Studenten Fortsetzung und Schluss des Romans: Im falschen Geschlecht

Ruedipferd

Mitglied
8.Teil

Studenten



Tina kehrte zurück. Leicht geschminkt, schimmerten ihre Lippen silbrig und betonten einen sinnlichen Mund. Wie erwartet schob sie sich zwischen Andy und Tom, küsste ihren Mann und wandte sich dem Ziel ihres Interesses zu. Ich schmunzelte und blickte zu Tom. Der verstand, wir tauschten die Plätze. Ein anregendes Gespräch schloss sich an.

Irgendwann spürte ich das Bier in meiner Blase und stand auf. Dabei berührte ich versehentlich Toms Hand. Oder auch nicht? Er gefiel mir und ich war gespannt darauf, wie seine Männlichkeit gebaut sein würde. Tom kam mir hinterher. Tina und Andy flirteten ungeniert weiter miteinander.

„Kennst du dich schon aus?“, fragte Tom. Ich drehte mich zu ihm und schüttelte den Kopf. Er fasste mich an die Hand und ließ mich nicht mehr los.

„Hier sind die normalen Klos. Sie sind für Touristen gedacht und nur für biologische Geschlechter eingerichtet. Wir gehen durch diese Tür.“ Er schob mich zu einem Treppenaufgang, auf dem das Wort ‚Privat‘ stand.

Eine dunkelrote schwülstige Tapete empfing uns. Die Toiletten teilten sich ebenfalls für Männlein und Weiblein auf.

„Möchtest du für die Mädchen oder für die Jungen?“

Natürlich ging ich in die Knabentoilette, ich war nun selbst in meiner schwulen Rolle alles andere als weiblich. Das wäre ja noch schöner. Dann hätte ich mich nicht operieren lassen brauchen! Tom stellte sich neben mich ans Becken. Ich riskierte einen Blick auf seine Männlichkeit. Er war sehr gut gebaut. „Was ist das? Bist du Trans?“, fragte er mich überrascht. Ich erzählte ihm von meiner OP. „Das stört mich nicht. Durch Tina bin ich es gewohnt, mit einem Jungen anderer Art zusammen zu sein“, meinte er und führte mich in einen dunklen Raum, in dem er das Licht an knipste. Die Wände waren schwarz, ein überdimensionales Bett mit Vorrichtungen für Ketten stand in der Mitte. „Hier werden SM Spiele abgehalten“, erzählte Tom. Die Latexkissen auf dem Bett hoben sich knallig rot ab. Tom zeigte mir zwei weitere Räumlichkeiten, die für besondere Vorlieben genutzt werden konnten. Wir kehrten zurück an unsere Getränke. Nach und nach füllte sich das Lokal. Viele Männer saßen in den Nischen. Einige blickten neugierig zu uns. Tina entschuldigte sich. Andy auch. Beide verschwanden in Richtung Klo. Was das hieß, brauchte mir niemand zu erklären. Andy würde in Kürze eine ebenso detaillierte Einweisung in die Örtlichkeiten erhalten wie ich. Tina war ganz sein Geschmack. Bei ihr konnte er seine heterosexuelle Begierde ausleben, ohne vor einer biologischen Frau Angst haben zu müssen. Es dauerte etwas länger, bis die beiden wieder bei uns am Tisch saßen. Ich hatte immer mal wieder auf die Uhr geschaut.

Morgen früh fand um zehn Uhr die Begrüßung der Erstsemester statt. Da bestand Anwesenheitspflicht, wir wurden namentlich aufgerufen. Es war zwei Uhr durch. Wenn wir einigermaßen ausgeruht im Audimax sein wollten, sollten wir uns langsam nach Hause begeben. Andy nickte, als ich mit ihm darüber sprach. Wir verabschiedeten uns von unseren neuen Bekannten und winkten Alois zu. Draußen standen einige Taxen. Ich hatte keine Lust mehr zu laufen. Das Studenten ein Taxi nahmen, kam in München nicht so häufig vor. Aber wir hatten Geld genug. Ich knuffte Andy. Jacob lag schon im Bett, als wir zu Hause eintrafen, doch er schlief noch nicht. Er stand vorwurfsvoll wie eine Mutter in seiner Zimmertür, als wir in die Wohnung kamen.

„Eh, Leute, morgen früh haben wir um zehn Uhr Einführung, schon vergessen?“

„Reg dich ab, Mama, wir gehen jetzt schlafen und ich stell den Wecker. Es war geil, aber du als hetero willst sicher gar nichts über das Münchner Schwulenleben wissen. Hast du deine Kleine schon gevögelt?“

Jacob sah mich grinsend an, sagte „Arschloch!“, und verschwand wieder in seinem Bett.

Um acht Uhr rasselte mein Wecker. Die Sonne schien. Mein erster Weg führte an den Kühlschrank. Eier und Toast waren reichlich vorhanden. Jacob wackelte in die Küche, griff sich die Kaffeekanne und schaffte es irgendwie die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Andy duschte. Ich deckte zusammen mit unserem zweiten Sklaven namens Jacob den Tisch. Seine Majestät kam herein, fragte nach dem Schinken und schimpfte, dass er sich diesen selbst aus dem Kühlschrank nehmen musste. Ich ging ebenfalls duschen, Jacob folgte. Irgendwie lief alles wie am Schnürchen. Morgen könnten wir mal auf der Dachterrasse decken, dachte ich. Als ich in der Küche saß, stand Andy am Herd und haute die Eier in die Pfanne. Mit dieser Arbeitsteilung konnten wir zufrieden sein.

