Sturmfahrt Chapter 9

Es ist Nacht und auf der Brücke herrscht eine bisher nicht gekannte Spannung. Wir haben unser Kommando erhalten. Es geht in den Südatlantik. Ein NATO-Manöver liegt an. Amerika ade´. Wir laufen durch den Ärmelkanal. Die Ausguckgasten sind besonders vergattert worden alles zu melden, was sie durch ihre Nachtsichtgeräte erkennen können.

Auf dem Radarschirm begreift man sofort warum, eine Menge dunkler Punkte sind hier zu sehen. Einige nähern sich uns mit großer Geschwindigkeit, während andere sich nicht von der Stelle zu bewegen scheinen, das sind die Mitläufer, ihnen gilt die besondere Aufmerksamkeit. Die Entgegenkommer voraus nicht zu vergessen, sie beide, Mitläufer und Entgegenkommer voraus, geben mir meine Fahrrinne vor, von der ich nicht abweichen darf.

Der Ärmelkanal ist eine der meist befahrenen Seestraßen der Welt, die Horrorgeschichten die man sich hier erzählt über Rammings, Totalverlusten und Beinahe Crashs sind schon beeindruckend. Deutlich nehmen wir die beiden Küstenabschnitte von Calais und Dover war. Mein Herz schlägt härter als sonst. Man hat mich extra auf die Brücke beordert, obwohl ich eigentlich mit Steuern nicht dran bin. Ein bisschen stolz bin ich schon darauf, gerufen worden zu sein.

Die See ist ruhig, noch ist sie ruhig, wir wissen, dass sich bald was zusammenbrauen wird, dann müssen wir hier raus sein. Vor uns liegt dann das offene Meer, um genau zu sein die Biskaya, sie ist ein wildes Weib mit harten Hüften. Hier muss man sich von der Küste freihalten. Manch einer hat den richtigen Zeitpunkt verpasst, geriet vielleicht auf Legerwall und schon war es passiert. Die bretonische Küste kann ein Lied davon singen.

Kaum sind wir aus der Abdeckung des Ärmelkanals raus, da beginnt das Schiff zu stampfen. Der Tanz beginnt, denke ich bei mir. Über Bordübermittlung habe ich schon vor über einer Stunde mitbekommen, wie der Seeverschlusszustand ausgerufen wurde. Jetzt sausen unten die „Seeziegen“ wie die Bordaffen durch das Gestänge und zurren alles fest. Die Luken werden geschlossen und die Schotten dicht gemacht. Es wird eine Sicherheitsleine um die Laufwege an der Bordwand entlang, rund einen Meter nach innen versetzt, mit Stützrohren befestigt.

Jeder der sich auf Oberdeck befindet, trägt ab sofort eine Rettungsweste und diese muss bei Arbeiten mit einem Sicherheitshaken an der Sicherheitsleine befestigt werden. Mein Gott das Wetter setzt uns zu. Ich sehe, wie sich die Wellen an den Aufbauten brechen. Von der Back ist schon lange nichts mehr zu sehen. Weiße Schaumkronen die vom Sturm weggerissen und waagerecht gegendie Brücke getrieben werden. Ich habe Mühe das Schiff auf Kurs zu halten. Der Kahn versucht immer wieder nach Backbord und Steuerbord auszubrechen.

Meine Kunst besteht darin, die seitliche Abweichung der Kom- passrose, die man nicht verhindern kann, zu mitteln. Das heißt, weicht das Schiff um 6 bis 8 Zehntelgrad nach Backbord aus, dann sollte die Abweichung nach Steuerbord den gleichen Wert erhalten. Um das zu erreichen, muss ich aus dem Gefühl heraus den Zeitpunkt ermitteln, wann ich das Gegenruder lege, wenn der Bug des Schiffes sich zum Beispiel nach Backbord bewegt. Ich spüre keine Ermüdung, ich bin in einer Stresssituation die aber nicht negativ in Erscheinung tritt, es ist einfach eine völlige Konzentration.

