er dort durch den Türspalt von der Küche zum Wohnzimmer bezeugt hatte, während seine Eltern auf dem Feld waren und der Gerd die Milchkannen mit dem Bollerwagen zum Nachbarhof zog. Und dann wusste er, dass er es nicht würde sagen können. Er hatte keine Worte dafür und die Worte, die er hatte, langten nicht hin um das Gesehene zu beschreiben.

Es war an diesem Sonntag im August, als Ludwig zum ersten Mal im Beichtstuhl keinen geraden Satz herausbrachte. Die Worte stolperten und stürzten ihm von der Zunge über die Lippen wie ein Gebirgsbach nach der Schneeschmelze. „Ludwig, reiß dich zusammen, was ist denn mit Dir?“ zischte ihm der Pastor zu. Ludwig nahm einen neuen Anlauf, doch wieder krachten die Laute in seinem Mund gegeneinander wie Würfel im Becher. Der Arsch vom Erlhammer und die Augen von der Rosemarie wollten sich nicht zu einem Satz vereinigen lassen, die Vokale stießen heftig aneinander und polterten wie eine Lawine auf den Boden des Beichtstuhls. Nach einem weiteren Versuch gebot ihm der Pastor Einhalt und entließ ihn mit drei „Vater unser“ in die flimmernde Mittagsglut. Er rannte in den Aschersweiler Tannenwald und versuchte dort, seine Gebete loszuwerden, allein, das tägliche Brot ließ sich nicht von seinen Lippen formen und das unverständliche „Geheiligt werde dein Name“ erlöste ihn nicht von dem Bösen.

Von da an sprach er kaum noch und schlich von nun an als stiller Beobachter durch sein kleines Leben. Mit dem aufmerksamen Blick des Bruders, der durch die große Schwester etwas über das Leben der Erwachsenen erfahren will, bemerkte Ludwig, wie Rosemarie sich veränderte: sie wurde blass und schaute mit nervösen, hektisch flackernden Augen in die Welt wie ein Kaninchen auf der Flucht. Und dann verschwand sie, angeblich um im Nachbardorf eine Ausbildung anzufangen.

In den Wochen danach mussten die Eltern, die Lehrer und Klassenkameraden und überhaupt alle Kohlfelder und auch Ludwig selbst lernen, dass von ihm fortan kein verständlicher Satz mehr zu erwarten war. Sein Vater ließ sich von dessen Bruder, Ludwigs Onkel Richard, überzeugen, dass es sich bei der Stotterei lediglich um eine Trotzreaktion des früh pubertierenden Sohnes handeln könne, die mit einer kräftigen Tracht Prügel wohl rasch zu kurieren sei. Schließlich warf sich die Mutter schreiend und heulend dazwischen und verhinderte so, dass die Therapie für Ludwig mit einer Einweisung ins Kreiskrankenhaus endete – das Stottern freilich blieb ihm erhalten und in den folgenden Jahren hatte es Ludwig nur seinen auffallend guten Leistungen im Malen und Zeichnen sowie seiner schönen Schrift zu verdanken, dass er die Schule und kurz darauf auch Kohlfeld mit einem Abschlusszeugnis in Richtung München verlassen konnte.



Die Glockenschläge der Enzinger Dorfkirche rissen den erwachsenen Ludwig Semmler vom Landwirtschaftsministerium aus seinen Gedanken. Er stand auf und ging zurück zum Wagen. Als er den Motor anließ, verlautbarte das Radio ungefragt: „...die weiteren, für die Landwirte leider wenig erfreulichen Aussichten: auch in den nächsten Tagen sonnig und bis zu 32 Grad. Weiterhin kein Regen in Sicht.“ Auf der Fahrt überlegte er, was er in den Bericht über Kohlfeld schreiben würde: Dass dieser Ort Hilfe brauchte, stand für ihn außer Frage.
 



 
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