Pünktlich um halb zehn Uhr begann der Ernst des Lebens für die drei frisch gebackenen Studenten. Ja, man konnte nicht nur von Liebe und Sex existieren. Schade, dachte ich. Aber es würde sicher genügend Zeit bleiben, um alle unsere besonderen Bedürfnisse zu befriedigen. Ich las laut meine Mails vor, während wir zur Uni spazierten. Hubertus, Conny und Rene wünschten uns Glück und reichlich Potenz. Beatrix schickte zur Bekräftigung ihrer Wünsche ein heißes Bild. So ein Luder!

Im Audimax füllten sich die Plätze. Wir saßen gewohnheitsmäßig etwas weiter hinten. Der Dekan kam herein und begrüßte uns. Nach und nach wurden wir mit einem lustig-ernsten Vortrag durch unser künftiges Studentenleben geführt. Trotz meiner guten Schulnoten machte ich mir einige Sorgen, wie die Prüfungen an einer Hochschule ablaufen würden. Vater und Mutter erwarteten gute Leistungen von mir, das war klar. Üblicherweise stellten die Grafen von Wildenstein stets die Elite der Universitätsabgänger und deshalb baute sich ein ziemlicher Druck bei mir auf.

Während des Essens in der Mensa kam ein älterer Mann auf mich zu. Er stellte sich als Professor Moritz von Tannen vor und erzählte, mein Vater wäre einer seiner Studenten gewesen, als er noch an der Uni lehrte. Er sprach in sehr hohen Tönen von meinem alten Herrn, so dass ich mich fragte, ob der Herr Professor nicht vielleicht den falschen jungen Grafen von Wildenstein angesprochen hatte. Nein, das war nicht der Fall. Er wünschte mir alles Gute, ich solle meinen Vater grüßen und bot mir seine Hilfe bei Fragen und Problemen an. Gut, ich bedankte mich höflich. Andy und Jacob katzbuckelten vor mir. Herr Graf hier, Herr Graf da. Irgendwann wurde mir ihr Eifer zu bunt und ich beendete den Blödsinn.

Maja erschien am späten Nachmittag bei uns in der Wohnung. Sie nahm Jacob lächelnd den Staubsauger aus der Hand und half ihm sein Zimmer aufzuräumen. Wie machte der Typ das nur? Vielleicht hätte ich Jenny dazu bewegen können den Haushalt zu übernehmen, wenn sie hier wäre. Eigentlich könnten wir in Erwägung ziehen, sie im nächsten Jahr in München Tiermedizin studieren zu lassen. Maja hatte eine Freundin im Schlepptau, die sich sehr interessiert umsah. Ich musste die beiden aufklären. Jenny forderte leider ihren Tribut. Ich war so gut wie verlobt und Andy? fragten sie. Ja, sie könnte es mal versuchen, aber der Erfolg war wohl mäßig. Andy stand mehr auf Leute mit Schwanz und damit konnte sie nicht dienen. Traurig verabschiedete sie sich von uns. Nun, Maja hatte ihren Jacob fest an der Angel. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Für mich gab es in München keine Ausflüge in die Damenwelt. Das würde mir sehr schlecht bekommen. Jenny besaß überall Verbindungen und ließ ihre Spione für sich arbeiten. Vielleicht war Grit, so hieß die Unglückliche, schon so ein Teil dieser Untergrundorganisation gewesen. Ich tat gut daran, alle Versuche liebestoller Frauen abzuwehren. Mein Weg führte zu Alois in die Schwulenkneipe. Die nächsten Wochen vergingen rasch. Ich musste viel lernen und saß oft bis mitten in der Nacht am PC. Am Wochenende amüsierten sich Andy und ich bei Alois. Der Dresscode Abend war supergeil verlaufen. Wir hatten viele Leute aus der Szene kennengelernt. Ich durfte als SM-Sub herhalten und mein Erfahrungsschatz auf dem Gebiet wuchs. Es waren ältere Studenten darunter, die wir hin und wieder zum Essen in der Mensa trafen. Schulisch versuchte ich Informationen zu sammeln und ließ mir von den alteingesessenen höheren Semestern gerne helfen.

