Suizid

Graue Welt. Regentropfen prallen gegen die Scheibe, fließen als kleine Rinnsale das Glas hinunter und entschwinden meinem Blickfeld. Ich starre aus dem Fenster. Ich sehe die Wolken weinen, meinen Augen gleich. Wie lange mag das schon so andauern? Drei Wochen? Ich weiß es nicht.

Im Kühlschrank steht eine Flasche Tequila. Sie ist nur noch halb voll. Andere Flaschen liegen auf dem Boden herum. Bier, Wein, billiger Fusel. Wann ich sie getrunken habe?
Daran erinnere ich mich nicht mehr. Der menschliche Geist ist schwach. Kaum hat sich die Zukunft in der Gegenwart in die Vergangenheit verwandelt, ist sie auch schon dabei zu verblassen, genauso unbekannt zu werden wie damals, als sie noch die Zukunft war. Die Zeit rast langsam und mit ihr der Strom der Erinnerungen. Flüchtige Eindrücke. Gerade noch in den Nebeln des Morgen verborgen verschwinden die Gedanken und Ereignisse in der Dunkelheit des Vorgestern. Sie überschwemmen mich wie die tödlichen Wogen des Ozeans, und sie lassen mich wieder los, um Platz zu schaffen für einen erneuten Angriff.

Wann ich das letzte Mal die Wohnung verlassen habe? Ich weiß es nicht. Es muß kurz nach meiner Entlassung gewesen sein, vielleicht auch kurz nachdem meine Freundin mich verlassen hat. Nein, das war danach. Sie hat gesagt, sie könne mein
Selbstmitleid nicht mehr ertragen. Und dann ist sie gegangen. Einfach so. Und ich habe sie gehen lassen. Einfach so. Ich habe zugesehen, wie sie ihr hübsches Hinterteil
aus dem Türrahmen herausbewegt hat, in der einen Hand einen Koffer, in der anderen Hand eine Reisetasche. Auf dem Küchentisch liegt jetzt ein Zettel. Darauf steht: "Falls
du es dir anders überlegst:" Darunter die Adresse ihrer Mutter. Meiner Schwiegermutter. Doch der Zettel ist jetzt feucht, stinkt nach Alkohol. Die Tinte ist verwischt. Kaum noch lesbar.

Doch der Regen setzt sich unbekümmert fort. Ein Vorhang aus Wasser trennt mich von den Häusern auf der anderen Straßenseite. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Ich höre,
wie die Reifen durch die Pfützen fahren, wie das Wasser von der Straße auf den Gehsteig spritzt, wie kleine Wassertropfen reißaus nehmen vor den benzinsaufenden
Ungetümen.

Nein, das ist kein Leben mehr. Regenwetter. Suff. Kein Job. Keine Freundin. Nichts, wofür es sich noch zu leben lohnt. Meine Freunde haben mich verlassen. Der einzige Freund, den ich noch habe, steht auf einem kleinen Schränkchen und produziert unablässig Bilder. Bewegte Bilder. Bilder von einer Welt, die es längst nicht mehr zu geben scheint. Ein grotesker Nachruf auf eine Welt, die mich verlassen hat. Nur noch hier spielt sich mein Leben ab, in einem kleinen, viereckigen Kasten. Nur noch hier kann ich täglich noch etwas neues erleben. Und doch sehe ich immer wieder die alten Bekannten. Nein, meine alten Freunde haben mich verlassen, und meine neuen Freunde können mich nicht sehen und nicht hören. Sie sehen mich an, aber ich kann ihre Blicke nicht erwidern. Sie reden mit mir, aber ich kann ihnen nicht antworten, und wenn ich ganz der Welt entgleite und eine weite Reise durch das Land des Suffs unternehme, verschwimmen auch sie vor meinen Augen, bis sie schließlich ganz verschwinden.

Ich habe den Fernseher ausgemacht und sehe nur noch aus dem Fenster. Was macht das für einen Unterschied? Das Fernsehen gaukelt mir eine heile Welt vor, die es sowieso nicht gibt. Eine Welt des Erfolges, des Glücks, und wenn das nicht vorhanden ist, dann wenigstens Abenteuer, Action, Tod.

