Es war unser letzter Tag in O. Eine Woche lang hatten wir uns mit den Neuerungen im Immobilienrecht herumgeschlagen, und wie immer, wenn wir zusammenkamen, hatte die Firma keine Kosten gescheut, uns komfortabel unterzubringen und einen ausgewiesenen Experten als Trainer zur Verfügung zu stellen. Zwar ließ sich auch diesmal niemand aus der Chefetage blicken und der Trainer selbst musste die Begrüßung im Namen der Firmenleitung übernehmen, aber immerhin deutete er an, dass einer der Geschäftsführer eventuell zur Verabschiedung erscheinen würde.
Ich hatte schlecht geschlafen in dieser letzten Nacht, weil mich zunächst ein paar Krähen weckten, die im Baum vor meinem Fenster zu krächzen begannen. Später weckte mich das Auf- und Zuschlagen eines Fensters. Kurz vor Sonnenaufgang riss mich Chorgesang aus dem Schlaf, vielleicht aus der nahegelegenen Kirche, vielleicht aus meinem letzten Traum. Am Morgen zeigte sich, dass auch die Kollegen unausgeschlafen waren und am liebsten gleich die Heimreise angetreten hätten.
Im Frühstückssaal stand die Tür zur Terrasse offen. Der Wind kehrte altes Laub herein und verteilte es über die weißen Steinfliesen. Wir nahmen an dem für uns reservierten Tisch Platz und sahen einander beim Aufwachen zu. Einer sagte: Will nicht wer die Terrassentür schließen? Es zieht. Ein anderer stand auf, aber nur, um sich eine Tasse Kaffee vom Buffet zu holen. Dann kam die Frühstückskellnerin, um unsere Bestellungen aufzunehmen. Niemand hatte Lust auf Essen, aber die meisten bestellten sich ein Ei. Da begann das Mädchen zu weinen. Als wir sie nach dem Grund fragten, erfuhren wir, dass sie vor zwei Tagen ihr ungeborenes Kind verloren hatte. Noch ehe wir sie trösten konnten, erschien der Hotelmanager und scheuchte sie weg, nachdem er die Terrassentür geschlossen hatte. "Sie sollten sich heute nicht im Garten aufhalten, sondern ihre Pausen in der Lounge verbringen," sagte er, "es gibt Sturmwarnung." Eine Kollegin war besorgt, dass man deswegen den Busverkehr einstellen könnte und sie nicht rechtzeitig ihren Zug erreichen würde.
Unser Trainer kam als Letzter. Gut gelaunt und ausgeschlafen öffnete er die Terrassentür, um die frische Herbstluft hereinzulassen, wie er sagte. Sofort wirbelte der Wind neues Laub in den Saal und ließ die Tischtücher wie Fahnen knattern. Eine weiße Vase mit Strohblumen fiel um. Der Trainer stellte sie wieder an ihren Platz und holte sich Kaffee vom Buffet. "Sie sehen aus, als hätten sie gestern Abend sehr lange gefeiert, meine Damen und Herren. Aber vielleicht hat auch mein Unterricht Sie so ermüdet. Dennoch: wir werden heute noch einige Beispiele besprechen. Danach können Sie abreisen, mit Gott gehen, wie man so sagt." Er erwähnte auch, dass ihn ein Geschäftsführer angerufen und mitgeteilt hatte, dass man zur Verabschiedung leider nicht erscheinen könne. Der Kollege neben mir meinte, dass die Firmenleitung wahrscheinlich gar nicht existiere und nur eine Stimme aus dem Off sei. Wir lachten verhalten.
In diesem Moment betrat wieder der Hotelmanager den Frühstückssaal. Durch den starken Luftzug wurde sein sorgfältig frisiertes Haar zerzaust. Er beeilte sich, die Terrassentür zu schließen. "Bitte beachten Sie die Sturmwarnung, meine Damen und Herren! Meine Leute räumen gerade den Garten. Sobald sie fertig sind, wird man Ihnen das Frühstück servieren." Auf Nachfrage war zu erfahren, dass die Frühstückskellnerin nach Hause geschickt werden musste, weil sie bei aufziehendem Schlechtwetter den Verstand verlor und Dinge behauptete, die nicht den Tatsachen entsprachen. "Ein altes Leiden," meinte er, "aber sonst eine gute Seele."