Mitte November stand unser Transkidtreffen in Hamburg an. Am Freitag flogen wir zu dritt los. Andy und Jacob wollten unbedingt mit. Letzterer riskierte sogar den ersten ‚Ehestreit‘. Aber seine Geliebte lenkte ein, nachdem sie selbst eine schöne Abwechslung fürs einsame Weekend gefunden hatte. Wir geilten uns während des Flugs gegenseitig auf. Rene und Conny standen am Flughafen. Das Begrüßungskomitee jubelte uns zu, als wir aus der Ankunftshalle kamen. Wir sollten erst am Samstagmittag beim Doc im Hotel sein und konnten uns auf diese Weise zunächst mit unseren Freunden treffen. Conny wollte sich gleich um Jacob und Andy kümmern. Ich sah Rene aus dem Augenwinkel an. Na, da hätte Maja ihren Jacob wohl besser nicht fliegen lassen sollen, dachten wir beide zur selben Zeit und grinsten. Andy wird sicher bei Kurt in der Bar unterkommen. Er machte schon während des Flugs Andeutungen, dass er den Abend über bei Kurt etwas Taschengeld verdienen konnte. Conny zeigte ihm, wo das Bier stand und wie er die Getränke aufzufüllen hatte. Babs freute sich über die unerwartete Hilfe. Sie und Sina bedienten die Gäste. Oft tranken die sehr viel und die Bierfässer mussten ausgetauscht werden. Das war Männerarbeit. Conny freute sich, den Job für zwei Tage an Andy abzugeben.

Am nächsten Tag gab es für Rene und mich eine herzliche Begrüßung beim Doc. Frau Wagner war da und wollte wissen, wie es uns ging. Sie hatte bereits am Vormittag alle rechtlichen Probleme mit den Jungs durchgearbeitet. Was für ein schönes Gefühl, sie und den Doc wiederzusehen. Ohne die beiden wären wir sicher nicht hier. Vor allem Doktor Reimers hatten wir unser jetziges Leben in unserem gefühlten Geschlecht zu verdanken.

Wir saßen allerdings nur mit den Jungen in einer Runde. Die Einrichtung des Seminarraumes hatte sich seit dem letzten Jahr nicht verändert. Fünf Augenpaare schauten uns neugierig an. Es waren einige abgesprungen, so dass sich die Gruppe verkleinert hatte. Für mich war das kein Problem, im Gegenteil. So konnten wir uns mit jedem sehr viel intensiver befassen. Der Doc hielt seine Ansprache und stellte uns vor.

„Ja, ich grüße euch. Die beiden jungen Herren sind Max und Rene, die ich seit einer Ewigkeit begleite. Sie wurden vor knapp vier Monaten operiert. Im Frühjahr wird die Erektionshilfe eingesetzt und ein Hodenersatz geformt.“

Er wandte sich an uns. „Ich möchte euch zwei einfach bitten, kurz etwas von euch und eurem Leben zu erzählen. Bitte bezieht noch keine OP Einzelheiten ein, das machen wir später. Es gibt bis zur OP immer noch den Weg zurück ins biologische Geschlecht, den gerade zwei meiner jungen Patienten gehen möchten und die ich dabei begleite. Beide sind jetzt selbstverständlich nicht hier. Deshalb ist die Runde etwas kleiner geworden.“

Oh, das war etwas Neues. Ich überlegte, wie so etwas kam. Die meisten, die es bis hierher geschafft hatten, wussten, was sie wollten. Jugendliche, die wieder umschwenkten, gab es eigentlich selten. Darüber wollte ich mit Herrn Reimers später sprechen.

Frau Wagner saß interessanterweise bei uns und blickte mich lächelnd an. Sie war als Psychologin mit allen Wassern gewaschen. Wahrscheinlich ahnte sie bereits, an was ich dachte.

Wo die Aufmerksamkeit schon auf mich gerichtet war, konnte ich gleich anfangen.

„Ja, also, ich heiße Max. Dass ich kein Mädchen bin, wusste ich bereits mit drei Jahren. Ich denke, die Gefühle, im falschen Geschlecht zu leben, sind euch hinreichend bekannt. Sonst wärt ihr nicht hier. Für mich gab es kein Wenn und Aber. Ich war ein Junge. Anfangs versuchten meine Eltern alles, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Doch als ich meine erste Blutung bekam, war Schluss damit. Ich hatte ein ziemlich heftiges Gespräch mit meiner Mutter und sie war gottlob mit einer Psychologin befreundet. Die kannte sich zwar nicht mit Kindern aus, konnte ihr aber Telefonnummern von Ärzten und Therapeuten nennen. So landete ich endlich hier beim Doc, den wir inzwischen liebevoll als Ziehpapi bezeichnen. Für mich war es wichtig, dass ich Menschen fand, die mich mit meinem Wunsch ernst nahmen und mir erlaubten, so zu leben, wie es gut für mich war. Die Schule spielte mit und alle anderen auch. Nur ein paar Leute versuchten mich zu mobben. Aber die bekamen es mit meiner Mutter zu tun. Die Zeit hier beim Doc war schön und doch nicht. Als ich nämlich älter wurde, bekam ich so etwas wie eine Depression, weil ich bis zum siebzehnten Lebensjahr auf meine Hormone warten sollte. Alle meine Freunde und Kumpels entwickelten sich zu jungen Männern und ich war noch ein Kind, wenngleich ich mich in meine jetzige Freundin verliebte.“

Ein kleiner blonder Bursche meldete sich. „Darf ich etwas fragen?“

Doc Reimers lachte. „Natürlich, Joe, dafür sind wir hier. Am besten, ihr sagt erst mal euren Namen und euer Alter, dann können sich Max und Rene ein Bild von euch machen.“

