Stunde um Stunde

Stunde um Stunde

Schon beim Aufwachen spüre ich ihre Anwesenheit. Die Morgendämmerung fällt leise durch das kleine Fenster über dem Bett herein und ich kann die Schatten der Gitter auf dem Boden sehen. Abgesehen davon ist das Zimmer dunkel und ich kann ihre Konturen nicht ausmachen, deshalb horche ich auf ihren gleichmäßigen Atem. Ich bleibe still liegen, während mein gesamter Körper sich versteift; ich rühre mich eine Stunde lang nicht, habe lähmende Angst, dass sie aufwachen könnte. Zur Flucht gibt es keine Möglichkeit und ich fühle mich Madeline unterlegen und ausgeliefert. Sie ist ebenso labil wie raffiniert, und ich habe sie bisher in nur einem einzigen Punkt durchschauen können, nämlich, dass sie mich irgendwann auf die eine oder andere Weise töten wird. Sie weiss davon und sie kann außerdem meine Todesangst riechen, und das macht sie nur noch gefährlicher und grausamer.
Ein leises Wimmern dringt plötzlich zu mir durch, es ist Lisa. Ich spüre, dass sie sich - wie ich - fürchtet, obwohl ich nicht weiss warum; sie kennt Madeline und ihre Absichten doch gar nicht. Doch trotzdem scheint sie eine Vorahnung zu haben und auch ich bin mir sicher, dass Madeline irgenwann auch Lisa als einen Störfaktor empfinden und entsprechende Konsequenzen ziehen wird. Störfaktor, das war in letzter Zeit ihr Lieblingswort gewesen. Sie sagt, dass wir ihr Leben vergiften würden und nur im Weg wären. Sie hält uns für Parasiten, die von ihr profitieren und sie dann ausrotten wollen. Und an dieser Stelle tritt für sie das Gesetz des Dschungels in Kraft.
Als es Belle noch gegeben hat, habe ich mich sicherer gefühlt. Sie hatte einen Ausgleich zu Madelines kaltblütiger Bosheit gebildet, war von gleicher Stärke jedoch voller Menschlichkeit und Güte, liebevoll und gerecht gewesen. Ich mochte sie. Belle war intelligent und sehr stolz, und sie konnte die Leute durch ihre verrückten Ideen oft zum Lachen bringen. Sie hatte einen frechen Charme und zog Männer unheimlich an; ich habe sie immer darum beneidet wieviel mehr sie aus ihrem Typ machen konnte als ich. Wenn wir mal zusammen ausgegangen sind hatte sie mir meistens einen Kerl aufreißen müssen, ihr Selbstbewusstsein war einfach um einiges stärker und sie konnte ganz locker auf Menschen zugehen, während ich nervös wurde. Belle verstand mich wie keine andere; unter anderen Umständen hätte man uns wohl als Seelenverwandte bezeichnen können. Ich vermisse sie noch immer. Von uns drei war sie die Stärkste gewesen und hatte immer am ehesten gegen Madeline bestehen können, doch eines Tages hatte sie es nicht mehr geschafft. Madeline war in ihren Kopf eingedrungen; ich errinnere mich an Belles schrille Schreie, als sie völlig von Sinnen im Kreis gelaufen war und die Fingernägel so lange in die zarte Haut ihrer Unterarme bohrte bis das Blut an ihnen hinunter rann und mit dem Kopf gegen den Boden und die Wände geschlagen hatte. Sie versuchte mit aller Kraft Madeline aus ihrem Kopf zu kriegen, doch die ließ sie nicht mehr los, hetzte sie wie ein eingesperrtes Tier und zerriss sie schließlich. Dann ist Belle einfach verschwunden und ich habe nie mehr etwas von ihr gehört.
Seitdem warte ich Stunde um Stunde darauf, dass sie sich auch gegen mich wendet - dass sie es tun wird, dessen bin ich mir vollkommen sicher. Gäbe es Lisa nicht hätte ich wohl schon lange aufgegeben, aber so konnte ich es einfach nicht über mich bringen sie mit Madeline allein zu lassen. Nach außen hin dominiert Lisa in unserer kleinen Runde zwar meistens, jedoch nur weil sie sich in Wirklichkeit von uns abschirmt, als würde sie uns gar nicht wahrnehmen. Womöglich ist das für sie eine Art Schutz, um der Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen. Und genau das ist ihre Schwäche, sie kann schmerzvolle Tatsachen nicht ertragen und versteckt sich deshalb hinter Mauern, die sie um sich errichtet hat. Madeline bräuchte die Mauern lediglich einzureißen und schon hätte sie gegen Lisa leichtes Spiel, denn die Kleine ist tief drinnen genauso widerstandslos wie ein Schalentier, dem man seinen Panzer zertrümmert hat. Ich kenne sie mittlerweile recht gut, denn obwohl sie nie mit uns spricht, habe ich sie schließlich jahrelang beobachtet. Unglücklicherweise tat Madeline das auch. Ich hatte mir versprochen Lisa zu beschützen - ich erinnere mich an Zeiten, als wir alle sie nur beschützen wollten - doch nun kann ich nichts tun, außer meine Angst zu ihrer dazu zu addieren. Um uns herum herrscht betäubende Stille, die mich blind und taub werden lässt. Ich bemerke zu spät, dass Madelines regelmäßige Atemzüge sich verflüchtigt haben.

