Tag 10

Kadira

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Tag 10:

"Was passiert mir?", stellte Karl während des Mittagessens endlich die Frage, die schon die ganze Zeit in ihm brannte.

"Was meinst du?", fragte seine Mutter.

"Es passiert was mit mir, aber ich weiß nicht was. Ich kann es einfach nicht verstehen."

"O, ich verstehe", sagte seine Mutter, und einen Augenblick lang glaubte Karl, dass sie es wirklich tat. "Das ist ganz normal in deinem Alter. Nichts ist so schwer, wie das Erwachsenwerden. Du bist ein Teenager, deine Gefühle sind ein konstantes Auf und Ab. Das ging mir auch nicht anders."

Wie gesagt, für einen Augenblick hatte Karl tatsächlich fast geglaubt, dass sie ihn verstehen würde. Er hätte es besser wissen sollen. Außerdem ging seine Mutter hier in eine Richtung, die Karl kein Bedürfnis hatte mit ihr zu besprechen. Nachher fing sie noch von Bienen und Blümchen an... Wahrscheinlich nicht, aber die Alternative war Karl nicht angenehmer. Nein danke. Nicht jetzt und nicht in absehbarer Zukunft. "Mama! Das war nicht was ich gemeint habe!"

"Nein?", seine Mutter sah ihn an, aber ihr Blick war unlesbar. "Schade. Ich hatte da noch so ein paar Geschichten im Hinterstübchen, die ich dir gerne erzählt hätte. So über meine eigene Teenagerzeit."

Karl sah sie entsetzt an. Sie lachte. "Nein, nicht wirklich. Aber es macht einfach zu viel Spaß dich zu ärgern."

"Ha, ha. Sehr, sehr lustig", murrte Karl um die Kartoffel in seinem Mund herum.

"Für mich schon", sagte seine Mutter mit einem leisen Lachen. "Also, wenn es das nicht ist, was ist es dann? Irgendetwas in der Schule?"

Karl glaubte ein beinahe flehentliches 'bitte, bitte' in ihrer Stimme zu hören. Er schüttelte den Kopf. "Es ist was anderes. Ich...alles hat sich in der letzten Woche verändert. Ich sehe Sachen und hab diese merkwürdigen Gefühle, fast wie Vorahnungen. Und Träume, an die ich mich nachher nicht mehr erinnern kann. Es ist... merkwürdig."

Karl konnte den Blick seiner Mutter auf sich fühlen, ernst und nachdenklich, aber er hielt den Kopf gesenkt. Das Gemüse auf seinem Teller schien auf einmal viel interessanter, vor allem wie es eins mit der Kartoffel und der Soße wurde, als er alles miteinander vermischte, bis es eine braune Pampe ergab. "Hör auf zu spielen und iss lieber", sagte seine Mutter. "Es könnten immer noch Nachwirkungen von deiner Grippe sein, Karl", sagte sie dann sanft. "Du warst sehr krank und hast vor ein paar Tagen noch einen Rückfall gehabt."

"Klar das du das sagst", sagte Karl. Er hatte nicht wirklich etwas anderes erwartet. Gehofft ja, aber nicht erwartet. Seine Mutter war halt nicht der Typ, der was mit Visionen und merkwürdigen Träumen anfangen konnte. Tatsächlich war diese Reaktion noch sehr harmlos. Normalerweise hatte sie immer einige andere Reden parat, wenn es um Magie oder anderes Unerklärliches ging, keine davon besonders positiv. Manchmal dachte Karl dass sie sich etwas sehr viel Mühe gab alles zu Nichte zu machen, was nicht rational zu erklären war.

"Könnte es nicht sein?"

"Erinnerst du dich an den Raben in meinem Zimmer?" Seine Mutter nickte. "Er verfolgt mich. Und nicht nur er. Aber ich denke er redet auch mit mir", brachte er hervor, die letzten Worte beinahe nur ein Flüstern. "Das hat wohl nicht viel mit Fieberanfällen zu tun, oder?"

Seine Mutter schnitt unbeirrt das Fleisch auf ihrem Teller, beinahe so, als wenn ihr einziger Sohn ihr nicht gerade erzählt hätte, dass er mit Vögeln sprach. Allerdings hatte sich ihr Griff um ihr Besteck so verstärkt, dass ihre Fingerknöchel scharf hervortraten.

"Hast du mich gehört?", fragte er, als sie nicht direkt antwortete. "Ich rede mit Vögeln. Vor allem reden sie mit mir", sagte er dann noch mal, betont deutlich.

Seine Mutter nickte. "Ich hab das schon beim ersten Mal verstanden. Ich brauche nur etwas Zeit um das zu verarbeiten. Vögel, hm? Und dann noch Raben..."