„Ich heiße Joe, eigentlich bin ich auf Johanna getauft, aber ich bin kein Mädchen und meine Eltern finden das okay. Ich will meinen Namen in Johannes ändern lassen und Joe klingt fürs Tägliche einfach besser. Ich bin Fünfzehn. Max, hast du auch die Spritze bekommen, die deine Pubertät unterdrückt? Wie konntest du dich da verlieben, wenn du noch keine Hormone hattest?“

Ich staunte. Der sah wie elf oder zwölf Jahre aus. „Ich hab dich auf gerade mal Zwölf geschätzt, entschuldige. Natürlich bekam ich die Spritzen vom Doc und ich fühlte mich sehr gut damit. Das Wachstum läuft unvermittelt weiter und ich war zudem sehr sportlich. Vor allem machte ich Kampfsport, womit ich schon mit acht Jahren angefangen hatte. Ich ritt und spielte Fußball im Verein. Mein Körper blieb in der Entwicklung nur im Hinblick auf die Brust und auf die Regel stehen. Auf beides konnte ich verdammt gut verzichten. Mit dem Kopf hat das nichts zu tun.“

Alle lachten spontan.

„Als ich zum Sichtungslehrgang der Deutschen Reiterlichen Vereinigung eingeladen wurde, traf ich dort Jenny, sie wurde meine Freundin und irgendwann erzählte ich ihr alles. Es machte ihr nichts aus, denn ich wollte mich operieren lassen. Rene und ich trafen uns hier im vergangenen Jahr und ich habe außerdem einen guten Freund zu Hause. Der ist jetzt mit mir in München und studiert ebenfalls. Wichtig ist, dass der Doc euch die alleinige Entscheidung bei der Hormoneinnahme überlässt. Er gibt euch nichts vor. Nur die Altersgrenze mit Siebzehn. Danach könnt ihr selbst wählen, als was und wie ihr leben wollt. Ich denke, wer da noch Zeit braucht, der soll sie sich unbedingt lassen. Die OP ist nicht mehr rückgängig zu machen. Und es gibt unterschiedliche Methoden. Ich wollte alles möglichst schnell durch haben, aber jeder ist anders und es gibt viele Leute, die erst die Brust operieren lassen und sich nach und nach an die anderen OP’s herantasten.“

Joe nickte. „Ich frag nur deshalb, weil ich anfange nach Jungs zu schauen. Da meldet sich etwas bei mir, das gar nicht an meinem Körper ist. Wie ein Phantom. Aber wenn ich mich in einen Jungen vergucke, werde ich schwul und davor habe ich Angst. Das ist der Grund für Melf und Kevin gewesen, sich erst mal wieder von der Behandlung zurückzuziehen. Es ist schon schwer genug den Eltern zu verklickern, dass man Trans ist, aber Trans und Schwul, das geht gar nicht.“ Joe sah mich traurig an.

Rene schluckte, oh Gott. Nun waren wir wirklich gefragt. „Das ist ein großer Denkfehler“, erwiderte Rene. „Eure Ausrichtung steht selbst bei normalen Kids in diesem Alter noch nicht fest. Auch Leute, die sich mit ihrem Geschlecht in Einklang befinden, merken erst in der Pubertät oder manchmal sogar viel später als Erwachsene, dass sie bi sind oder schwul/lesbisch. Ihr dürft euren transsexuellen Weg nicht von einem Vorurteil der Gesellschaft abhängig machen. Das Wichtigste seid ihr. Ihr müsst mit eurem Geschlecht zufrieden leben können und euch sicher als Jungen oder Mädchen fühlen. Die Ausrichtung ist überhaupt nicht wichtig. Zeit lassen ist völlig okay. Keine überhastete Hormoneinnahme oder gar OP. Aber ob ihr später als Männer schwul lebt oder Hetero, ist für euren eigenen Weg vollkommen egal. Wer nur wegen der Eltern und gesellschaftlicher Schwierigkeiten auf die Angleichung verzichtet, macht einen gewaltigen Fehler. Max ist bi. Und für meine Eltern zählen nur Abi und Studium. Ich muss eines Tages für mich selbst sorgen können. Irgendwann muss jeder sein eigenes Geld verdienen. Beruf und keine Straftaten, keine Drogen. Kein Schnaps. Das ist wichtig und alles andere, sagen meine Eltern, muss ich mit mir selbst abmachen. Max‘ Vater besitzt eine Schnapsfabrik und eine Brauerei, da bin ich manchmal froh, dass ich in Hamburg studiere und nicht in München, bei Max und Andy. Allerdings nur manchmal. Meistens fehlen sie mir.“ Rene warf mir einen zärtlichen Blick zu.

Oh, das ging wieder runter wie Öl. Und ich hatte verstanden. Wir mussten diesen Jungen die Angst nehmen, aus dem möglichen Mobbing wegen ihrer transsexuellen Veranlagung nicht mehr herauszukommen, weil sie nach der Angleichung als Homosexuelle gleich in die nächste ‚Katastrophe‘ schliddern würden. Ich beugte mich zu Rene, erwiderte seinen liebevollen Blick und schlang die Arme um ihn.