"Gut geschlafen?" Ich habe sie die ganze Zeit erwartet, doch jetzt trifft sie mich unvorbereitet.

"Interessiert dich das?"

"Natürlich, wir sind doch sozusagen Schwestern, nicht wahr?"
Ich kann deutlich den Sarkasmus in Madelines Stimme heraushören. Auf keinen Fall provozieren lassen.

Ihr Ton wird um nur eine Nuance schärfer: "Hast du deine Zunge verschluckt oder habe ich dich nur überhört?"

"Ich möchte nicht mit dir reden, Madeline."
Ich versuche meine Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen. Wenn ich ihr erst gar nicht die Gelegenheit für einen Konflikt gebe, kann ich ihr vielleicht entkommen. Oder zumindest Zeit schinden.

"So? Nun gut. Vielleicht hat Lisa ja mehr Lust. Wir hätten uns bestimmt viel zu erzählen."

Verdammt! "Das wirst du lassen, Mad! Sie würde dir sowieso nicht zuhören."

"Ist es nicht amüsant? Du warst schon immer so leicht zu erschrecken. Aber wie ist das mit Lisa? Was denkst du, wie würde sie reagieren, wenn sie merken würde, dass die Stimme in ihrem Kopf eigentlich ein Eigenleben führt? Überrascht? Erfreut? Oder doch eher schockiert? Ich persönlich tippe auf plötzlich eintretenden Wahnsinn, das kann manchmal ziemlich gefährlich sein... für die Betroffenen."

"Ich habe noch nie jemanden getroffen, der kaltblütiger und selbstsüchtiger war als du! Du widerst mich an."
Ich meine jedes Wort. Ich spüre wie mir die Zügel dieser Unterhaltung entgleitet, Madeline tut was sie will.

"Selbstsüchtig? Weißt du, das tut wirklich weh. Du musst immer alles so persönlich nehmen, dabei mache ich es ihr leichter, indem ich Lisa von dir befreie. Oder denkst du etwa, sie wäre jemals in der Lage ein normales Leben mit dir als stillen Mitbewohner führen? Wo du doch praktisch eine Krankheit für sie bist... ganz zu schweigen von mir."

"Versuch' nicht, mich für dumm zu verkaufen, Madeline! Nachdem du mich ausgeschaltet hast, würdest du die erst beste Gelegenheit nutzen, um auch Lisa loszuwerden. Du hasst sie, weil sie im Gegensatz zu dir ein Leben hatte und du für alle Zeiten nur in ihrem Schatten stehen solltest. Und mich und Belle hast du dafür gehasst, dass wir ein Stück dieses Lebens verstanden, erfahren, mit ihr geteilt haben. Du dagegen hast nur von dem Gedanken exestiert, uns irgendwann loszuwerden und die Jahre haben dich verbittert. Du bist morsch, innerlich bereits gestorben."

"Du hast recht."


Ich habe so unerwartet ihren Punkt getroffen, dass mein blankes Erstaunen wahrscheinlich größer ist als Madelines! Sie gibt es so einfach zu, und ich werde noch unruhiger als zuvor. Warum habe ich trotz dieses kleinen Triuphes das Gefühl zu ertrinken?