"Macht es einen Unterschied?", fragte Karl.

"Nicht wirklich. Jedenfalls nicht, solange du nicht auf sie hörst. "

"Heißt das, du glaubst mir?" Karl sah seine Mutter erstaunt an.

"Mach deinen Mund zu, wenn du noch was drinnen hast. Ich glaube, dass du es glaubst", sagte sie letztendlich. Und das war mehr Reaktion, als Karl ihr zugestanden hätte.

"Das heißt?", fragte er vorsichtig.

"Ich glaube dir, aber ich denke, du bist etwas überarbeitet, und dass ist das Ergebnis davon. Die letzten Wochen waren sehr anstrengend für dich. Erst warst du krank, und dann die ganze Lernerei für die Schule, die Aufregung vor Weihnachten, neue Nachbarn, eine Freundin--"

"Ich hab keine Freundin!", warf Karl beinahe sofort ein.

"Nein? Ich dachte du und Melan--"

"Melanie ist ganz bestimmt nicht meine Freundin", sagte Karl mit Nachdruck. "Wir sind höchstens so was wie Freunde. Wenn überhaupt."

"Na, wenn du es sagst, muss es stimmen", sagte seine Mutter mit einem wissenden Lächeln.

~·~·~·~​

"Meine Freundin, ha!", grummelte Karl vor sich hin, als er nach den Schulaufgaben am Fluss einen Stein ins Wasser kickte. "Davon wüsste ich was." Melanie war vielleicht vieles, aber ganz bestimmt nicht seine Freundin. Karl war sich noch nicht einmal sicher, ob er sie mochte. Allerdings hatte seine Mutter damit ziemlich gut von dem eigentlichen Thema abgelenkt, dass musste er ihr lassen. Waren alle Erwachsenen so, oder war es nur ein besonderes Talent seiner Mutter?

"Du solltest deinem Instinkt vertrauen", hörte er auf einmal eine bekannte, krächzende Stimme von rechts. Rechts oben, um genau zu sein. Als er der Stimme folgte, sah er seinen Raben auf einem Ast in der kahlen Eiche neben sich sitzen

"Du!"

"Ich", gab der Rabe zurück und spreizte seine Flügel majestätisch. Sie glitzerten im Licht der Nachmittagssonne.

"Was weißt du schon. Wo warst du überhaupt?"

"Du hast mir gesagt, dass ich verschwinden soll."

"Das hat dich die ganzen anderen Male auch nicht sonderlich interessiert."

"Stimmt", gab der Vogel zu. "Lass uns sagen, ich hatte einen besondern Auftrag und keine Zeit dir auf die Nerven zu gehen."

"Bis auf gestern. Das warst du, oder? In der Schule?"

"Ich bin halt unverwechselbar", brüstete der Rabe sich und streckte sich, so dass er noch größer wirkte. Er war schon imposant, dass musste Karl zugeben.

"Warum hast du das getan?"

"Was?"

"Das mit den Keksen. Die waren für mich, weißt du."

"Du solltest mir lieber dankbar sein. Manches Essen ist ziemlich unbekömmlich. Vor allem das, was so gut aussieht."

Karl sah den Vogel fragend an. "Wovon redest du? Es waren nur Kekse."

"Das denkst du."

"Willst du etwa sagen, dass Melanie was rein getan hat? Das sie mich vergiften wollte? Das ist doch Blödsinn."

"Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Hast du dich niemals über ihr plötzliches Interesse an dir gewundert? Ist schon etwas komisch oder?"

"Vielleicht mag sie mich einfach. So übel bin ich auch nicht", sagte Karl beleidigt.

"Das hat damit nichts zu tun, aber der Zeitpunkt ist schon sehr merkwürdig. Ist es dir niemals in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht einen bestimmten Grund hat?"

Karl zuckte mit den Schultern, sagte aber nicht von seinen eigenen Zweifeln. "Und du denkst sie wollte mich vergiften? Das ist doch etwas weit hergeholt, oder?"

"Vielleicht nicht unbedingt vergiften, sondern eher deinen Zustand nutzen, um deine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken, bevor du zu viel erfährst, und deine eigenen Entscheidungen treffen kannst."

Karl sah ihn mit gerunzelter Stirn an. "Du machst überhaupt keinen Sinn", sagte er letztendlich. "Wovon redest du?"

"Lass es mich anders ausdrücken. Du solltest in der Wahl deiner Freunde vielleicht etwas vorsichtiger sein. Nicht alle sind gut für dich, oder wollen dein Bestes."

"Und das weißt du, ja? Lass mich raten, du bist ganz allein um mein Wohlergehen besorgt?"