Die Jungen blickten erschrocken zum Doc und überrascht auf uns. Einige atmeten hörbar aus. Da fielen wohl etliche Steine von fünf jungen Herzen, das war deutlich spürbar. Ich bezweifelte, dass sich alle in homosexuelle Partnerschaften verlieren würden. Das schwule Ausprobieren war für die meisten nur eine Durchgangsstation, um sich selbst auszutesten und kennenzulernen. Wenn sich nach der OP die Gelegenheit bot, bemühte sich die Mehrheit um Mädchen. Der prozentuale Anteil Homosexueller war bei Transsexuellen nicht anders als bei den biologischen Männern und Frauen.

Frau Wagner machte sich Notizen und wischte sich eine kleine Träne aus dem Auge. Sie nickte Herrn Reimers zu. „Die Idee war gut, Achim. Siehst du es ein? Ich hatte recht.“

„Ich werde mit den anderen reden, auch mit den Eltern. Danke, ihr zwei. Selbst ich lerne noch dazu“, meinte er.

Die Erleichterung stand allen Jungen ins Gesicht geschrieben. Sie quatschten auf einmal durcheinander, fragten uns Löcher in die Bäuche und wir erzählten über unsere Erfahrungen.

„Warum warst du letztes Jahr noch nicht dabei, Joe?“, fragte Rene. Das interessierte mich ebenfalls, denn schließlich hatte uns der Doc erklärt, wir wären die einzigen männlichen Transkids gewesen.

„Ich bin aus dem Ruhrpott nach Hamburg gezogen und kam erst kurz nach eurem ersten Treffen zum Doc“, erzählte er.

„Das stimmt, und Julian ebenfalls. Jan und Birger waren erst Zwölf und mir somit noch zu jung für die Truppe. Die hätten von euch beiden Großen zu viel Blödsinn gelernt“, sagte der Doc. „Ja, und Sami hat ein ganz besonders tragisches Schicksal zu bewältigen. Ich weiß im Augenblick gar nicht, was ich mit ihm machen soll“, setzte er nach und sah den kleinen dunkelhaarigen Jungen an seiner Seite mitfühlend an.



Schicksale



„Es ist nicht schlimm, Doktor. Ich bin gerne ein Junge. Ich kenne es gar nicht anders“, antwortete der und lächelte.

„Darf ich deine Geschichte erzählen oder möchtest du es selbst tun? Die anderen wissen nichts von dir.“

Sami überlegte. „Das würde ich gerne selbst tun. Ich heiße Sami, bin elf Jahre alt und stamme aus Afghanistan. Wir sind erst seit einem Jahr in Deutschland. Mein Vater war Lehrer an unserer Dorfschule. Wir wohnten sehr weit weg von der Hauptstadt Kabul auf dem Land. Ich habe einen siebzehnjährigen Bruder, einen zwanzigjährigen Bruder und ich hatte eine Schwester. Sie war zwölf Jahre alt, als sie starb. Meine Mutter sollte damals wieder ein Kind bekommen, nämlich mich. Meine Eltern sind beide sehr fortschrittlich. Mein Vater unterrichtete deshalb die Mädchen in unserem Dorf. Eines Tages kamen Taliban und haben mehrere Männer, die sich ihnen in den Weg stellten, erschossen. Meinen Vater haben sie verprügelt und gedroht, ihn umzubringen, wenn er weiter Mädchen unterrichtet. Meine Schwester wollte ihm helfen und …“

Sami hielt inne, senkte den Kopf. „Sie haben sie geschlagen und mitgenommen. Eine Bäuerin aus dem Dorf hat sie später gefunden. Sie haben ihr etwas Schlimmes angetan und sie danach einfach erschossen. Meine Mama war völlig fertig und weinte nur noch. Als ich zur Welt kam und sie sah, dass ich ein Mädchen war, sagte sie meinem Vater, ich wäre ein Junge. Niemand merkte etwas. Ich trug Jungenkleider und ging nur mit Mama zur Toilette. Sie erzählte mir, als ich in die Schule kam, dass ich eigentlich ein Mädchen bin, aber niemand das wissen durfte und ermahnte mich, immer aufzupassen, wenn ich zur Toilette ging. Irgendwann bekam ich Durchfall in der Schule und mein Vater wollte mir helfen. Ich hatte furchtbare Angst vor ihm, aber er nahm mich nur in die Arme und weinte. Zuhause weinten meine Eltern beide. Vater fuhr kurz danach in die Stadt und Mama erzählte, dass wir Afghanistan verlassen wollten. Es dauerte noch zwei Jahre, bis sie alle Papiere zusammen hatten und wir sind mitten in der Nacht aufgebrochen. Wir besaßen Flugtickets. Mein Vater durfte hier in Deutschland gleich als Lehrer und Übersetzer arbeiten. In meinem Ausweis steht, dass ich ein Junge bin. Meine Eltern wollten, dass ich als Mädchen lebe, aber ich will nicht. Ich bin ein Junge. Ich hoffe, der Doktor kann meine Eltern umstimmen und mir helfen.“

Rene und ich starrten uns betroffen und geschockt an. Wie krass war denn so etwas? Hier musste jeder zur Schule gehen. Warum durften Mädchen nicht lesen und schreiben lernen? Aber ich hatte in der Schule und aus den Nachrichten von dem Leid der Kinder in diesen muslimischen Kriegsgebieten gehört. Es gab in vielen islamischen Ländern Männer, die Frauen den Schulbesuch verboten. Nur ist es ein Unterschied, ob man etwas im Fernsehen sieht und in der Zeitung liest oder es direkt erlebt. Sami saß jetzt neben uns.

