Stumm/Haiku

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Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo SilberneDelfine,

dachtest Du bei diesen Zeilen an Trier? Das war jedenfalls mein erster Eindruck.
Und dann musste ich an eine sehr ähnliche Stimmungslage denken: München, im September 1972, nach dem Olympia-Attentat, als die gelöste, heitere Stimmung der Spiele von einem Tag zum anderen zusammenfiel und die vielen Menschen in der Stadt bedrückt und fassungslos herumliefen. In meiner Erinnerung hatte sogar das Wetter umgeschlagen von spätsommerlicher, weiß-blauer Leichtigkeit auf bleiernen September-Himmel – aber da mag ich mich täuschen.

Dir ist es also gelungen, mit wenigen Worten Bilder in mir zu wecken. Allerdings würde ich sagen, dass dies kein Haiku, sondern allenfalls ein Senryu ist, denn ein Naturbild wird ja eigentlich nicht dargestellt.
Die letzte Zeile ist für meinen Geschmack mit nur einem Wort zu kurz. Ich will nicht auf 5-7-5 herumreiten, aber ein wenig mehr dürfte es schon sein. Wie wäre es z. B. mit „Tage des Schweigens“? Vielleicht fällt Dir ja noch etwas ein. Aber auch so: Gut gemacht!

Gruß, Ciconia
 
Liebe Ciconia,

ich danke dir herzlich für deinen einfühlsamen Kommentar.

Ja, ich dachte an Trier.
Die Menschen haben an verschiedenen Stellen Kerzen aufgestellt. Viele gehen hin, manche bekreuzigen sich, aber niemand sagt ein Wort. Es gibt keine Worte für das Unfassbare.
Das konnte ich nicht anders als mit einem Wort - Schweigen - ausdrücken, auch wenn du in Bezug auf die Kürze der letzten Zeile wohl recht hast.

Allerdings würde ich sagen, dass dies kein Haiku, sondern allenfalls ein Senryu ist, denn ein Naturbild wird ja eigentlich nicht dargestellt.
Vielen Dank für die Erklärung, ich dachte, ein Senryu und ein Haiku sei das Gleiche.

Liebe Grüße
SilberneDelfine
 
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Gelöschtes Mitglied 21884

Gast
ich dachte, ein Senryu und ein Haiku sei das Gleiche

Du liegst fast richtig, Delfine. Ein senryu ist immer auch ein Haiku, allerdings ein auf Empfindung, zum Teil sogar Interpretation oder Willensaussage erweitertes Haiku. Für uns Europäer selbstverständlich, für das klassische Japan keineswegs, das reine Beschreibungstexte bevorzugte. Vor allen Dingen die fünf Jahreszeiten (Achtung: Neujahr zählt dazu!) im Auge hatte, wofür kigo (Jahreszeitenwörter) gelistet und zu einem Wörterbuch - kiyose - zusammengefügt wurden. Die historisch aufweisbare Trennung von Haiku und senryu ist heute nicht mehr zwingend, aber auch nicht falsch.

Dein Gedicht muss wohl noch nachgearbeitet werden. Der Bogen von Tränenschleier zum Schweigen ist mir viel zu flach, also spannungslos. Das gegenseitige Bedingen ist zu offensichtlich, so dass der Text schnell verpufft. Zu wenig Nachschwingen im Kopf des Lesers.
Interessant: Ciconia las die Ereignisse in Trier, ich ging eher von Einsamkeit, Verlassenheit aus.
Im Zuordnungstitel benutzt Du das Wort 'Stumm'. Sieht wie eine zusätzliche Erklärung zum Text aus und könnte durchaus als Schwäche des Textes ausgelegt werden. Ich benutze dort ausschließlich Schlüsselworte, die man auch im Gedicht findet. Wenn man das nicht will, reichte es wohl, nur Haiku zu schreiben. Aber frag' doch noch mal beim Redakteur Bernd nach.

Die mittlere Zeile 'über der Stadt' wirkt wie ein Scharnier oder Apokoinu; dazu müssten aber die 1. und 3. Zeile nachgebessert werden.


Es grüßt
Béla
 
Hallo Béla,

danke für deinen Kommentar und deine nützlichen Hinweise.

Ein senryu ist immer auch ein Haiku, allerdings ein auf Empfindung, zum Teil sogar Interpretation oder Willensaussage erweitertes Haiku. Für uns Europäer selbstverständlich, für das klassische Japan keineswegs, das reine Beschreibungstexte bevorzugte
Das ist sehr interessant. Ich habe schon mal nach den Unterschieden gesucht, jedoch nicht wirklich etwas im Netz darüber gefunden.

Dein Gedicht muss wohl noch nachgearbeitet werden. Der Bogen von Tränenschleier zum Schweigen ist mir viel zu flach, also spannungslos. Das gegenseitige Bedingen ist zu offensichtlich, so dass der Text schnell verpufft. Zu wenig Nachschwingen im Kopf des Lesers.
Interessant: Ciconia las die Ereignisse in Trier, ich ging eher von Einsamkeit, Verlassenheit aus.
Ich habe das Haiku unter dem Eindruck geschrieben, den die Stadt nach diesem schrecklichen Ereignis jetzt auf mich macht (ich komme auf dem Weg zur Arbeit dort vorbei).
Wie ich schon weiter oben schrieb: Alle schweigen, bleiben an den Stellen mit den Kerzen stehen oder gehen stumm vorbei. Ich hatte ursprünglich auch vor, in der letzten Zeile mehr Worte zu verwenden - es passte einfach nicht. „Tage der Trauer" z. B., Tage werden nicht reichen. Es wird sehr viel länger dauern.

Im Zuordnungstitel benutzt Du das Wort 'Stumm'. Sieht wie eine zusätzliche Erklärung zum Text aus und könnte durchaus als Schwäche des Textes ausgelegt werden. Ich benutze dort ausschließlich Schlüsselworte, die man auch im Gedicht findet. Wenn man das nicht will, reichte es wohl, nur Haiku zu schreiben
Das wusste ich noch nicht. Also ich hatte zwar gelesen, dass ein Haiku keinen Titel haben sollte, aber da man im Forum einen Titel eingeben muss, um etwas posten zu können, habe ich diesen Titel gewählt - dann wäre "Schweigen" hier wohl die bessere Wahl gewesen.

Die mittlere Zeile 'über der Stadt' wirkt wie ein Scharnier oder Apokoinu; dazu müssten aber die 1. und 3. Zeile nachgebessert werden.
Das Wort „Apokoinu" kannte ich auch noch nicht,ein sehr interessanter Hinweis. Ich werde versuchen, das Haiku nachzubessern.

LG SilberneDelfine
 
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Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo SilberneDelfine,

schon besser, aber ich hätte das Schweigen in irgendeiner Erweiterung bevorzugt. Das hätte dann auch besser zum Titel gepasst.
Aber letztlich musst Du entscheiden. ;)

Gruß, Ciconia
 
Hallo Ciconia,

ich wollte hier aus der mittleren Zeile ein Apokoinu machen, wie Béla vorgeschlagen hatte - also dass sich die erste und die dritte Zeile auf die mittlere Zeile beziehen.
Ich versuche, noch eine andere Lösung zu finden.

LG SilberneDelfine
 
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Gelöschtes Mitglied 21884

Gast
Hallo SilberneDelfine,

wenn's partout nicht klappt, lass' doch den Dreizeiler so stehen, es ist ja erkennbar, was Du wolltest!
Ein abgerundetes Haiku kann dann möglicherweise aus einem neuen Ansatz - und aus einem Abstand heraus! - entstehen.

Gruß
Béla
 



 
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