Sturmangriff

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Damals, in jenen stürmischen Zeiten, waren wir achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Gleich nach der Schule zogen wir in eine richtige Großstadt. Wir hatten bis dahin noch nichts von der Welt gesehen, nur unseren Provinzwinkel. Jahrelang am Gymnasium dem Abitur entgegengeschlafen – und jetzt probierten wir Rollen aus. Er warf sich aufs dramatische Fach. Sein Lieblingsbild war Die Freiheit führt das Volk von Delacroix, sein liebstes Zitat: Ist erst der Vatermord geschehen, dann tanzen sie um die Leiche. Was mich betrifft, so neigte ich schon damals zum Elegischen, und zwar mit strafendem Unterton. Man sollte bemerken, dass ich Karl Kraus gelesen hatte.

Er dachte sich Pseudonyme auf Vorrat aus, wie Jonas Neuzeit oder Yosuah Abgrundt, und schloss seine Briefe mit Venceremos. Ich antwortete ihm einmal: Die Dummheit wird siegen – und gab als Absender auf dem Briefumschlag unser Kreiswehrersatzamt an. Worauf er postwendend schrieb: Du hast mir einen tüchtigen Choc eingejagt, na warte! – Wenn wir uns drei Tage nicht sehen konnten, schickten wir uns Briefe, deren Hauptthema unser Projekt einer Zeitschrift war. Wir dachten uns das so ähnlich wie die Schülerzeitung, nur auf eine uns unklare Weise bedeutender, und stritten vorerst noch über den Titel. Was war besser: Human, wie von ihm vorgeschlagen, oder nach meinem Wunsch: Die Apokalypse?

Um diese und ähnlich wichtige Fragen mit mir zu besprechen, bestellte er mich in den Hof der Universität. Ich war zehn Tage fort gewesen und staunte, als ich ihn von weitem sah. Er hatte die Marotten seiner Schulzeit endlich aufgegeben, dunkler Anzug, Krawatte, Stockschirm und Melone, und trug jetzt lauter buntes, schlabberiges Wollzeug. Diese fahlen Rot- und Grüntöne standen ihm zwar nicht, doch wenn die Freiheit das Volk zur Revolution führt, darf man nicht länger wie ein englischer Börsenmakler aussehen.

Jonas Neuzeit teilte mir sogleich mit, die Erörterung des Namens unserer Zeitschrift müsse verschoben werden, es gebe Wichtigeres, eine Veranstaltung im Audimax. „Maihofer spricht, das heißt, er will sprechen, man wird ihn daran hindern. Jetzt geht es los, es geht los.“ Dabei hüpfte er auf einem Bein, als läge die Leiche des Vaters bereits auf dem gepflasterten Hof.

Im Audimax angekommen, stellten wir fest, dass der Professor nicht dort sprechen sollte. Es hieß, Maihofer halte sein Referat in einem Hörsaal. Nur in welchem? Im Audimax tagte seit Stunden die Vollversammlung. Die rasch wechselnden Redner auf dem Podium ereiferten sich wegen der gestrigen Ereignisse von Heidelberg. Wir verstanden nicht genau, was vorgefallen war. Auf jeden Fall spielte wieder einmal Walter Krause seine unrühmliche Rolle, Krause, der Sozialdemokrat. Er war Minister in Stuttgart. Prophezeit hatte er es den Studenten schon vor einiger Zeit: Ihr werdet die Fäuste der Arbeiter zu spüren bekommen! Nun waren zwar keine Arbeiter, dafür Polizisten handgreiflich geworden, so viel verstanden wir immerhin. Dagegen musste man sich verwahren, man musste sich solidarisieren, man musste Resolutionen fassen.

Die Versammlung endete in einem Tumult. Es entstand ein Wirbel in den Gängen, der Wirbel verdichtete sich zu einer Art Polonäse, und sie führte zu jenem Hörsaal, in dem Maihofer sprechen sollte. Der Professor war noch nicht da. Studenten betraten sogleich das Podium, um dort öffentlich zu diskutieren. Darüber traf der verspätete Professor ein. Er war damals schon nicht mehr Rektor in Saarbrücken und stand gerade am Anfang seiner ruhmreichen politischen Karriere. Er wollte über Die gesellschaftliche Funktion des Rechts sprechen.

Professor F., ein wenig übereifrig, stieß den studentischen Redner vom Podium, um es unverzüglich dem Gastredner übergeben zu können. Man protestierte lautstark. Maihofer zog seine gewöhnliche Flappe und wollte beginnen.