„Ich glaube, ich hätte an Stelle deiner Mutter genauso gehandelt“, sagte ich. „Wenn alle Kinder in Afghanistan Jungen werden, gibt es keinen Nachwuchs mehr. Dann sterben die Taliban aus. Aber im Ernst, deine Mama wird ein Leben lang darunter leiden, dass sie ihre Tochter verloren hat und ihre Reaktion, dich nur retten zu können, wenn sie dich zum Jungen erklärt, kann jeder vernünftige Mensch nachvollziehen. Doch du bist natürlich nicht so transsexuell wie wir. Du bist dazu gemacht worden und ich denke, für dich ist es am besten, die Pubertät wird unterdrückt, du gehst ganz normal als Junge zur Schule und schaust mal, ob du dich bei den Mädchen wohlfühlst. Du solltest offen bleiben für beides und dich nicht so schnell entscheiden. Warte ab, bis du vierzehn oder fünfzehn Jahre alt bist und verlieb dich das erste Mal. Vielleicht verliebst du dich in einen Jungen und fühlst dich auf einmal wie ein Mädchen. Dann kannst du dich entsprechend kleiden und deine Pubertät erleben. Für jemand wie dich ist die Altersgrenze vom Doc wirklich gut. Vor allem, geh in die Schule und lerne. Wenn du ein Mann bleiben willst, ist das okay. Oder du kannst vielleicht später den Mädchen in deiner Heimat besser helfen, wenn du eine Frau bist.“

„Ich hatte Ähnliches im Sinn“, antwortete Doktor Reimers. „Wir werden uns viel Zeit mit Sami lassen. Ein solcher Fall geht mir immer sehr nahe. Wir hatten so etwas hier noch nie und es macht mich einfach wütend, wenn Männer es zulassen, dass Frauen nicht einmal ihren Namen schreiben können und so viel Angst und Schrecken verbreitet wird, dass solche Entwicklungen dabei herauskommen. Sami, deine Mutter hat richtig gehandelt. Sie wollte, dass du etwas lernst. Und wenn das in deiner Heimat lediglich als Junge möglich ist, gab es nur diese Lösung. Wir warten ab, wie du dich entwickelst. Willst Du ein Junge sein, belassen wir es dabei. Frau Wagner wird dich zusätzlich begleiten.“

Die nickte und warf dem Kleinen einen aufmunternden Blick zu. „Ich glaube, wir müssen jetzt über ganz andere Dinge reden, als über deine Geschlechtlichkeit. Das Wichtigste ist im Augenblick deine Beziehung zu deinen Eltern, vor allem zu deiner Mutter“, meinte sie.

Herr Reimers sah nachdenklich auf die Uhr. „Ich denke, wir machen jetzt erst mal eine Mittagspause, damit ihr etwas zu essen bekommt. Danach könnt ihr zusammen die Spielmöglichkeiten in den Aufenthaltsräumen in Augenschein nehmen und euch mit Max und Rene frei unterhalten. Um drei Uhr ziehen wir uns an und fahren ins Aquarium. Danach geht’s bis acht Uhr weiter ins Sportcenter. Max, Rene, ich wäre froh, wenn ihr uns begleitet. So hab ich ein paar Aufpasser mehr für die Rasselbande. Wenn alle Mann wieder in der Herberge sind, könnt ihr gerne fahren. Ich nehme an, ihr trefft euch mit euren Hamburger Freunden?“

Rene nickte. „Klar, machen wir, Doc. Die Kids sollen alles fragen, wir werden uns beim Spielen mit ihnen weiter beschäftigen. Wenn wir um neun Uhr gehen können, ist es früh genug.“

Samis Augen ruhten während der Mahlzeit ständig auf mir. Ich hatte ihn ins Herz geschlossen. Wer seinen Lebenshintergrund nicht kannte, käme nie auf die Idee, dass er vom Grundgeschlecht ein Mädchen war. Wir spielten erst Tischfußball, holten uns die Schlüssel für die Kegelbahn und erklärten am Schluss allen die Billardregeln. Das Hamburger Aquarium am späten Nachmittag wurde für Rene und mich ein besonderes Erlebnis. Joe bat mich auf dem Klo, ihm etwas mehr zu zeigen und fragte nach der OP Methode. Für ihn war der transsexuelle Weg nur eine Frage der Zeit. Auch die anderen drei zeigten deutliche Anzeichen ihrer besonderen Prägung. Sami hatte die Qual der Wahl. Wie er sich später entschied, war offen. Ich tippte allerdings darauf, dass er ein Junge bleiben würde. Die ersten Lebensjahre legten ihn bereits in seiner Rolle fest. Vielleicht geschah ein Wunder. Das musste ein Junge sein, der ihm seine verborgene Weiblichkeit zu Bewusstsein brachte. Wir begleiteten unsere jungen Freunde am Abend wieder in die Jugendherberge.

