Strandübergang 22

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen
Strandübergang 22


„Das darfst du nicht.“

„Egal.“

„Nachts schwimmen ist verboten.“

„Nicht für mich.“

„Aber Papa und Mama haben gesagt, sie verlassen sich auf uns, außerdem sollst du auf mich aufpassen, bis sie vom Essen wiederkommen.

„Mach‘ ich doch.“

„Aber nicht, wenn du mich hier allein lässt.“

„Hosenschisser.“

„Bin ich nicht.“ Tims Stimme klang piepsig wie immer, wenn er Angst hatte.

„Doch, du bist `n echtes Baby.“

„Ich will mit.“

Tim saß im Schlafanzug, die Hände unter die Oberschenkel geschoben, auf der Bettkannte. Ben, in Jeans, Kapuzenjacke und zusammengerolltem Handtuch, stand schon an der Tür. Er drückte die Türklinke herunter.

„Bitte Ben, ich stör’ auch nicht.“

„Also gut, ich gebe dir eine Minute.“

„Ehrlich?“ Tim sprang auf, stieg in Windeseile von der Schlafanzughose in seine Shorts um, verhedderte sich in seinem Pullover und lief dann mit einem irgendwie halb übergestreiften Pullover zur Tür.

Zwei Minuten später verließen die beiden das Ferienhaus und liefen im Mondlicht die kleine Straße hinunter zum Strandübergang 22. Dort war die Surf-Schule, wo am Nachmittag nach dem Wellenreiter-Kurs Emily vor Ben gestanden und gefragt hatte: „Kommst du auch?“ Dabei hatte sie auf das Plakat an der Bretterwand gezeigt: „Lagerfeuer am Strand, für alle ab 16 Jahre“. Wie eine Wassernixe stand sie vor ihm, lange, nasse Haarsträhnen, grüne Augen und ein türkiser Badeanzug. Sie war ein bisschen größer als er, aber bestimmt noch keine sechzehn. Er selbst war dreizehn und kam sich vor wie ein Fisch, der nach Luft schnappte. „Klar“ bekam er gerade noch heraus.

Seitdem hatte Ben Herzklopfen. Und nun musste er seinen kleinen Bruder mitnehmen. Ben eilte die Holztreppen hoch, immer zwei Stufen auf einmal. Tim musste sich sehr anstrengen, um mitzuhalten. Oben beim Dünenübergang fuhr ihnen der Wind in die Haare und das Rauschen der Wellen in die Ohren. Für einen Moment blieben sie stehen. Der Mond spiegelte sich auf dem Wasser und Ben entdeckte am Strand unten das Lagerfeuer und einige Schatten. „Da sind sie ja.“

Er schaute Tim kurz an: „Wehe du nervst.“ Und schon war er auf dem Weg zu den Gitarrenklängen und dem Stockbrotduft.

„Nein, mach ich nicht.“ Tim schüttelte heftig den Kopf und lief Ben langsam hinterher. Der Sand war kalt unter seinen nackten Füßen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Schuhe noch im Flur des Ferienhauses standen.

Ben erreichte die Feuerstelle. Dort saß ein Dutzend Jugendliche zusammen mit Simon, dem Surf-Lehrer, im Kreis um die Flammen. Simon zupfte die Saiten seiner Gitarre. Er sah Bens Zögern: „16?“ Er lachte und nickte zu Emily hin.

„Da bist du ja. Ich dachte schon, du kommst nicht.“ Emily winkte ihm und rutschte einladend zur Seite. Ben setzte sich zu ihr auf das Handtuch. Emily drückte ihm einen Stock mit gerolltem Hefeteig in die Hand und Ben hielt ihn über die ersten Glutstellen. Dabei sah er in die Flammen, aus denen Funken, wie kleine Blitze in den Himmel sprühten. Das Holz knackte. Als Simon einen Song anstimmte, sangen einige leise mit.

Hier neben Emily sitzen und in die Flammen schauen. Warme Füße, warmes Gesicht und das Meer im Rücken, das fühlte sich so gut an. Ben tauchte ganz ein in diese Wärme.

Als ein paar der Älteren zusammen mit Simon und ihren Brettern lachend ins Wasser sprangen, blieben er und Emily sitzen. „Ich darf nicht, meine Eltern haben mir nur den Strand erlaubt, und auch nur bis halb elf. Ich muss gleich los.“ Sie schaute im Schein der Flammen auf ihr Handy.

Ben tauchte etwas benebelt wieder auf in die Gegenwart. Im nächsten Moment durchschoss es ihn glühend heiß: Tim!!! Er sprang auf und sah sich um, lief ein paar Schritte vom Feuer weg über den Strand.

„Tim!“ rief er erst leise, dann lauter.

„Tim, Timiiii!“ Jetzt schrie Ben, seine Stimme überschlug sich, sein Herz raste.