Als er den Raum verließ, drückte ein Windstoß die Terrassentür auf und riss die schweren weißen Vorhänge mit sich, die nun das Schließen der Tür behinderten. Die Vasen auf den Tischen begannen zu tanzen und die Kristallluster klirrten im Takt dazu. Ich wollte aufstehen und Ordnung schaffen, aber ich war zu müde und hoffte, dass es jemand anderer tun würde. "Wie gut, dass wir nicht einen Tisch vor der Tür haben," sagte eine Kollegin und lachte. "So schlimm ist es gar nicht, ich schätze Windstärke fünf oder sechs," meinte ihr Nachbar. Der Kollege neben mir wollte die Aussage überprüfen und konsultierte sein Tablet. "Wir müssten nachschauen, ob sich auch die dickeren Äste der Bäume bewegen oder nur die größeren Zweige. Ich würde vermuten, dass wir schon bei Windstärke sechs nach der Beaufort-Skala sind."
Wir standen auf und stellten uns vor die große Glasfront, um die Bäume im Garten in Augenschein zu nehmen. Dort waren drei junge Burschen damit beschäftigt, Holzkisten und Terracotta-Töpfe mit abgeblühten Stauden und Steinbrechgewächsen fortzuschaffen. Sie konnten sich kaum auf den Beinen halten. "Ein imposantes Schauspiel," stellte unser Trainer fest, "der Wind scheint aus allen Himmelsrichtungen zu kommen." Eine Kollegin meinte, dass sich nur die Zweige der Rotbuche, die am nächsten zur Terrasse stand, bewegten. Dem widersprach eine andere Kollegin, die auf die Linde im Hintergrund verwies. Ich hätte nicht sagen können, ob sich da Äste oder Zweige bogen, weil ich kurzsichtig bin und die Bäume noch einen Teil ihres Laubes trugen, die das Astwerk verdeckten.
"Wo bleibt eigentlich das Frühstück," murrte ein Kollege, der neben mir stand. "Will nicht jemand zur Rezeption gehen und nachfragen?" Niemand rührte sich. Da erschien die Frühstückskellnerin, die man zuvor nach Hause geschickt hatte. "Ich muss Sie um Geduld bitten," sagte sie, "es hat einen schrecklichen Unfall gegeben. Unser Herr Direktor wurde von einem Metallschild getroffen und schwer verletzt. Es ist das Schild, das vor dem Eingang an zwei Ketten hängt. Eine war wahrscheinlich durchgerostet. Die Rettung hat ihn mitgenommen." Sie begann zu weinen und ging wieder.
"Da sehen Sie, welche Kraft die Natur entwickeln kann," sagte unser Trainer und rieb sich die Hände. "Mit dieser Kraft ist nicht zu spaßen. Bald wird hier alles in Trümmern liegen und Sie, meine Damen und Herren, können wieder viele hübsche kleine Häuschen verkaufen. So hat eben alles auch sein Gutes." Ich dachte mir, dass jemand die Terrassentür schließen sollte, weil der Sturm nun auch eine Schneise der Verwüstung durch den Frühstückssaal zog. Die Tür zum Foyer stand sperrangelweit offen.
"Wir sind jetzt also bei Windstärke acht oder neun," stellte ein Kollege fest. "Das heißt, die Zeichen stehen auf Sturm."
"Lasst euch nicht verrückt machen," meinte ein anderer, "die Kellnerin hat sich da wieder etwas ausgedacht. Der Manager wird sicher bald auftauchen." In diesem Moment segelte ein Ast in den Raum, dann noch einer und noch einer. Sie verhakten sich in den umgestürzten Stühlen und trieben sie hinaus ins Foyer. Es sah sehr merkwürdig aus und einige von uns mussten lachen. Zwei Krähen flogen mit Geschrei aus der Rotbuche.
"Wahrscheinlich ist es am besten, wenn wir nicht eingreifen. Wir können ohnedies nichts ausrichten," sagte eine Kollegin und unser Trainer gab ihr recht. "Die Natur ist wild und unbezähmbar, aber am Ende verschont sie uns, weil wir ja ein Teil von ihr sind."
"Und das glauben Sie wirklich?" fragte der Kollege neben mir.
"Nun, ich glaube, dass sie nicht das letzte Wort hat, dass es eine höhere Macht gibt, die sie zurückpfeift, wenn sie es gar zu arg treibt," antwortete der Trainer und errötete ein wenig.
"Klingt nach Ehestreit im Himmel," meinte der Kollege zu mir und schüttelte den Kopf.
"Wir hätten die Terrassentür schließen sollen," sagte ich, "man wird uns für die Schäden haftbar machen."
"Ich glaube, das ist jetzt unsere geringste Sorge," flüsterte er, denn in diesem Augenblick stürzte die Rotbuche auf die Glasfassade und ein Splitterregen ging mit Krachen und Sausen auf uns nieder.