Unser Weg führte danach gewohnheitsmäßig zu Conny, der uns am nächsten Vormittag zum Flughafen brachte.

Die Zeit verging. Die Wochen und Monate rasten an uns vorüber. Unser erstes Semester brachte ständig Neues. Wir lernten viele Menschen kennen und die Bildung forderte ihren Beitrag. Die meisten Stunden verbrachte ich, wie wohl alle Studenten zu Beginn, mit der Suche nach den Vorlesungs- und Seminarräumen. Ich war mehrere Monate nicht mehr in Hamburg gewesen. Der Kontakt zwischen mir und Rene, sowie Conny, beschränkte sich auf gelegentliche Mails. Conny erzählte mir freudig von seinen Erfolgen in der Schule und Rene stöhnte über die Anforderungen der Uni. Ihm ging es nicht anders als uns. Aber er war viel mit Kerrin zusammen. Rene und die Hamburger Freunde fehlten mir manchmal sehr. Umso glücklicher war ich über den zweiten OP-Termin in Berlin, der uns nach gelungenem erstem Semester erwartete. Während der kurzen Semesterferien sollten Rene und ich unsere Erektionshilfe erhalten.

Am 20. März trafen wir uns bei Doktor Dupret in der Klinik. Wir waren beide mit dem Zug angereist und fielen uns schon auf dem Bahnhof in Berlin um den Hals. Schnell wurden SMS an Freunde und Verwandte geschrieben und obendrein noch ein Selfi verschickt. Die Voruntersuchungen verliefen reibungslos. Wir sollten beide am 22. nach einander operiert werden. Der Eingriff dauerte nicht lange und war recht unkompliziert, erzählte uns der Doc.

Am Abend lagen wir schon wieder auf unserem Zimmer und schauten uns nach dem Aufwachen müde aber sehr glücklich an. Der Aufenthalt sollte nur eine Woche dauern. Am anderen Morgen kam Doktor Melcher und wechselte die Verbände. Ich konnte den ersten Blick auf meinen Kleinen werfen und freute mich wie ein Kleinkind zu Weihnachten.

„Wer hat die dicksten und größten Eier, Doc?“, fragte Rene.

Herr Melcher grinste und antwortete mit Sarkasmus und Ironie wie beim letzten Mal.

„Ich fürchte, keiner von euch beiden. Die fallen bald in sich zusammen und sind kaum noch sichtbar. Der Chef hatte wieder die falsche Brille auf. Er wird alt. Seine Hände zitterten merklich beim Einbau der Pumpe. Ich würde mich also nicht allzu sehr darauf verlassen, dass sie funktioniert.“ Rene atmete aus.

„Haha!“, entfuhr es mir. Zärtlich und neugierig nahm ich meinen Penis in die Hand. Die Silikonhoden waren in Tat nicht so groß, aber sie sahen sehr echt aus, und darauf kam es an.

„Nicht die Pumpe betätigen, das üben wir erst in ein paar Tagen. Es muss alles heilen. Aber der Chef zeigt euch, wie’s geht und ihr müsst regelmäßig üben.“

Als er Rene auspackte, kam der Boss. Doktor Dupret hatte wohl gerade auf dem Flur einen seiner berüchtigten Witze losgelassen, denn sein ganzer Ärzte- und Schwesternanhang lachte, als sie eintraten.

„Guten Morgen, meine Herren. Operation geglückt. Die beiden Patienten sind leider tot. Wie sieht‘s aus, Herr Kollege?“, fragte er und besah sich nicht ohne Stolz sein Werk. „Aha, alles erfolgreich eingesetzt. Meine Herren, in ein paar Tagen werden Sie beginnen, sich wie Männer zu benehmen und ich erwarte regelmäßiges Üben. Das schließt die Damen nach Ihrer Entlassung ein.“

„Ich dachte, wir bekämen diese besondere Einweisung noch hier und dürften uns dazu einige ihrer hübschen Krankenschwestern aussuchen“, meinte ich.

„Das ist leider im Preis nicht enthalten. Das zahlen die Krankenkassen nicht mehr.“ Doktor Dupret lachte selbst und zwinkerte uns und den anderen Ärzten zu.

Schwester Tanja drehte sich zu ihrer Kollegin um. „Ich denke, der Patient braucht heute noch einen Einlauf. Was meinst du Heike?“

Die Angesprochene nickte zustimmend. „Ja, und wir sollten den Dreiliterbeutel nehmen, damit er etwas davon hat.“

Ein paar Minuten später lagen wir allein im Zimmer. Wir konnten es kaum erwarten, unsere Pumpen zu benutzen. Die nächsten Tage wurden zur Geduldsprobe. Beatrix bat um ein Foto, wenn wir das erste Mal etwas zeigen konnten. Ich lehnte ab. Und für Jenny sollte es eine Überraschung bleiben. Rene dachte dasselbe.