„Wer ist Tim?“ Emily hatte ihn eingeholt und lief neben ihm her.

„Mein kleiner Bruder. Ich habe ihn völlig vergessen.“

„Du hast ihn vergessen? Wo denn?“

„Keine Ahnung, wo.“ Ben blieb stehen und sah aufs Wasser. „Er kann noch gar nicht richtig schwimmen.“ Sein ganzer Körper spannte sich an. Er war wie gelähmt. Eine solche Angst hatte er noch nie gehabt.

„Ich hole Simon.“ Emily rannte zurück.

Einen Augenblick später stand Simon tropfnass vor Ben: „Was hat du dir denn dabei gedacht?“

„Gar nichts, ich habe ihn einfach vergessen.“ Bens Unterlippe zitterte und Tränen stiegen ihm in die Augen.

„Hey, wir finden ihn. Ganz bestimmt.“ Simon legte einen Arm um Bens Schultern, drückte ihn einmal fest an sich und lief dann hinüber zu den andern. Blitzschnell pfiff er die anderen aus dem Wasser und organisierte den „Suchtrupp-Timi-Alarm“. Immer zu zweit liefen nun nasse vor Kälte zitternde Jugendliche, den Strand ab, die einen links am Wasser entlang, die anderen rechts. Die Treppen hoch und wieder runter. Den Holzsteg in die Dünen hinein und wieder heraus. „Tim, Tim!“ Der Wind trug den Namen in alle Richtungen.

„Vielleicht ist er ja nach Hause gelaufen, was denkst du?“ Simon sah Ben an. Ben schüttelte den Kopf, das würde Timi niemals tun. Wären sie doch nie an den Strand gegangen!

„Und wenn ...,“ Simon erstarrte. Scheinwerferlichter näherten sich und ein Pickup mit Blaulicht auf dem Dach, ohne Sirene fuhr durch den Sand auf sie zu. Mist, die Polizei. Das würde ihn seine Lizenz als Surflehrer kosten, schoss es Simon durch den Kopf. Der Wagen hielt und zwei uniformiert Einsatzkräfte stiegen aus.

„Simon, aha. Ich dachte wir hätten das geklärt. Keine nächtlichen Aktionen am Strand ohne Anmeldung.“ Simon hatte keine Wahl. Jetzt ging es nur um Tim. Ohne Ausrede informierte er die beiden. Es folgte ein Knopfdruck auf das Funkgerät am Schultergurt.

„Strandübergang 22, ein vermisstes Kind, wir brauchen mehr Leute, ein Boot und Scheinwerfer…“

Nachdem Ben ihn stehen gelassen hatte, hatte Tim sich nicht zu den anderen ans Feuer getraut. Stattdessen war er auf das Podest an der Surf-Bude geklettert. Hier kauerte er sich mit hochgezogen Beinen an die Bretterwand und schaute sehnsüchtig zu den anderen hinüber. „Ben ist manchmal richtig gemein“, dachte er. Andererseits war es sehr aufregend, so spät noch am Strand zu sein. Nach einer Weile wurde ihm kalt und er kroch unter eine Segelplane. Das war gemütlich, dazu das Rauschen von Wellen und Wind, dazwischen Gitarrenklänge und Gelächter. Ein paar Minuten später fielen ihm die Augen zu.

„Tim, Timiii!“ Der Wind trug seinen Namen bis hinein in seine Träume. Und dann kamen die Stimmen so nah, dass er doch wach wurde. Er streckte sich auf den sandigen Holzbohlen und kroch unter der Plane hervor. Jetzt erkannte er klar Bens Stimme zwischen den Rufen. „Vielleicht darf ich jetzt doch mit am Feuer sitzen. Das wäre schön“, überlegte er und stand auf. Er zitterte ein bisschen vor Kälte, als er das Podest herunter kletterte und durch den Sand Richtung Feuer stolperte.

Emily sah ihn zuerst. „Da ist er!“ Sie streckte ihren Arm aus.

Bens Blick folgte der Verlängerung ihres Arms, dann sah er ihn auch. Eine kleine vor Kälte schlotternde Gestalt in kurzer Hose.

Für einen Moment wankte der Boden unter seinen Füßen. Er war noch nie in seinem Leben so froh gewesen, seinen kleinen Bruder zu sehen. Zwei Tränen liefen ihm über die Wangen. Ben rannte auf Tim zu und schloss ihn in die Arme. Ganz fest. Sprechen konnte er nicht.

„Mir ist so kalt“, bibberte Tim. Ben ließ ihn los, zog seinen Pullover aus und stülpte ihn Tim über den Kopf.

„Hey, kommt zu uns, ein bisschen aufwärmen“, rief Simon ihnen zu, der inzwischen mit den Polizisten und den anderen am Feuer stand.