"Aber weißt du, was wirklich traurig ist?"

Ich schweige.

"Die Guten haben am Ende doch keine Chance. Du weißt Bescheid, doch verhindern kannst du nichts. Was bringt es sich aufzulehnen, wenn man schon verloren hat?"

Vor meinen Augen verschwimmt alles, ich kann kaum noch sehen. Wie eine Verrückte irre ich durch den Raum, ich will sterben, jetzt, sofort! Ich kann Lisa nicht mehr helfen und mir selbst ebensowenig. Ich will mich nicht mehr täglich Madelines Quälereien aussetzen müssen, ich will nicht mehr von einer gesunden Zukunft träumen, die ich nicht haben kann, ich will nicht mehr eingesperrt sein wie ein verdammtes Tier! Das alles soll endlich aufhören. Ich taste mich blind voran und fühle plötzlich ein Stück kaltes glattes Metall unter meinen Fingern. Ich greife danach und stelle fest, dass es eine Haarspange von mir ist, auf einer Seite läuft sie spitz zu. Alle anderen spitzen oder anderweitig gefährlichen Gegenstände waren schon vor Jahren aus unserem Zimmer entfernt worden - sie stempelten uns als suizidgefährdet ab - nur diese Haarspange war den forschen Blicken eben entgangen. Wenigstens kann ich ihr hiermit wehtun. Ich setzte das spitze Ende langsam auf meinem linken Handgelenk an und spüre die eisige Kälte meiner eigenen Finger, als Madelines schneidende Stimme sich in mein Hirn bohrt.

"Du verdammtes egoistisches Miststück, wag es ja nicht! Du warst schon immer so verlogen und hast nur an dich gedacht, aber diesmal kommst du damit nicht durch, Süße. Was du dir antust, tust du auch mir an und ich werde nicht zulassen, dass du alles versaust! Weißt du eigentlich wie ekelhaft es ist, die ganze Zeit an dich gekettet zu sein? Ich hasse dich!"

Jetzt nur nicht die Kontrolle verlieren, ihr nicht die Überhand gewähren! Ich umfasse die Haarspange fester, jetzt muss ich sie nur noch in die Pulsader stoßen und es ist vorbei. Ich hoffe nur, dass ich treffe.

"Eigentlich hast du ja recht damit, du hast wirkliches Leben nie kennengelernt, bei deiner Erbärmlichkeit ist es wohl wirklich das beste endlich einen Schlussstrich zu ziehen! Du hast dich nie was getraut, dämliche Kuh, immer musste Belle dich an der Hand herum führen. Das hat ihr tierisch gestunken, wahrscheinlich hat sie sich deshalb verzogen, weil du sie vertrieben hast."

Sie lügt, ich will das nicht hören. Meine Augen füllen sich bei dem Gedanken an Belle mit Tränen, ich schluchze unweigerlich auf. Das kann nicht sein, sie lügt, sie lügt! Meine Kehle gehorcht mir nicht mehr, ich kann ihr nicht wiedersprechen. Vielleicht will ich es auch gar nicht. Ich beginne mir regelrecht zu wünschen, dass ihre Worte mir den letzten Anstoß geben, ich konnte ja noch nie etwas alleine machen.

"Ja, ganz genau, Kleine, sie der Wahrheit endlich ins Gesicht: es ist deine Schuld, dass Belle weg ist. Du warst schon immer eine Plage für alle, sie hat es nur nicht mehr ausgehalten mit dir! Jetzt kann und muss sie dich nicht mehr beschützen; du bist allein und keiner schert sich um dich, du hast keine Freunde und kein Leben, deine Familie hat dich auch schon vor Jahren aufgegeben - genau an dem Tag, an dem du hier eingeliefert wurdest! Wir haben es sowieso nur dir zu verdanken, dass wir hier gelandet sind, du machst nur Probleme. Jetzt, tu es endlich, verdammt! Worauf wartest du noch? Es gibt für dich keine Alternative, tu es! Tu es!"