Ich bin nun schon seit drei Wochen im Krankenhaus, verletzt an Armen, Beinen und Oberkörper. Die Firmenleitung hat Genesungswünsche an jeden Einzelnen verschickt, bis auf zwei Kollegen, die nicht überlebt haben. Merkwürdigerweise geht mir das Schicksal der Rotbuche mehr zu Herzen. Man hat sie sicher entrindet und in Stücke zersägt. Die Krähen werden das wohl geahnt und nachts darüber gesprochen haben.
Ich hatte schlecht geschlafen in dieser letzten Nacht, weil mich zunächst ein paar Krähen weckten, die im Baum vor meinem Fenster zu krächzen begannen. Später weckte mich das Auf- und Zuschlagen eines Fensters. Kurz vor Sonnenaufgang riss mich Chorgesang aus dem Schlaf, vielleicht aus der nahegelegenen Kirche, vielleicht aus meinem letzten Traum. Am Morgen zeigte sich, dass auch die Kollegen unausgeschlafen waren und am liebsten gleich die Heimreise angetreten hätten.
Im Frühstückssaal stand die Tür zur Terrasse offen. Der Wind kehrte altes Laub herein und verteilte es über die weißen Steinfliesen. Wir nahmen an dem für uns reservierten Tisch Platz und sahen einander beim Aufwachen zu. Einer sagte: Will nicht wer die Terrassentür schließen? Es zieht. Ein anderer stand auf, aber nur, um sich eine Tasse Kaffee vom Buffet zu holen. Dann kam die Frühstückskellnerin, um unsere Bestellungen aufzunehmen. Niemand hatte Lust auf Essen, aber die meisten bestellten sich ein Ei. Da begann das Mädchen zu weinen. Als wir sie nach dem Grund fragten, erfuhren wir, dass sie vor zwei Tagen ihr ungeborenes Kind verloren hatte. Noch ehe wir sie trösten konnten, erschien der Hotelmanager und scheuchte sie weg, nachdem er die Terrassentür geschlossen hatte. "Sie sollten sich heute nicht im Garten aufhalten, sondern ihre Pausen in der Lounge verbringen," sagte er, "es gibt Sturmwarnung." Eine Kollegin war besorgt, dass man deswegen den Busverkehr einstellen könnte und sie nicht rechtzeitig ihren Zug erreichen würde.
Unser Trainer kam als Letzter. Gut gelaunt und ausgeschlafen öffnete er die Terrassentür, um die frische Herbstluft hereinzulassen, wie er sagte. Sofort wirbelte der Wind neues Laub in den Saal und ließ die Tischtücher wie Fahnen knattern. Eine weiße Vase mit Strohblumen fiel um. Der Trainer stellte sie wieder an ihren Platz und holte sich Kaffee vom Buffet. "Sie sehen aus, als hätten sie gestern Abend sehr lange gefeiert, meine Damen und Herren. Aber vielleicht hat auch mein Unterricht Sie so ermüdet. Dennoch: wir werden heute noch einige Beispiele besprechen. Danach können Sie abreisen, mit Gott gehen, wie man so sagt." Er erwähnte auch, dass ihn ein Geschäftsführer angerufen und mitgeteilt hatte, dass man zur Verabschiedung leider nicht erscheinen könne. Der Kollege neben mir meinte, dass die Firmenleitung wahrscheinlich gar nicht existiere und nur eine Stimme aus dem Off sei. Wir lachten verhalten.
In diesem Moment betrat wieder der Hotelmanager den Frühstückssaal. Durch den starken Luftzug wurde sein sorgfältig frisiertes Haar zerzaust. Er beeilte sich, die Terrassentür zu schließen. "Bitte beachten Sie die Sturmwarnung, meine Damen und Herren! Meine Leute räumen gerade den Garten. Sobald sie fertig sind, wird man Ihnen das Frühstück servieren." Auf Nachfrage war zu erfahren, dass die Frühstückskellnerin nach Hause geschickt werden musste, weil sie bei aufziehendem Schlechtwetter den Verstand verlor und Dinge behauptete, die nicht den Tatsachen entsprachen. "Ein altes Leiden," meinte er, "aber sonst eine gute Seele."
Als er den Raum verließ, drückte ein Windstoß die Terrassentür auf und riss die schweren weißen Vorhänge mit sich, die nun das Schließen der Tür behinderten. Die Vasen auf den Tischen begannen zu tanzen und die Kristallluster klirrten im Takt dazu. Ich wollte aufstehen und Ordnung schaffen, aber ich war zu müde und hoffte, dass es jemand anderer tun würde. "Wie gut, dass wir nicht einen Tisch vor der Tür haben," sagte eine Kollegin und lachte. "So schlimm ist es gar nicht, ich schätze Windstärke fünf oder sechs," meinte ihr Nachbar. Der Kollege neben mir wollte die Aussage überprüfen und konsultierte sein Tablet. "Wir müssten nachschauen, ob sich auch die dickeren Äste der Bäume bewegen oder nur die größeren Zweige. Ich würde vermuten, dass wir schon bei Windstärke sechs nach der Beaufort-Skala sind."