Es trat nun der Student B. vor und forderte von ihm, anstelle seines Vortrages nur einige Thesen zu skizzieren, damit man alsbald über die gestrigen Vorfälle in Heidelberg diskutieren könne. Maihofer, seine Flappe beibehaltend, war nicht erbaut. Er schlug seinerseits vor, die Diskussion dem ungekürzten Vortrag anzuhängen. In der Zuhörerschaft brachen heftige Debatten aus. Maihofer schwieg dazu.

Der Dekan trat ans Mikrofon und schlug eine Abstimmung unter den Versammelten vor. Sie erbrachte indessen nicht das von ihm erhoffte Ergebnis. Eine knappe Mehrheit wollte Maihofer nur kurze Redezeit gewähren. Daraufhin verließen sämtliche Ordinarien den Saal.

Die radikale Mehrheit drängte ihnen nach, wir beide mittendrin. Schon verließ die brodelnde Menge das Gebäude mit ihr noch unbekanntem Ziel. Maihofer (mit unveränderter Flappe, weitere mimische Ausdrucksmöglichkeiten standen ihm nicht zu Gebot) führte die Prozession an. Die Professorenschaft bildete den Schweif des Kometen. In der verfolgenden Hundertschaft hieß es: „Wir stellen sie im juristischen Seminar!“ Dieses befand sich außerhalb vom Campus, einige Straßen weiter. Maihofer wandte dann allerdings eine List an, mit der keiner gerechnet hatte: Er verschwand auf dem Weg ins Seminar samt Kollegen in einer Weinstube. Dahin wollten ihm die Studenten nicht folgen. Hatte man je gehört, dass ein Weinlokal besetzt worden war?

Die Studenten ließen sich nicht irre machen. Zwar waren Maihofer und Gefolge entkommen und auch den Blicken schon entschwunden, doch am Seminar als Ziel der Aktion hielt man fest. Wenn es nicht möglich war, den scheißliberalen Professor zu einer Diskussion auf seinem eigenen Terrain zu zwingen, umso besser, dann besetzte man eben den kampflos überlassenen Platz. Freilich hatte da im Nu eine Verschiebung des Begriffes Ziel stattgefunden, ohne dass es den Teilnehmern des Marsches recht bewusst geworden wäre, nämlich von der Ebene der Handlung ins Räumliche hinüber. Aber auf dergleichen Finessen konnte die sich entfaltende und jetzt einfach bloß abrollende Spontaneität keine Rücksicht nehmen.

Wie sich bald erwies, konnte von kampfloser Einnahme keine Rede sein. Die im Seminar anwesenden Studenten und Assistenten waren gewarnt, sie stellten sich am Eingang der Hundertschaft entgegen. Es kam dort zu hässlichen Szenen. Die Verteidiger waren jedoch in der Minderheit und gaben bald die Treppe zur Bibliothek frei. Professor L., der ewig lächelnde L., versuchte noch, mit einem Scherzwort die Lage zu wenden. Aber von dergleichen Späßen, die in Weinstuben oder an anderen unseriösen Orten enden konnten, hatte man genug – man warf den Professor einfach in die Luft. Binnen kurzem war die Front begradigt. Alle Reaktionäre waren nun hinter der Glaswand, die die Bibliothek vom Treppenhaus trennte. Vor ihr stauten sich die Eingedrungenen.

War es Zufall oder eine für uns undurchschaubare Gesetzmäßigkeit, wir beide, Jonas Neuzeit und ich, wir befanden uns nun in vorderster Linie, genau vor der Glastür, die gerade einer vom Sozialistischen Studentenbund mit dem Dietrich öffnete. Hinter uns drückte die Menge gegen die Glaswand, in Richtung der jetzt offen stehenden Tür. Eile tat Not, die Polizei war sicher schon unterwegs. Alles kam darauf an, dass wir uns in den winzigen Spalt drängten. Jonas Neuzeit und ich, wir sahen uns an, zögerten – und die Sache war entschieden. Die Verteidiger zogen im gleichen Augenblick die Tür zu sich heran und schlossen sie wieder ab. Zwar ging dann noch eine Glasscheibe zu Bruch, doch die Besetzer fluteten bereits zurück. Zehn Minuten später waren wir alle wieder im Hauptgebäude und bereiteten neue Aktionen vor.

