Sturm

muskl

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Sturm


Grässlich grinsende blau-schwarze Wolkenmonster zogen über den Himmel. Wenn sie dem Bedürfnis nachgeben und ihre Last ausspeien würden, konnte es nur kompliziert für die Welt ausgehen. Das letzte bisschen Helligkeit wurde von einer tiefschwarzen Wolke mit dem Aussehen eines bösartigen Krebsgeschwürs eingenommen. Sie hatten sich so schnell ausgebreitet, dass das Licht keine Chance mehr hatte Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Was sollte das Licht auch gegen ein Krebsgeschwür machen, vielleicht heller leuchten? Der Wind hatte zugenommen, wobei es nicht klar war, trieb der Wind die Wolken oder umgekehrt. War der Wind verantwortlich für die Geschwüre am Himmel, oder zogen die Geschwüre den Wind und gaben ihm die Geschwindigkeit. Viele Geschwüre gaben viel Geschwindigkeit, damit er sie möglichst weit treiben konnte um ihre ungehemmte Wildheit zu unterstützen. Hemmungslos breiteten sie sich aus und schoben sich nach allen Seiten.

Nachdem die Eroberung des Himmels abgeschlossen war, stand alles für einen Moment still. In dieser Stille lag ein einzelner Mann auf dem Rücken im Gras der Salzwiesen. Es war Herbst und er wusste das ein Unwetter kommen würde. Die ganzen letzten Wochen bestanden schon aus Unwettern, was aber für die Norddeutsche Tiefebene nichts ungewöhnliches war. Von Zeit zu Zeit kam es aber zu besonders großen Wolkenansammlungen, die mit ihrer tiefen Schwärze alles verdunkelten und die Menschen dazu brachte, instinktiv den Kopf einzuziehen.

Er lag dort unbekleidet, in völliger Nacktheit und wartete auf die Bestätigung seiner Befürchtungen. Die Kälte in der Luft und aus dem Boden spürte er nicht, obwohl die feuchte Meeresluft seinen Körper wie mit Stacheln traktierte und das Gras unter ihm diese Kälte angenommen hatte. Um ihm herum war das weite Land der Wiesen und Zäune des Deichvorlandes, auf denen in den wärmeren Monaten friedliche Rinder weideten. Hier und da stand eine kleine Windmühle, die das Wasser für die Viecher herauf pumpte. Vor den Wiesen zog sich langgestreckt der hohe Deich zum Schutz gegen die Sturmflut, Selbst der war eingezäunt, um im Sommer den Kühen den Weg einzugrenzen. Eine Deichscharte aus Beton machte die Durchfahrt möglich, sie wurde bei einer Sturmflut mit Balken verschlossen. Für eine Sturmflut an dieser Küste musste der Wind schon Orkanstärke haben und aus Nordwest wehen, außerdem war es dann meistens so, dass er mehrere Tage ohne Unterbrechung blies, die Flut nicht ganz ablaufen ließ und immer wieder Wasser nachdrückte.

All das traf nicht zu, er wollte auch nichts wegspülen lassen, auch nicht sich selbst, er wollte sich spüren. Er wollte sich spüren und warten, ob das unvermeidliche ihn treffen würde. Er spürte sich nicht mehr seit dem er für den ständigen Schmerz in der Brust die Konsequenzen tragen musste. Jahrelang hatte er es abgelehnt auch nur darüber nachdenken zu müssen, geschweige denn darüber zu reden. Er hatte ein Leben lang seiner Lunge einiges zugemutet, da waren die vielen Zigaretten, er hatte auch lange Jahre mit Teerstraßen dafür gesorgt, dass freie Bürger freie Fahrt hatten. Das die Dämpfe gefährlich waren wussten alle, auch schon damals als er angefangen hatte. Selbst die Firma in der er arbeitete war sich dessen bewusst, aber irgendeiner musste es ja machen und er wurde ja schließlich dafür bezahlt. Er hatte schon einige seiner Kollegen am Krebs sterben sehen und immer wieder hieß es, es waren bestimmt die Dämpfe, aber wer wollte das nachprüfen. Die Firma schickte immer einen Kranz zur Beerdigung, wie sie auch im Leben dafür gesorgt hatte das die Leute bei Laune blieben, so auch im Tod.