Der große Moment kam und wir saßen stolz im Bett. „Wie bekommen wir sie jetzt wieder runter, Doc?“, fragte ich. „Wieso runter? Der muss noch weiter rauf. Und dann bleibt er so. Das wolltest du doch, oder hab ich das falsch verstanden?“

Schwester Tanja kicherte. „Runter geht nur mit Einlauf.“ Na, das konnte ja heiter werden.

Nun stand die Kiste endlich, aber ich fand den Knopf zum Ausschalten nicht. Womit hatte ich das nur verdient? Der Spieltrieb nahm uns völlig gefangen. Irgendwann bekamen wir den Bogen raus. Jetzt war also unserem Leben als vollständige Männer keine Grenze mehr gesetzt. Nun ja, fast keine. Aber das störte uns in diesem bedeutungsvollen Moment nicht.

Ein paar Tage später stand die Entlassung an. Auf dem Bahnhof umarmten wir uns und waren kaum in der Lage voneinander zu lassen. Rene und ich, zwei transsexuelle Jungen, die seit sie denken konnten, auf diesen einen Augenblick hin gefiebert hatten. Deren Träume tagtäglich nur darum kreisten, wann sie endlich richtig und heil sein würden. Die letzten Jahre waren wir unzertrennlich gewesen, fiel mir ein. Wir küssten uns mit Tränen des Glücks in den Augen. Freude und Schmerz lagen so dicht beieinander.

Noch hatten wir Termine bei Doktor Reimers. Auf diese Weise durften wir uns in Hamburg treffen. Aber etwas war jetzt anders. Wir wurden älter und mussten uns von unserem Kinder- und Jugendleben verabschieden. Es war alles in allem eine wunderschöne Zeit gewesen, die ich nie missen wollte. Ich ließ die Bilder in meinem Kopf Revue passieren. So gesehen besaßen wir eine einzigartige Lebenserfahrung, die uns von biologisch geborenen Jungen unterschied. Ich spürte allerdings, wie sich mein Geist in die Entwicklung zum Erwachsenen aufmachte und es war nicht mehr möglich, dies aufzuhalten. Unser Leben änderte sich. Wir waren keine Jugendlichen mehr. Die Normalität hatte uns eingeholt. Ein letzter Blick. Renes Zug fuhr zuerst ab. Eine halbe Stunde später saß ich im ICE nach München.

In einer Woche begann die Uni. Das zweite Semester! Von insgesamt sechs. Danach werde ich noch drei Jahre Forstwirtschaft hinten dran hängen und darin meinen Bachelor machen. Mehr brauchte ich als Erbe der Wildensteiner Grafen nicht. Mein Vater hatte mein Geschlecht erfolgreich im Adelsregister ändern lassen, wie es unser Hausgesetz verlangte.

Die Bearbeiter dort staunten nicht schlecht. Das hatten sie in der gesamten Zeit ihres Bestehens noch nicht erlebt. Aber ich war nun der Erbgraf von Wildenstein.

Wenn alles gut lief, könnten Jenny und ich wir schon in sechs Jahren heiraten.

Meine Güte, ich hatte noch nie so detailliert meine Zukunft geplant. Das war real, kein Traum. Ein leichtes Zittern überkam mich. Landschaften, Bahnhöfe, Städte zogen während der Zugfahrt in einem Tempo an mir vorüber, dass mir schwindelig wurde. Das Leben kam mir auf einmal so schnell vor. Bis vor wenigen Tagen war es noch behäbig und langsam gewesen. Das große Ziel lag so weit entfernt, nahezu unerreichbar und ich dachte immer wieder daran, wie lange es noch dauerte, bis ich endlich erwachsen sein durfte. Damit verband ich stets mein Geschlecht und die Funktionalität der dazu notwendigen männlichen Organe. Über Nacht war es nun geschehen. Das Ende einer langen Reise war gekommen.

Am Abend fuhr der Zug in den Münchner Hauptbahnhof ein. Jenny meldete sich kurz vor der Ankunft am Telefon.

„Du hast es geschafft, Max. In ein paar Jahren sind wir verheiratet und ich werde, wenn Gott will, unser erstes Kind austragen dürfen. Dein Kind, mit Hubertus’ Samen befruchtet. Auch meines wird eines Tages von ihm sein und wir können zusammen das Erbe der Grafen von Wildenstein für die Zukunft bewahren. Ich liebe dich von ganzem Herzen.“

„Ich liebe dich auch, Jenny, und ich danke Gott dafür, dass er mir eine so wunderbare Frau geschenkt hat. Der Zug hält, ich muss aussteigen. Ich ruf dich nachher noch einmal an.“

Kurz fiel mir die Geschichte vom Storch ein. Nun, Petrus hatte den Fehler bei mir wieder ausgebügelt. Ich schmunzelte unwillkürlich in mich hinein. Meine Reise war hier wirklich vorbei und ich endlich am Ziel. Die körperliche Schwäche würde sich in ein paar Wochen in Luft auflösen. Als ich vor dem Bahnhof stand und dem Taxifahrer die Adresse gab, fühlte ich, dass eine neue Reise gerade begonnen hatte. Sie hieß: Das Leben eines Mannes.

Ende
 
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