Am Ende des Semesters setzte ich mich ab. Ich verließ die Universität und auch die Stadt, meine erste richtige Großstadt. Ich sah Jonas Neuzeit nur noch selten, später gar nicht mehr. Wir wechselten noch Briefe. Nie berührten wir den Versuch, die Bibliothek zu besetzen. Später schrieb er mir, er sei aus dem Sozialistischen Studentenbund ausgetreten und jetzt Redakteur einer trotzkistischen Zeitschrift. Er schloss den Brief mit den Worten: „Ich habe erreicht, was wir wollten, das heißt, was ich wollte.“
 
Lieber Arno, was mir nach dem Lesen deiner Kurzgeschichte durch den Kopf ging:

Momentan erkunde ich die Leselupe beim Lesen vieler Texte in allen Genres. Dein Beitrag "Sturmangriff" ist der erste überhaupt, den ich von dir gelesen habe. Ich hatte bis zu diesem Tag noch nie etwas von Karl Kraus gehört. Schon bei einem kurzen Blick auf seine Person und Werke, habe ich festgestellt, das es ein Versäumnis wäre, sich nicht -gerade- heute noch nachträglich mit ihm zu beschäftigen.

In diesen Tagen, Wochen, Monaten formiert sich in den sozialen Netzwerken eine Art Gegenoffensive, gegen den die Netzwerke beherrschenden, sehr gut organisierten Meinungsterror bestimmter Gruppierungen des "kleinen Mannes".
Der Widerstand dagegen erstarkt durch zunehmende Vernetzung Gleichgesinnter und dem zunehmenden Verständnis füreinander. Auf der Suche nach einheitlichen und erfolgreichen Wegen, der argumentlosen, aber überaus erfolgreichen blau-rot-braunen Strategie begegnen zu können, werden oft Geschichten aus der Jugendzeit ausgetauscht. Ob Schweizer, West-Deutscher, Ost-Deutscher, Österreicher oder Franzose, alle berichten in Verbindung mit mehr oder weniger Gewalt aus dieser Zeit von den gleichen Zielen und Beweggründen. Man bemerkt, das man gar nicht so weit auseinander ist. Genau ab diesem Moment beginnt die Zusammenarbeit derer, die sich sonst ziemlich leicht auseinander dividieren lassen.

In deiner Geschichte kommt ein Aspekt vor, der auch einheitlich so wahrgenommen wird. Während zu deiner Zeit die Polizei noch als Haupt-Gegner und Verteidiger eines verkrusteten Systems galt, sprechen heute, im Zusammenhang mit der Polizei, fast alle von armen Schweinen.

Du schreibst so geschmeidig und unterhaltsam, ich glaube, ich kann nichts falsch machen, wenn ich noch mehr von dir lese.

Beste Grüße !!!
 

Vagant

Mitglied
Hallo Arno;

Nie berührten wir den Versuch, die Bibliothek zu besetzen.
Müsste doch eigentlich heißen: Nie bereuten wir den Versuch, die ....

Ich habe es mit Interesse gelesen, aber länger hätte es für mich in dieser Form nicht sein dürfen. Durch das konsequente Vermeiden von 'show' verebbt der Spannungsbogen dann doch recht schnell und die Erzählung plätschert so dahin.
Nun wirst du sagen: Spannungsbogen? Hatte ich nie im Sinn, wollte einfach nur erzählen, wie es war; und das ist am Ende auch Ok. Aber mir geht es beim 'tell' halt meist so, dass ich da mehr Autor als Geschichte lese. Meint: ich habe dann immer das Gefühl, dass ich heimlich in einem Tagebuch blättere, an Erinnerungen teilhabe die eigentlich nichts mit mir zu tun haben, sondern einzig und allein dem Erzähler gehören. Die Erzählweise schafft es dann auch nicht, mich in die Szenerie hineinzuziehen. Für eine Geschichte finde ich diesen Umstand tödlich. Man sollte doch immer die Möglichkeit haben, sich selbst als agierender Teil der Geschichte vorstellen zu können. Vielleicht liegt ja gerade hier der grundlegende Unterschied zwischen Story und Erzählung. Egal, ich möchte nun auch nicht ein weiteres mal diese sinnlose Diskussion über die 'richtige Rubrik' anzetteln.
Fazit: Gern gelesen, mir Interesse gelesen, aber am Ende fehlte mir da etwas Saft.

Vagant.
 