Ich bin schon längst tot. Für diese Welt. Der Suizid ist ein rein formaler Akt. Ich muß nur ins Bad gehen. Dort sind noch frische Rasierklingen im Schrank. Auch Schlaftabletten,
die meine Freundin hier gelassen hat. Es ist ganz einfach. Ich weiß zwar nicht, was mich auf der anderen Seite erwartet, aber es kann nur besser sein, als dieses
Naß-in-naß-Gemälde, diese Grauerei des Alltags, diese Realität, die mir ständig entgleitet, die nur in den kurzen Pausen zwischen Schlaf, Suff und TV-Träumen präsent ist, nur für einen Augenblick die Sinnlosigkeit dieses Lebens offenbart, das eigentlich kein Leben mehr ist. Lebendig begraben, gefangen in der eigenen Wohnung, das Vorzimmer zur Hölle. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich die letzte Schwelle überschreite.

Mir wird übel. Der viele Alkohol bekommt mir nicht. Ich renne ins Bad, beuge mich über die Kloschüssel, und wieder kommt es heraus - eine gelbbraune Masse, die fürchterlich stinkt. Ich halte mir die Nase zu, aber der Geschmack/Gestank ist überall. Ich spüle mir den Rachen aus, aber es nützt nichts. Nein, ich ertrage es nicht länger.
Dieses Leben ist kein Leben. Längst bin ich tot. Warum stehe ich nicht dazu? Warum quäle ich mich noch weiter damit herum? Warum ziehe ich nicht endlich einen Schlußstrich? Es wird Zeit. Es wird endlich Zeit dafür. Zeit für den letzten, dein einzigen Ausweg: Den Suizid.
 
N

nuzz

Gast
nicht doch!
lass die scheiße.
scheiß auf deine freundin.scheiß auf das wetter.
scheiß auf die situation.nur du bist real in deiner
story.
gleich so heavy einzusteigen, respekt.

lass noch mehr von dir hören!!!


der nuzz
 
Selbst ich bin nicht real in dieser Story. Die Story ist durch und durch erfunden. Real ist nur die Stimmung, mit der ich die Story vor vielen Jahren mal geschrieben habe, also keine Angst, ich bin nicht suizidgefährdet... :)
 

Breimann

Mitglied
Nun ja,

das Thema Suizid ist hier schon in (fast zu) vielen Geschichten beleuchtet, ausgearbeitet worden. Nun ja; es gibt noch Tausend Varianten! Deine Sprache ist gut. Es gibt aber ein paar Kleingkeiten, die nicht stimmen: >...wie sie ihr hübsches Hinterteil aus dem Türrahmen herausbewegt hat...< ist völlig unpassend für die depressive Stimmung. ich würde deshalb noch einmal durchgehen und leicht verbessern.
Dann: >Auf dem Küchentisch liegt jetzt ein Zettel. Darauf steht: "Falls du es dir anders überlegst:" Darunter die Adresse ihrer Mutter. Meiner Schwiegermutter.<
Darin sind wohl gleich zwei Fehler: 1. Ist sie ja doch angeblich seine Freundin, wie kann er dann eine Schwiegermutter haben. Außerdem hätte der Hinweis auf ihre Mutter genügt.
2. Sie hat ihn doch verlassen, weil sie sein Selbstmitleid nicht ertrug. Wieso schreibt sie dann, >"Falls du es dir anders überlegstst..<? Das passt nicht.
Andere kleine Fehler würde ich auch noch ausbauen.
Liebe Grüße und weiterhin so gut geschriebene Geschichten wünscht dir
eduard
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Matthias,

hier kann mich Breimann nur voll und ganz anschließen. Was ich bei solcherart Stimmungsaufnahmen allerdings stets vermisse, das ist die Antwort auf die Frage "Warum?". So bleibt es eben nur eine Skizze.

Gruß Ralph
 



 
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