„Das ist ja noch mal gutgegangen. Wir haben den Hilfstrupp wieder abgeblasen. Wir wollen Simon und euch nicht den Spaß verderben, aber euch ist schon klar, das nächtliches Schwimmen lebensgefährlich ist.“ Die Polizisten schauten in die Runde.

Schweigen und betretende Blicke in die Glut. „Ihr habt die Wahl, eine Anzeige oder wir sehen euch alle morgen früh um 8:00 Uhr, hier am Strand. Einsatz für die Allgemeinheit. Das heißt Müll sammeln, Strand aufräumen und ab 10 Uhr gebt ihr den jüngsten Urlaubsgästen Schwimmunterricht. Simon, ich verlasse mich auf dich und deine Truppe. Wir kommen hier in einer Stunde noch mal vorbei. Und dann seid ihr verschwunden.“

Simon nickte erleichtert. „Klar, kein Problem.“ Die Rückscheinwerfer des Polizeiautos entfernten sich.

Danach setzte das Leben wieder ein. Simon gab Tim einen Rest Stockbrot und sah Ben dabei an. „Nur noch 10 Minuten klar?“ Dann griff er zu seiner Gitarre und rief in die Runde: „Ihr habt es gehört, das ist der Abschluss Song für heute.“ Ben legte seinen Arm fest um Tims Schultern.

„Sehen wir uns morgen?“ Ben hatte Emily ganz vergessen, die jetzt neben ihm stand. Ihre Augen schimmerten im Feuerschein.

“Emily. Ja, ja bis morgen, und danke.“

Kurz danach liefen die beiden Brüder zurück zum Ferienhaus.

„Das war schön. Zuerst nicht, da warst du so gemein. Aber später am Feuer war es toll.“

Ben hörte Tim neben sich plappern und die letzten Tropfen seiner Angst flossen aus ihm heraus und machten Platz für sein warmes klopfendes Bruderherz. Sie erreichten das Ferienhaus.

„Ben. Tim. Wo kommt ihr denn her?“ Mama und Papa kamen von der anderen Straßenseite auf sie zu. Erschrocken blieben die beiden Jungen stehen. Im Licht der Laterne wurden sie von vier Elternaugen unter zusammengezogenen Augenbrauen gemustert.

„Ich, wir …“ Ben trat von einem Fuß auf den anderen, holte tief Luft und dann übernahm Tim: „Ich wollte so gerne eine Nachtwanderung machen und habe Ben überredet, mit mir rauszugehen. Er wollte gar nicht.“

Ben spürte, wie sich Tims kleine Hand in seine schob.

„Abmarsch ins Bett, wir reden morgen.“ Ihr Vater schob sie durch das Gartentor.

„Was riecht denn hier so verkohlt?“ Mama schnüffelte im Hausflur an ihren Köpfen herum. „Und wieso stehen Tims Schuhe hier. Bist du etwa barfuß los?“

Lachend stürmten die Jungen in ihr Zimmer.

Ben lag noch eine Weile wach. Er hörte Tim im Schlaf leise schnarchen, was für ein beruhigendes Geräusch.
 

molly

Mitglied
Hallo Birgit Sonnberger,

Deine Geschichte gefällt mir gut, spannend schilderst Du, wie an diesem Abend die Brüder begreifen, was Verantwortung und Zusammenhalt bedeuten. Doch fehlt mir am Anfang eine kleine Einleitung. Wenn ich Deine Geschichte erzähle, würde ich einen Satz vor dem Streitgespräch vorraus schicken. Aber das ist nur meine Meinung-

Freundliche Grüße
molly
 

petrasmiles

Mitglied
Mhm, ich fand' gerade dieses Unmittelbare gut - man ist sofort mitten in der Geschichte - und so kurz, wie die ausgetauschten Sätze sind, hat man direkt ein Bild vor Augen und wird quasi reingeführt. Es ist allenfalls optisch gewöhnungsbedürftig. Gut, dass man über soetwas nicht abstimmen muss - und jeder seine eigene Geschichte liest.

Liebe Grüße
Petra
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Birgit,
eine schöne Geschichte. Du hast gut getroffen, wie man in dem Alter tickt.

Ich finde auch deinen Einstieg klasse.
„Das darfst du nicht.“
Das ist kurz, einfach, aber verspricht so viel. Verbotenes ist ja immer besonders spannend.

Ich würde die Leerzeilen nach jedem Absatz noch rausnehmen. Die schleichen sich rein, wenn man einen Text aus einem anderen Programm in die Leselupe kopiert. Beim Lesen stören sie dann aber etwas.

Viele Grüße
lietzensee
 
Hallo,
ja so unterschiedlich wirkt der Einstieg.
Ich denke auch, dass das Verbotene lockt weiter zu lesen.
Ich freue mich über die Rückmeldung und die Tips.
Beste Abendgrüße
Birgit
 



 
Oben Unten