Lieber Daginius Lard, danke für den ausführlichen Kommentar und das Lob. Nur noch kurz zum Hintergrund des Textes: Er ist schon fast 30 Jahre alt, wurde also nicht im Zusammenhang mit heutigem Parteienstreit geschrieben. Mein Motiv war, als Zeitzeuge einen charakteristischen Ablauf zu gestalten. Damals wollte ich die Fragwürdigkeit aller Akteure aus dem Abstand von fast einer Generation beleuchten. Es sollte keiner wirklich gut wegkommen, weder die Professoren noch die Studenten. An diesen Erinnerungen ist für mich als Autor nämlich das Entscheidende das Läppische, Aufgeblasene, Hohle, Unernste der Aktionen wie Reaktionen. Die beiden Hauptfiguren werden aus einer Perspektive betrachtet, wie sie Flaubert in der "Education sentimentale" gegenüber seinen "Helden" der 1848er Revolution eingenommen hat: ernüchtert.

Es mag sein, dass diese Selbstinterpretation dich nun wiederum ernüchtert. Aber Karl Kraus zu lesen, bleibt natürlich eine lohnende Sache.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Lieber Vagant, nein, von nicht bereuen kann gar keine Rede sein. Etwas berühren heißt ja auch: etwas im Gespräch streifen. Da sie das konsequent vermeiden, kann man annehmen, dass ihnen die Erinnerung eher peinlich ist. Die Geschichte läuft schließlich darauf hinaus, ihr Maulheldentum zu entlarven. Ursprünglich hieß sie "Versuch, die Bibliothek zu besetzen". Als Kurzgeschichte fasse ich sie auf, da sie eine klar abgegrenzte Episode mit Sprengung eines Vortrags und folgender fehlgeschlagener Besetzung eines Seminars darstellt. Die einleitenden Abschnitte und der kurze Ausblick sind natürlich atypisch für eine Kurzgeschichte, sie scheinen mir ausnahmsweise jedoch zum Verständnis notwendig, da einem Großteil der Leser diese Zeit schon sehr fern ist.

Was den Stil angeht, verstehe ich deine Reaktion durchaus. Heute schreibe ich ja selbst ganz anders. Der Text gehört zu den ersten Versuchen, die ich Ende der 80er unternahm.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Damals, in jenen stürmischen Zeiten, waren wir achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Gleich nach der Schule zogen wir in eine richtige Großstadt. Wir hatten bis dahin noch nichts von der Welt gesehen, nur unseren Provinzwinkel. Jahrelang am Gymnasium dem Abitur entgegengeschlafen – und jetzt probierten wir Rollen aus. Er warf sich aufs dramatische Fach. Sein Lieblingsbild war Die Freiheit führt das Volk von Delacroix, sein liebstes Zitat: Ist erst der Vatermord geschehen, dann tanzen sie um die Leiche. Was mich betrifft, so neigte ich schon damals zum Elegischen, und zwar mit strafendem Unterton. Man sollte bemerken, dass ich Karl Kraus gelesen hatte.

Er dachte sich Pseudonyme auf Vorrat aus, wie Jonas Neuzeit oder Yosuah Abgrundt, und schloss seine Briefe mit Venceremos. Ich antwortete ihm einmal: Die Dummheit wird siegen – und gab als Absender auf dem Briefumschlag unser Kreiswehrersatzamt an. Worauf er postwendend schrieb: Du hast mir einen tüchtigen Choc eingejagt, na warte! – Wenn wir uns drei Tage nicht sehen konnten, schickten wir uns Briefe, deren Hauptthema unser Projekt einer Zeitschrift war. Wir dachten uns das so ähnlich wie die Schülerzeitung, nur auf eine uns unklare Weise bedeutender, und stritten vorerst noch über den Titel. Was war besser: Human, wie von ihm vorgeschlagen, oder nach meinem Wunsch: Die Apokalypse?

Um diese und ähnlich wichtige Fragen mit mir zu besprechen, bestellte er mich in den Hof der Universität. Ich war zehn Tage fort gewesen und staunte, als ich ihn von weitem sah. Er hatte die Marotten seiner Schulzeit endlich aufgegeben, dunkler Anzug, Krawatte, Stockschirm und Melone, und trug jetzt lauter buntes, schlabberiges Wollzeug. Diese fahlen Rot- und Grüntöne standen ihm zwar nicht, doch wenn die Freiheit das Volk zur Revolution führt, darf man nicht länger wie ein englischer Börsenmakler aussehen.

