Stundenglasaugen

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Der Tod ist meinen Blicken angeboren.
Lange, schweigende Enden beenden
das Denken und in meinen Sprech
droht immer ein gähnendes Stöhnen
einzufallen. Es kommt von toten Tieren
und langem, schwerem Regen.

Der letzte Atemzug liegt in seinem
Hinterhalt in einem etwas zu langen
Lachen, von dem es keine Rückkehr
mehr geben könnte oder
im Husten bei Nacht. Verschluckt
an der Sternenmilch zucken unsere
Körper im vorweggenommenen Ertrinken
an einem traumlosen Schlaf.

Sterbemilch, worin alles müslihafte schwimmt.
Bis zur Unkenntlichkeit gespült. Reste vom Fest.
Zwanghaft gehetzt ; der Morgen.
Oder warum brennt die Sonne selbst
Sand zu Glas ?

In der Apotheke reichen sie Bitterstoffe
über den Tresen. Der Selbstbehalt ist die
Restsüße Hoffnung. Gott geht nüchtern
durch die klappernden Gebeine. Ich wollte
nur etwas gegen Muskelschmerzen.
Nun habe ich keine Beine mehr.

Der Tod ist meinen Blicken angeboren.
Er spiegelt sich auf dem Glas, das ich empört
zurückgehen lasse: Das hier ist nicht gespült !

Und man geleitet mich freundlich,
aber bestimmt,
hinaus.
 
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sufnus

Mitglied
Hey!
Ein Gedicht über den Tod oder über das Sterben. Das ist vermutlich in allen Kulturen eine kanonische Entität, häufig in der Ich-Form geschrieben. Die japanischen Todesgedichte sind wohl die bekanntesten Vertreter, aber eine lyrische Beschäftigung mit dem Ende der Existenz gibt es natürlich genauso (wenn auch mit anderen formalen Zugangswegen) aus allen Ecken der Welt und zu allen Epochen.
In Deinem sehr schönen Poem, lieber Dio, scheint mir die Vorstellung zentral zu sein, dass uns der Tod von Anfang an (das Bild der Milch!) innewohnt - zunächst ein banal erscheinender Gedanke, da offenkundig jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens sterblich ist, das ist trivial. Aber es geht bei der Vorstellung, dass der Tod Bestandteil unseres Wesenskerns ist, auch darum, dass er essentiell mit unserem Leben verbunden ist, das Leben nicht ohne den Tod vorstellbar sein kann, die Zukunftsvision einer Unsterblichkeit, sei es durch Abschaffen des Alterungsprozesses, sei es durch den Upload der Persönlichkeit in ein virtuelles Speichermedium, ein paradox ist.
Das Rilkegedicht "Schlussstück" fällt mir ein.
Sehr gerne gelesen! :)
LG!
S.
 
Hi @sufnus

vielen Dank für die bereichernde Auseinandersetzung mit dem Text. Besonders schön finde ich, wie du das Bild der Milch im Kontext des Gedichts einordnest. Deine Verweise auf die Historie von Todesgedichten ist interessant! War mir gar nicht bekannt und das Rilke Gedicht passt natürlich wunderbar in den Themenkreis: Gerade wenn es am schönsten im Leben ist, ist der Tod am traurigsten. Ein typsich rilkescher "Superlativ".

scheint mir die Vorstellung zentral zu sein, dass uns der Tod von Anfang an (das Bild der Milch!) innewohnt - zunächst ein banal erscheinender Gedanke, da offenkundig jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens sterblich ist, das ist trivial. Aber es geht bei der Vorstellung, dass der Tod Bestandteil unseres Wesenskerns ist, auch darum, dass er essentiell mit unserem Leben verbunden ist, das Leben nicht ohne den Tod vorstellbar sein kann
Das ist so und in Lyrik -wie ich finde- in besonderer Weise immer auch mitschwingend. Hier lag für mich am Anfang des Gedichts auch eine Frage: Wie würde es sich anfühlen, wenn man mit Stundenglasausgen in die Welt blickt, in allem den Ablauf der Zeit bis hin zum Sterben beschleunigt sieht, in jedem Anfang gleich das Ende mit vorweggenommen ist. Ich kam auf die Idee durch Gespräche mit Kriegsheimkehrern, die mir berichteten, dass "die Berührung durch die Front" eine ähnliche kataklysmische Erfahrung ausgelöst hatte. Sie konnten sich nicht mehr in die normale Gesellschaft eingliedern. Der Tod *in seinem Hinterhalt* war ihr ständiger Begleiter fortan, das Ende (oder die Angst davor ?) in jeder Begegnung vorweggenommen. Und hier endlich, weist das Gedicht wieder vollständig zurück ins Leben.

mes compliments

Dio
 



 
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