Ich atme tief durch und beginne die Spitze langsam auf mein Handgelenk zu pressen, ich drücke immer fester zu. Ich komme nicht bis zur Pulsader, beim ersten Tropfen Blut zucke ich zusammen und halte verstört inne. Im endscheidenen Augenblick versage ich.

"Ich wusste, dass du nicht den Mut dazu hast! Du bist so erbärmlich, dass du nicht einmal einen verdammten Selbstmord hinkriegst!"

Kraftlos gleite ich an der Wand hinunter, ich kann nicht mehr, die Haarspange fällt klimpernd zu Boden. Madeline lacht selbstgefällig, ihr Lachen umzingelt mich, dringt in meine Haut und meine Lungen und vernebelt meine Sinne. Ich versuche noch mich zu befreien, doch das Lachen ist stärker und ich höre auf zu zappeln. "Feigling!", zischt Madeline vernichtend und das Wort hallt in meinem Kopf wieder, bis es ihn für sich eingenommen, erobert hat. Es vermischt sich mit dem Lachen und ich kann nicht mehr denken, sie ist jetzt in meinem Kopf, und ich habe bereits verloren, ohne gekämpft zu haben. Ich merke wie ich langsam loszulassen beginne.

Feigling, Feigling, Feigling, Feigling, Feigling, Feigling, Feigling, Feigling, Feigling,...

Ich schlage schreiend meinen Kopf gegen die Heizung und erinnere mich dunkel an Belles Stimme, als sie mir einmal sehr gefasst versichert hatte, dass es bei der Behandlung von MPS, der multiplen Persönlichkeitsstörung, keine Verschmelzung der verschiedenen Charaktere gab, sondern immer nur einer überleben könne. Am Tag ihres Verschwindens war vom Einsetzen des Heilungsprozesses gesprochen worden.

-- D. Rialto
 
M

Monfou

Gast
Seelenräume

Liebe Deanna,

deine Geschichte ist ein packender Alptraum! Kafkaesk. Anklänge an Marguerite Duras.Und ein bisschen "Wer hat Angst vor Virginna Woolf". Natürlich ein "inneres" Quartet. Oder nur noch ein innerer Dialog. Meine Sprache arbeitet anders. Aber deine Sprache ist unspektakulär und treffend. Eine Innenschau von einer solch hochsensiblen, ja wahnhaften Choreographie ist ein Lesen, das intensiver ist als Leben. Ottimo! Die am Schluss gebotene MPS-Lösung ist okay, aber der übrige Text ist so exzellent, dass die nachgelieferte Erklärung dem Text die Wirkung etwas nehmen könnte. Ich glaube dir - bis auf ein, zwei Worte im letzten Absatz - alles. Und ich habe, wie der Leser beim Lesen Kafkas - tausend Deutungsversuche. Verstehst du? Muss die MPS-Rückkopplung sein? Dieser Wahn steckt mehr oder weniger in jedem.

10 Punkte!
Toll!
Monfou

PS: Rialto erinnerte mich an Venedigs Brücke, Absicht?
 
Hallo Monfou!

Danke für deine Antwort, ich dachte schon es würde sich gar niemand mehr um den Text kümmern. Es freut mich, dass dir die Story gefällt, ich habe bewusst versucht diesmal etwas in den düsteren, zwielichtigeren Bereich zu wechseln. Die MPS-Lösung am Schluss werde ich jedoch beibehalten; ich stimme dir zwar zu, dass dieser Wahn mehr oder weniger in uns allen steckt und die Rückkopplung darum nicht unbedingt notwendig ist, aber irgendwie liegt einfach mein Herz daran. Nach nochmaligem Durchlesen ist mir selbst aber auch aufgefallen, dass ich an der Sprache noch ordentlich feilen muss - sie ist nicht ausgereift, nicht deutlich genug - ich rede zuviel drumherum :)

Liebe Grüsse,
Deanna

PS: Italien geht schon mal in die richtige Richtung ;) ich hab in fast jeder Sprache, die mir einigermaßen bekannt ist, immer irgendwelche Wörter, die mir vom Klang her besonders gefallen oder mich auf gewisse Weise inspirieren... eigentlich verrückt.. - jedenfalls ist "Rialto" eins davon, aber die Idee mit der Brücke ist auch nicht schlecht - und natürlich logischer! :))
 



 
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