"Natürlich. Das ist meine Hauptaufgabe - sicherstellen, dass dir kein Schaden zugefügt wird."

"Und von wem hast du diesen Auftrag?"

"Das kann ich--"

Karl winkte ihn ab. "Lass mich raten, dass kannst du mir nicht sagen?"

Es war doch wirklich immer das gleiche. Tag ein, Tag aus. Karl wunderte sich, ob er irgendwann einmal Antworten bekommen würde. Von irgendjemand.

Er drehte sich um, als er in der Ferne die Stimme der Zwillinge hörte. Er war ganz und gar nicht in der Stimmung für die beiden. Ganz sicher nicht jetzt.

"Flieg doch einfach wieder bei mir vorbei, wenn du mir tatsächlich was erklären kannst, in Ordnung?", rief er dem Raben zu und machte sich auf den Weg nach Hause.

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Entschuldige, dass dermaßen viele Dinge kritisiert werden, aber im Prinzip sind das Kleinigkeiten, die die Thematik der Geschichte und die Aussagen darin nicht schmälern. Natürlich wird's noch etwas reibungsfreier zu lesen sein, wenn die Sachen dann - vielleicht - erledigt sind, aber, wie gesagt, der Text ist wirklich interessant.

Für heute nur Tag 10:

'Was passiert (mit!) mir' - dein erster Satz klingt etwas zu philosophisch und selbstglüblerisch, dabei fragt Karl nur seine Mutter.

Einen Satz könntest du besser umschreiben, nämlich:
'Außerdem ging seine Mutter hier in eine Richtung, die Karl kein Bedürfnis hatte mit ihr zu besprechen.'
=> '...(damit wies) seine Mutter in eine Richtung, (in die zu gehen Karl beileibe kein Bedürfnis verspürte).' Das wäre zum Beispiel eine Möglichkeit...

Den Einfall seiner Mutter bezüglich Melanies und Karls Freundschaft finde ich sehr gelungen, auch Karls Grübelei über den Sinn dieser Aussage passt sehr gut dazu.

Apropos, die Mutter war in dieser Passage für meinen Geschmack nicht geheimnissvoll und ausweichend genug - was aber nichts heißen mag, da ich geheimnissvolle Abschnitte von Grundauf liebe =)

In 'Ich bin halt unverwechselbar' würde ich 'halt' mit 'eben' ersetzen - es klingt einfach überlegter.

Anmerkung: Karl redet trotz der Warnung seiner Mutter mit dem Raben?

Gruß, Elyn
 

Kadira

Mitglied
Hi Elyn,

Oh, du brauchst dich definitive nicht zu entschuldigen. Ich liebe deine ausführliche Kritik!

Ich bin momentan mitten im Umzugsstress (tatsächlich geht es morgen früh um 6 Uhr los, einmal von Spanien nach Deutschland zurück), deswegen habe ich nicht so viel Zeit um ausführlich zu antworten, aber deine Kritik und deine Verbesserungsvorschläge machen mich äußerst glücklich. Vielen Dank, dass du dir die Mühe und Arbeit machst!

Natürlich freut es mich auch zu hören, dass dir die Geschichte immer noch gefällt :)

Die Beziehung zwischen Karl und Melanie ist etwas kompliziert, gerade am Anfang, wird aber noch weiter aufgeschlüsselt werden. Es gibt da so einiges mehr, und es wird auch noch mehr passieren, was sie betrifft.

Karl ist für mich nicht immer ganz einfach zu schreiben. Alle meine anderen Geschichten sind aus der Sicht von Erwachsenen, und manchmal falle ich auch hier wieder in das Muster zurück. Teenager können ganz schön kompliziert sein, vor allem wenn man es nicht gewohnt ist sie zu schreiben *g* Ich werde die Sätze (und sein Auftreten allgemein) auf deine Verbesserungsvorschläge hin noch mal überarbeiten. Danke dir!

Zu deinem letzten Punkt -- natürlich redet Karl trotzdem mit dem Raben. Teenager hören selten auf ihre Eltern, vor allem wenn die Warnungen/Verbote für sie nicht klar nachvollziehbar sind. Karls Mutter hat ihre Gründe dafür, dass sie ihm keinen reinen Wein einschenkt, aber das was sie macht hilft Karl überhaupt nicht und könnte leicht nach hinten losgehen. Aber sie handelt wie die meisten Mütter es wohl tun würden und versucht ihn zu beschützen.

Nochmals vielen Dank für all deine Arbeit! Da ich wohl die erste Zeit kein verlässliches Internet haben werde, werde ich die Zeit nutzen, die ersten 10 Tage mit deiner Kritik im Kopf zu überarbeiten. Das sollte mich erstmal beschäftigen :)

Liebe Grüsse,
Christina
 



 
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