Die Wellen, die jetzt in breiter Front auf das Schiff treffen, lassen es immer dann bis in die Grundfesten erzittern, wenn der Rhythmus der Wellenfolge mit der Auf- und Abbewegung des Schiffes nicht zusammenpassen. So kann es sein, dass sich ein riesiges Wellental auftut, genau zu dem Zeitpunkt, wenn das Schiff aus seiner Abtauchphase nach oben stößt und dann plötzlich unter sich kein Wasser mehr hat. Es wirkt dann für mich wie ein Wal, der seinen Rachen aufreißt um den Krillschwarm aufzunehmen. Dabei kann man unten am Rumpf für Augenblicke die rot-schwarze Bemalung sehen, die sich eigentlich tief unter der Oberfläche des Wassers befindet. Beängstigend wie das Wasser steigt, unser Geschützturm Alpha fängt die riesigen Wellen auf und schüttelt sich nicht einmal dabei. Ich bin hin und her gerissen zwischen Schaudern und Faszination. Ich werde diese Bilder ein Leben lang nicht vergessen.

*​

Mittlerweile wird uns mitgeteilt, dass wir nicht von der Brücke können, wir werden eine Doppelwache schieben müssen. Auf den Schiffen der Fletcherklasse gibt es keine unterirdische Verbindung zwischen Brücke und Mannschaftsdeck. Wer die Brücke verlässt, muss über das Bootsdeck. Das ist zwar der „Zweite Stock“ des Schiffes aber die Gischt jagt jetzt mit voller Wucht über das gesamte Schiff. Die Chance heil einen der Decksluken zu erwischen, die ja dann auch noch über ein Handrad geöffnet werden müsste, ohne sich die Knochen zu brechen, ist zu gering. So vergeht die Zeit und wir kommen uns auf der Brücke unseres Schiffes vor wie eingesperrt auf einer Insel.

Um uns herum tost das Meer mit seiner ganzen Macht und lässt den Zerstörer schwer durch die Wellen gehen. Gigantische Wellenberge jagen über das Vorschiff und zerschellen an den unteren Brückenaufbauten. Der Kaptein sitzt derweil in seinem weichen Ledersessel der auf einem Chromrohr im Boden befestigt ist.
Plötzlich beginnt er zu sprechen, das macht er sonst nie.

„Wenn man bedenkt meine Herren, dass von diesem Schiffstyp in den USA hunderte von Schiffen gebaut wurden, so ist das doch erstaunlich. Denn dieses Boot besitzt nur einen V-Bug und keinen Atlantikbug wie es üblich ist.“ „Der Atlantikbug“, so räsoniert er weiter, „der ja bekanntlich von der Wasserlinie nach oben führt, ist stark nach außen gebogen, um einen größeren Auftrieb zu erhalten und das Eintauchen des Schiffes zu verringern. Der V-förmige Bug dagegen bietet einen glatten Winkel an.

Damit taucht das Boot in jeder Welle tief ein und das Schiff besitzt dadurch bei weitem nicht diese Auftriebsreserven. Er hat schon lange unsere volle Aufmerksamkeit, er ist schließlich der Kaptein, er trägt die Verantwortung, sein Wort ist Gesetz. „Das ist wohl auch der Grund dafür, dass einige dieser Schiffe im II. Weltkrieg ohne Feindberührung abgesoffen sind mit Mann und Maus, denn ab 48° Eintauchwinkel über die Längsachse des Schiffes, ist bei schwerer See die Grenze erreicht.“

Er sagt das im gelassenen Ton, räkelt sich fast genüsslich im Ledersessel und mit Gleichmut starrt er in die tief schwarze Nacht, wo sich haushohe Wellen anschicken, sich mit vereinter Wucht auf unseren Zerstörer zu stürzen. Jim der Telegraphengast, Liliencron und Willi aus der „Nock“ und ich, der Rudergänger, starren ihn sprachlos an, uns steht der Mund offen.

Fast gleichzeitig starren wir auf die an der Decke eingelassenen Messingplatten in Längs- und Querrichtung in die eine Grad- einteilung eingraviert ist. In der Mitte der Platten hängt je ein Messingpfeil an einer Achse Senkrecht nach unten. Bisher hatten wir diese Dinger kaum beachtet, man hätte sie genauso gut als nostalgische Schmuckstücke bezeichnen können, jetzt erhalten sie plötzlich eine übergeordnete, ja lebenswichtige Bedeutung. Aber noch bestand keine Gefahr, befindet sich das Schiff doch gerade in einer Aufwärtsbewegung und der Messingpfeil bewegte sich bei über 20° im Plusbereich. Jim und ich schauen uns kurz an. Jim zeigte seine Zähne, aber seine Lachfalten wirken verkrampft.