Jonas Neuzeit teilte mir sogleich mit, die Erörterung des Namens unserer Zeitschrift müsse verschoben werden, es gebe Wichtigeres, eine Veranstaltung im Audimax. „Maihofer spricht, das heißt, er will sprechen, man wird ihn daran hindern. Jetzt geht es los, es geht los.“ Dabei hüpfte er auf einem Bein, als läge die Leiche des Vaters bereits auf dem gepflasterten Hof.

Im Audimax angekommen, stellten wir fest, dass der Professor nicht dort sprechen sollte. Es hieß, Maihofer halte sein Referat in einem Hörsaal. Nur in welchem? Im Audimax tagte seit Stunden die Vollversammlung. Die rasch wechselnden Redner auf dem Podium ereiferten sich wegen der gestrigen Ereignisse von Heidelberg. Wir verstanden nicht genau, was vorgefallen war. Auf jeden Fall spielte wieder einmal Walter Krause seine unrühmliche Rolle, Krause, der Sozialdemokrat. Er war Minister in Stuttgart. Prophezeit hatte er es den Studenten schon vor einiger Zeit: Ihr werdet die Fäuste der Arbeiter zu spüren bekommen! Nun waren zwar keine Arbeiter, dafür Polizisten handgreiflich geworden, so viel verstanden wir immerhin. Dagegen musste man sich verwahren, man musste sich solidarisieren, man musste Resolutionen fassen.

Die Versammlung endete in einem Tumult. Es entstand ein Wirbel in den Gängen, der Wirbel verdichtete sich zu einer Art Polonäse, und sie führte zu jenem Hörsaal, in dem Maihofer sprechen sollte. Der Professor war noch nicht da. Studenten betraten sogleich das Podium, um dort öffentlich zu diskutieren. Darüber traf der verspätete Professor ein. Er war damals schon nicht mehr Rektor in Saarbrücken und stand gerade am Anfang seiner ruhmreichen politischen Karriere. Er wollte über Die gesellschaftliche Funktion des Rechts sprechen.

Professor F., ein wenig übereifrig, stieß den studentischen Redner vom Podium, um es unverzüglich dem Gastredner übergeben zu können. Man protestierte lautstark. Maihofer zog seine gewöhnliche Flappe und wollte beginnen.

Es trat nun der Student B. vor und forderte von ihm, anstelle seines Vortrages nur einige Thesen zu skizzieren, damit man alsbald über die gestrigen Vorfälle in Heidelberg diskutieren könne. Maihofer, seine Flappe beibehaltend, war nicht erbaut. Er schlug seinerseits vor, die Diskussion dem ungekürzten Vortrag anzuhängen. In der Zuhörerschaft brachen heftige Debatten aus. Maihofer schwieg dazu.

Der Dekan trat ans Mikrofon und schlug eine Abstimmung unter den Versammelten vor. Sie erbrachte indessen nicht das von ihm erhoffte Ergebnis. Eine knappe Mehrheit wollte Maihofer nur kurze Redezeit gewähren. Daraufhin verließen sämtliche Ordinarien den Saal.

Die radikale Mehrheit drängte ihnen nach, wir beide mittendrin. Schon verließ die brodelnde Menge das Gebäude mit ihr noch unbekanntem Ziel. Maihofer (mit unveränderter Flappe, weitere mimische Ausdrucksmöglichkeiten standen ihm nicht zu Gebot) führte die Prozession an. Die Professorenschaft bildete den Schweif des Kometen. In der verfolgenden Hundertschaft hieß es: „Wir stellen sie im juristischen Seminar!“ Dieses befand sich außerhalb vom Campus, einige Straßen weiter. Maihofer wandte dann allerdings eine List an, mit der keiner gerechnet hatte: Er verschwand auf dem Weg ins Seminar samt Kollegen in einer Weinstube. Dahin wollten ihm die Studenten nicht folgen. Hatte man je gehört, dass ein Weinlokal besetzt worden war?

Die Studenten ließen sich nicht irre machen. Zwar waren Maihofer und Gefolge entkommen und auch den Blicken schon entschwunden, doch am Seminar als Ziel der Aktion hielt man fest. Wenn es nicht möglich war, den scheißliberalen Professor zu einer Diskussion auf seinem eigenen Terrain zu zwingen, umso besser, dann besetzte man eben den kampflos überlassenen Platz. Freilich hatte da im Nu eine Verschiebung des Begriffes Ziel stattgefunden, ohne dass es den Teilnehmern des Marsches recht bewusst geworden wäre, nämlich von der Ebene der Handlung ins Räumliche hinüber. Aber auf dergleichen Finessen konnte die sich entfaltende und jetzt einfach bloß abrollende Spontaneität keine Rücksicht nehmen.