Er hatte schon vor längerer Zeit aufgehört die Vorsorgeuntersuchungen beim Arzt für sich in Anspruch zu nehmen. Der sprach in zwar von Zeit zu Zeit darauf an, aber er fand immer einen Grund es zu verschieben. Es war, als hätte er das unvermeidliche kommen sehen, aber beschlossen es durch ignorieren fernzuhalten. Das ging auch eine vermeintliche lange Zeit gut, bis die Schmerzen und der Husten zu stark wurden. Er krümmte sich schon morgens nach dem aufstehen unter dem Husten und der Atemnot. Irgendwann blieb ihm dann keine Wahl mehr sich einer Untersuchung zu entziehen. Die Röntgenbilder zeigten Schatten, die aber auch wer weiß was sein konnten, aber er hatte die medizinische Maschinerie in Bewegung gesetzt und konnte sie nicht mehr stoppen. Schlag auf Schlag kam es zu weiteren Untersuchen, die aber nichts genaues ergaben, man wusste da war etwas, aber nicht was.

In dieser Woche war er kurz im Krankenhaus gewesen, damit sie aus seinem Körper Gewebeproben entnehmen konnten. Er hätte es am liebsten alles gestoppt, sich auf seinem Grundstück in die Sonne gesetzt und den Tag genossen. Aber es war wie ein unvermeidlicher Ablauf, den er selbst nicht mehr steuern konnte. Er stemmte sich zwar mit beiden Beinen in den Boden, aber er wurde weitergezogen. Ein nie gekanntes Gefühl von Machtlosigkeit und Angst hatte von ihm Besitz ergriffen, die beiden Themen waren noch nie seine Freunde und bisher hatte er es immer wieder geschafft sie zu ignorieren oder zu verdrängen. Mit seiner mächtigen inneren Energie war das bisher auch kaum ein Problem, aber diesmal hatte er wohl zu spät reagiert, oder es hatte ihn ignoriert, war ihm überlegen. Irgendwie hatte er das Gefühl viel Energie in seinem Leben verschwendet zu haben, mit dem Kampf gegen die inneren Windmühlenflügel.

Die letzten Tage hatte er auf das Ergebnis der Untersuchung gewartet, die Angst hatte ihn immer mehr ausgefüllt. Das es nichts war glaubte er nicht mehr, aber es gab noch die Möglichkeit von Gut oder Böse. Von Anfang an war ihm dieser Gedanke verhasst gewesen, er konnte nur abwarten und musste sich der Entscheidung ergeben, konnte keinen Einfluss darauf ausüben. Zuerst hatte sich der Umgang mit dieser Situation in kalter Wut gezeigt, er war gegen alles und jeden unfair und ungerecht, was überging in Selbstmitleid und schließlich zu tiefer Traurigkeit führte. Auf diese Art und Weise hatte er seine Umgebung an seinem Problem teilhaben lassen, ihm war zwar kurz der Gedanke gekommen darüber zu reden, aber das war noch nie seine Art gewesen. Er sah keinen Sinn darin auch noch die anderen damit zu belasten, er ließ sie lieber spüren wie schlecht es ihm damit ging.

Heute war ein etwas anderer Tag, er hatte länger als üblich geschlafen, nach einer Nacht voller Träume. Es waren verschiedene Träume, aber in allen hatte er ein tiefes Gefühl von Nähe, das ihn immer wieder im Traum zum Weinen brachte. Seit dem Morgen war er ruhig und in sich zurück gezogen, auf Fragen wusste er keine Antwort, ein Gespräch war nicht möglich. Er wusste das sich seine Umgebung um ihn sorgte, das hatte in den letzten Tagen zugenommen, was ihn aber immer mehr erdrückte. Ohne ihn müssten sie sich keine Sorgen machen, also hatte er doch noch eine Entscheidung. Der Telefonanruf mit dem Ergebnis überraschte ihn nicht mehr.

Das Wetter passte zu seinen Stimmungen, ein starker Wind trieb viele dunkle und helle Wolken schnell abwechselnd über den Himmel. Zwischendurch gab es immer wieder starke Regenschauer, mit denen sich dann auch ein starker Sturm austobte. Das einzige was nicht erschien war die Sonne, kein Lichtblick zwischen all den Wolken. Er stand draußen und ließ jede Wetterstimmung über sich ergehen, vielleicht würde es die Unklarheit seiner Gedanken reinigen, bisher konnte er sich immer auf seine Klarheit verlassen. Auch wenn er kaum mal ein Gefühl zeigte, konnte er sich der Gefühle der anderen sicher sein, er wusste mit seiner geistigen Sachlichkeit eben immer was zu tun war, wenn andere durch ihre Gefühle ins Schleudern kamen. Das machte ihn zu einem gefragten Ratgeber für die praktische Anwendung von Gefühlen, allerdings nur wenn er nichts damit zu tun hatte.