Wir wissen, was jetzt kommen würde. Die Gischt prasselt mit Macht gegen das Fenster und die Wasserfontänen, die unsere Fensterfront nicht treffen, fliegen, von den Brückenlampen für Augenblicke gespenstisch ins Visier genommen, als Wasserfahnen über das Bootsdeck. Die Brückengasten waren schon vor geraumer Zeit nach innen beordert worden, denn dort draußen in der Nock wären sie vermutlich stehend ertrunken.

Aber die Macht der Natur kennt keine Gnade und Liliencron, der Brückennockengast muss, ob er will oder nicht, für einen Augenblick nach draußen. Ein kurzes: „Ich melde mich von der Brücke.“ Die Tür fliegt auf und bevor er nach draußen verschwunden ist, heulte der Sturm durch die offene Türe und lässt uns alle schaudern. Auf dem Boden macht sich eine Pfütze breit. Als die Tür ein zweites Mal geöffnet wird, steht der Bursche da mit weißem Gesicht und leicht grünem Teint.

Das Boot ist jetzt mit Fahrstuhlgeschwindigkeit in Abwärts- bewegung und das schon seit geraumer Zeit. Der Flaggenstock samt Vorpik und Wellenbrecher sind verschwunden und die graue, schäumende Masse machte sich wie ein riesiges Ungeheuer daran die Aufbauten von Turm Alpha zu verschlingen. Es scheint uns, als wäre diese Welle genau dafür geschaffen worden das zu erreichen, denn das der gesamte Turm verschwand, war bisher noch nicht geschehen, jetzt war es wohl soweit, ein Drittel des gesamten Zerstörers liegt jetzt unter Wasser.

Die Messingplatte mit ihrem Zeiger ist schon auf über 40° gewandert und es sieht nicht so aus als würde er in seiner Bewegung einhalten. Wir starren die Platte an und 42°, 43° wandern durch. Es herrscht atemlose Stille. Ich schlucke als es auf 45° zugeht. Jim benetzt sich mit der Zunge die Lippen, ein klares Zeichen für seine Nervosität. 46°, der Zeiger ist langsam auf diese magische Zahl gewandert. Es herrscht Totenstille. Schweiß bricht mir aus, ich sehe zum Kaptein hinüber, er sitzt in gelassener Haltung in seinem Sessel und starrt ins Dunkel der Nacht als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen.

Kein Muskel regte sich in seinem Gesicht, kein verräterisches Zucken. Der Zeiger bleibt bei 46°, als wäre er dort eingeschweißt. Wir Vier starren wie gebannt auf den Messingzeiger. Jeder von uns würde ihn jetzt gerne mit dem Finger nach rechts bewegen, aber was würde das helfen? Nach bangem Warten, ganz langsam, als wolle er sich von lieben Verwandten verabschieden, wandert der Zeiger in unsere Richtung, 44° dann 42° und ich spüre, wie der angehaltene Atem aus meiner Brust entweicht. Das war verdammt knapp. Jim der Maschinentelegraphengast und Liliencron aus der Backbord-Brückennock lächeln über das ganze Gesicht. Ist ja noch mal gut gegangen.

Es folgen für uns noch spannende zwei Stunden, aber mit der Zeit gewöhnen wir uns langsam an dieses Spiel, der Zeiger erreicht nie ganz die 48° aber er soll auch wissen, dass er beobachtet wird. Seit ungefähr einer Stunde liegt jetzt das Ruder auf 180° also es geht stracks nach Süden.
Der Orkan hat sich etwas gelegt, noch immer stampft das Schiff schwer in der dampfenden See, aber wir haben es schon gemerkt, die große Wucht, die uns am Ausgang des Kanals schwer zusetzte, hat jetzt ihre Kraft verloren.

Mit dem Nachlassen der Anspannung kehrt auf leisen Sohlen die Müdigkeit zurück, unsere ständige Begleiterin. Auch der Kapitän Gaude macht nicht mehr den fittesten Eindruck, ein alter Mann, mit intelligenten, blauen Augen, die bestimmt schon viel gesehen haben. In mir keimt langsam der Verdacht auf, dass diese Geschichte mit den gesunkenen Schiffen vielleicht von ihm nur erfunden war, vielleicht eine Scharade, um uns wach zu halten. Wenn das wahr sein sollte, ich lächle bei diesem Gedanken, dann ist dieser alte Fuchs verdammt schlau, ich ziehe den Hut, Chapeau.
 



 
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