Wie sich bald erwies, konnte von kampfloser Einnahme keine Rede sein. Die im Seminar anwesenden Studenten und Assistenten waren gewarnt, sie stellten sich am Eingang der Hundertschaft entgegen. Es kam dort zu hässlichen Szenen. Die Verteidiger waren jedoch in der Minderheit und gaben bald die Treppe zur Bibliothek frei. Professor L., der ewig lächelnde L., versuchte noch, mit einem Scherzwort die Lage zu wenden. Aber von dergleichen Späßen, die in Weinstuben oder an anderen unseriösen Orten enden konnten, hatte man genug – man warf den Professor einfach in die Luft. Binnen kurzem war die Front begradigt. Alle Reaktionäre waren nun hinter der Glaswand, die die Bibliothek vom Treppenhaus trennte. Vor ihr stauten sich die Eingedrungenen.

War es Zufall oder eine für uns undurchschaubare Gesetzmäßigkeit, wir beide, Jonas Neuzeit und ich, wir befanden uns nun in vorderster Linie, genau vor der Glastür, die gerade einer vom Sozialistischen Studentenbund mit dem Dietrich öffnete. Hinter uns drückte die Menge gegen die Glaswand, in Richtung der jetzt offen stehenden Tür. Eile tat Not, die Polizei war sicher schon unterwegs. Alles kam darauf an, dass wir uns in den winzigen Spalt drängten. Jonas Neuzeit und ich, wir sahen uns an, zögerten – und die Sache war entschieden. Die Verteidiger zogen im gleichen Augenblick die Tür zu sich heran und schlossen sie wieder ab. Zwar ging dann noch eine Glasscheibe zu Bruch, doch die Besetzer fluteten bereits zurück. Zehn Minuten später waren wir alle wieder im Hauptgebäude und bereiteten neue Aktionen vor.

Am Ende des Semesters setzte ich mich ab. Ich verließ die Universität und auch die Stadt, meine erste richtige Großstadt. Ich sah Jonas Neuzeit nur noch selten, später gar nicht mehr. Wir wechselten noch Briefe. Nie berührten wir den Versuch, die Bibliothek zu besetzen. Später schrieb er mir, er sei aus dem Sozialistischen Studentenbund ausgetreten und jetzt Redakteur einer trotzkistischen Zeitschrift. Er schloss den Brief mit den Worten: „Ich habe erreicht, was wir wollten, das heißt, was ich wollte.“
 

Vagant

Mitglied
Hallo Arno,
alles klar, nun verstehe ich das mit dem 'berühren', bzw. 'nicht berühren'. Ich muss gestehen, dass ich es so noch nie im Kontext 'nicht über eine Sache zu reden', 'etwas ruhen zu lassen', gehört habe. Ist vielleicht auch eine Sache, die von Landstrich zu Landstrich anders gehandhabt wird. Aber deine Intention ist mir nun klar. Ich bin bei dem Satz nach dem dritten Lesen immer noch ins trudeln geraten, und konnte es, so wie es dort steht, einfach nicht deuten. Danke für die Aufklärung.
Vagant.
 
Deine Selbstreflektion wurde erkannt und ist keinesfalls ernüchternd. Auch die kleine Diskussion von dir und Vagant,macht die Geschichte noch greifbarer. Durch das vereinigte Deutschland ist dieser Teil der Geschichte in gewisser Weise nun auch ein Teil meiner Geschichte, auch wenn deine Vergangenheit nur indirekt Auswirkungen auf meine hat/hatte.
Der dir eigene kritische Blick auf diese Zeit, macht es mir erst möglich, sie besser zu verstehen. Wenn Gerhard Schröder oder Joschka Fischer darüber berichten, klingt das doch ein bisschen sehr verklärt. Ich gestehe jedem gern diese Verklärung zu, wenn er sich an wilde/schöne Jugendzeiten erinnert, deine Betrachtungsweise lässt bei mir aber keinen Zweifel an den Fakten aufkommen. Lese gern mehr davon, egal, wann geschrieben.

Ich fürchte, du hast einen interessierten Leser dazu gewonnen.
 



 
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