Fast automatisch trugen ihn seine Füße den kurzen Weg zum Außendeichsland, vorübergehende Bekannte grüßte er nur kurz und abwesend. Die erstaunten Blicke die sie ihm nachwarfen spürte er, aber es war ihm egal. Wie sollten sie es auch plötzlich einordnen, ihn an diesem Ort, zu dieser Zeit zu begegnen, das war völlig untypisch für ihn und ihre Welt, die starr ihren Weg ging. Am Deich angekommen, zog er sich völlig aus und ließ seine Sachen achtlos liegen. Er ging ein Stück in die Wiesen und suchte sich seinen Platz, dort legte er sich in das feuchte, kalte Gras und blieb still liegen.

Über und in ihm tobte der Sturm und versuchte ihn fortzutragen, aber er war zu schwer, innen wie außen. In seine Gedanken kamen Menschen die er liebte, sie hatten versucht ihn zu tragen, aber er hatte auch nur da gelegen, er wollte sich nicht tragen lassen. Vielleicht waren der Sturm und er nicht in der Lage ihn zu tragen, es fehlte noch eine Kraft, wie es schien eine entscheidende Kraft. Es war aber keine natürliche Kraft die er einfach erwarten konnte, wie seine eigene oder den Sturm, er musste um diese Kraft bitten und sich tragen lassen.

Diese Erkenntnis und deren eigentlich Selbstverständlichkeit verwirrten ihn, noch mehr aber die Tränen, die mit dem Regen über sein Gesicht flossen. Er fühlte sich allein und ausgesetzt, wie sehr er doch die Menschen um ihm herum brauchte. Uns sie brauchten ihn, nicht nur in der Stärke und Klarheit, sie brauchten seine Schwäche um selbst zur Stärke und Klarheit zu kommen, sie taten ja nichts anderes für ihn. Er hatte sehr oft den Spruch gebraucht, dass das Leben ein Geben und Nehmen sei, er hatte aber nur gegeben, hatte das Nehmen nur als etwas Rücksichtsloses gesehen. Es war die Art des Nehmens, die über gut oder schlecht entschied, nicht die Verweigerung, die Ablehnung bedeutete. Nicht nur das Geben kann helfen, auch das Nehmen. Wenn er sich innerlich ganz klein fühlte, sollte er sich stützen lassen, statt Selbst zu stützen.

Es wurde ganz warm in ihm, er brauchte diese Menschen so sehr und sie brauchten ihn, dafür musste er sie aber auch mit ihm gehen lassen, sie an ihm teilhaben lassen. Bisher hatte er nicht mit ihnen gestanden, sondern über ihnen, um den Überblick und die Kontrolle nicht zu verlieren, aber dabei ging es eher um die Kontrolle über sich selbst. Wenn er seine Schwäche mitteilen würde, wäre sie eine Gemeinsamkeit und würde sich zu einer Stärke wandeln. Er war nicht alleine, viele wollten mit ihm sein, er musste sie bloß lassen und er musste sich lassen.

Er erhob sich aus dem Gras, ging zum Deich und streifte sich die feuchte Kleidung über. Durch die Öffnung des Deiches, der Deichscharte, ging er seinem Zuhause entgegen. Er brauchte auch eine Deichscharte in seinem Deich, wo Menschen durch gehen konnten, um seine schönen Wiesen zu sehen und sich dort auszuruhen, zu einem klaren Gedanken zu kommen. Nicht jede Flut die kommt ist eine Sturmflut.

Zuhause angekommen ging er ins Haus, setzte sich an den Tisch zu seiner Familie die er liebte und fing an zu Weinen. Sie hielten seine Hand, streichelten und umarmten ihn, waren bei ihm in seiner Not und gaben ihm Kraft es zu sagen: "Ich habe Angst vor dem leiden, ich habe Angst vor dem sterben."

2001 / Michael
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
sehr

anrührende geschichte. ich finde, du schreibst wie ein maler. man sieht alles gleich vor sich. und die probleme dieses mannes sind mir so bekannt und vertraut . . .
ganz lieb grüßt
 

muskl

Mitglied
manchmal bringt nur ein innerer Sturm zur Besinnung. Dafür ist die Nähe zur Naturgewalt gewählt, das Land tut sein übriges. Danke Dir, hat gutgetan.
Lieben Gruss
Michael
 



 
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