Wir standen auf und stellten uns vor die große Glasfront, um die Bäume im Garten in Augenschein zu nehmen. Dort waren drei junge Burschen damit beschäftigt, Holzkisten und Terracotta-Töpfe mit abgeblühten Stauden und Steinbrechgewächsen fortzuschaffen. Sie konnten sich kaum auf den Beinen halten. "Ein imposantes Schauspiel," stellte unser Trainer fest, "der Wind scheint aus allen Himmelsrichtungen zu kommen." Eine Kollegin meinte, dass sich nur die Zweige der Rotbuche, die am nächsten zur Terrasse stand, bewegten. Dem widersprach eine andere Kollegin, die auf die Linde im Hintergrund verwies. Ich hätte nicht sagen können, ob sich da Äste oder Zweige bogen, weil ich kurzsichtig bin und die Bäume noch einen Teil ihres Laubes trugen, die das Astwerk verdeckten.
"Wo bleibt eigentlich das Frühstück," murrte ein Kollege, der neben mir stand. "Will nicht jemand zur Rezeption gehen und nachfragen?" Niemand rührte sich. Da erschien die Frühstückskellnerin, die man zuvor nach Hause geschickt hatte. "Ich muss Sie um Geduld bitten," sagte sie, "es hat einen schrecklichen Unfall gegeben. Unser Herr Direktor wurde von einem Metallschild getroffen und schwer verletzt. Es ist das Schild, das vor dem Eingang an zwei Ketten hängt. Eine war wahrscheinlich durchgerostet. Die Rettung hat ihn mitgenommen." Sie begann zu weinen und ging wieder.
"Da sehen Sie, welche Kraft die Natur entwickeln kann," sagte unser Trainer und rieb sich die Hände. "Mit dieser Kraft ist nicht zu spaßen. Bald wird hier alles in Trümmern liegen und Sie, meine Damen und Herren, können wieder viele hübsche kleine Häuschen verkaufen. So hat eben alles auch sein Gutes." Ich dachte mir, dass jemand die Terrassentür schließen sollte, weil der Sturm nun auch eine Schneise der Verwüstung durch den Frühstückssaal zog. Die Tür zum Foyer stand sperrangelweit offen.
"Wir sind jetzt also bei Windstärke acht oder neun," stellte ein Kollege fest. "Das heißt, die Zeichen stehen auf Sturm."
"Lasst euch nicht verrückt machen," meinte ein anderer, "die Kellnerin hat sich da wieder etwas ausgedacht. Der Manager wird sicher bald auftauchen." In diesem Moment segelte ein Ast in den Raum, dann noch einer und noch einer. Sie verhakten sich in den umgestürzten Stühlen und trieben sie hinaus ins Foyer. Es sah sehr merkwürdig aus und einige von uns mussten lachen. Zwei Krähen flogen mit Geschrei aus der Rotbuche.
"Wahrscheinlich ist es am besten, wenn wir nicht eingreifen. Wir können ohnedies nichts ausrichten," sagte eine Kollegin und unser Trainer gab ihr recht. "Die Natur ist wild und unbezähmbar, aber am Ende verschont sie uns, weil wir ja ein Teil von ihr sind."
"Und das glauben Sie wirklich?" fragte der Kollege neben mir.
"Nun, ich glaube, dass sie nicht das letzte Wort hat, dass es eine höhere Macht gibt, die sie zurückpfeift, wenn sie es gar zu arg treibt," antwortete der Trainer und errötete ein wenig.
"Klingt nach Ehestreit im Himmel," meinte der Kollege zu mir und schüttelte den Kopf.
"Wir hätten die Terrassentür schließen sollen," sagte ich, "man wird uns für die Schäden haftbar machen."
"Ich glaube, das ist jetzt unsere geringste Sorge," flüsterte er, denn in diesem Augenblick stürzte die Rotbuche auf die Glasfassade und ein Splitterregen ging mit Krachen und Sausen auf uns nieder.
Ich bin nun schon seit drei Wochen im Krankenhaus, verletzt an Armen, Beinen und Oberkörper. Die Firmenleitung hat Genesungswünsche an jeden Einzelnen verschickt, bis auf zwei Kollegen, die nicht überlebt haben. Merkwürdigerweise geht mir das Schicksal der Rotbuche mehr zu Herzen. Man hat sie sicher entrindet und in Stücke zersägt. Die Krähen werden das wohl geahnt und nachts darüber gesprochen haben.
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