Tagebuch, Rückschau: Wie sehr das Volksfest fehlt (vom 22. 06. 2021)

Wie sehr mir das Volksfest fehlt, ich kann es nicht sagen.
„Es war mir ein Volksfest“ sagt man ja gemeinhin, um echt großes Vergnügen zum Ausdruck zu bringen, das bedeutet was.
Volksfest: Das Fest fürs Volk, für jeden und für alle gleichermaßen.
Das Schöne am Volksfest ist, dass wirklich alles zusammenkommt.
Eine Begegnungszone ist das, ein Knotenpunkt, das kann ich euch sagen, hier findet Gesellschaft zusammen, zueinander, findet statt.
Kann schon vorkommen, das Designer-Dirndl geht neben der Jogginghose mit aufgedrucktem Lederhosenlatz einher und die zwei merken gar nicht, wie ähnlich irrläufig sie einer vermeintlichen Authentizität auf der Spur sind.
Und Gestalten sieht man, die sich sonst übers Jahr in ihren Löchern verkriechen. Die dürfen auch mal ihren Spaß haben, selbstredend.
Jeder ist willkommen.
Der Zugang ist unbeschränkt und schrankenlos.
Es kostet nichts, einmal durchzuschlendern, noch nicht mal Überwindung.

In meiner Stadt kommt der Jahrmarkt normalerweise im Frühling und im Herbst.
Bis zu einem gewissen Jugendalter ist es bei uns eine Selbstverständlichkeit, dass auf den Jahrmarkt gegangen wird.
Mit dem fallweisen Eintritt ins Gymnasium tun sich zwar oft die ersten Standesdünkel auf, aber selbst da hat man die jahrmarktgeprägten Kindheitserinnerungen längst mitgenommen.
Wenn man selber Kinder hat, ist man später wieder fein raus und hat sogar eine Ausrede, wenn eine boshafte Bekannte behauptet, dass sich am Jahrmarkt nur der angesoffene Pöbel trifft.
Dann fängt das Riesenrad, die Geisterbahn und das Kettenkarussell automatisch wieder von vorne an.

Ob ich ein Pöbel bin, weiß ich nicht, aber das Volksfest gefällt mir.
Hier fühle ich mich zuhause, ohne dass ich mich erklären muss.
Aber ich erkläre: Es ist nicht das angesoffene Bierzelt, das mich lockt, denn ich hasse Bier wie nur was. Je älter ich werde, umso eher traue ich mir das laut zu sagen in dieser Heimat.
In anderer Hinsicht wiederum werde ich mit zunehmendem Alter eher feige. Das merkt man daran, dass ich kaum noch in die wilden Fahrgeschäfte einsteigen mag.
Kurz vor Corona hatte es mich zufällig auf ein bayrisches Volksfest verschlagen, das war nicht groß, aber sie hatten ein Karussell auf den schönen Namen ‚Mondlift‘ getauft.
Vor Ort spielte ich auf cooles Desinteresse, aber im Nachhinein hab ich mich sehr über meinen fehlenden Mut, einzusteigen, geärgert. Besonders, als klar wurde, dass die Mondlifte jetzt ewig stillstehen.

Aber nein, das Karussellfahren ist es dann auch nicht, was mich reizt.
Schwer zu sagen, was mich so reizt am Volksfest.
Es ist wohl das absolut Unspezifische, das bedingungslos Inklusive.
Es ist der Raum der Un-Wörter: Ungezwungen, unbefangen, unverbindlich, unverbogen, ungekünstelt, ungeniert, unbelastet, ungehemmt.
Es ist ein Ort für jeden und für jeden Geldbeutel auch.
Was es zu kaufen gibt, ist nie sonderlich teuer und im schlimmsten Fall geht man halt mit einem entbehrlichen Gemüsehobel heim oder einem herrlich kitschigen Stofftier, das man beim Glücksrad oder beim Schießstand gewonnen hat. Nirgendwo sonst auch kriegt man diese Plastikrosen, deren Falschheit von weitem ins Auge sticht.
Es ist großartig.
Riecht nach Frittierfett und nach Bratwurst und dann wieder karamellisiert oder schokoladig.
Du verlierst dich in der Masse ohne verloren zu sein.
In die Meute reinkriechen, keine Berührungsängste.
Man rempelt sich an und lacht und manchmal steigt und kotzt man sich gegenseitig auf die Füße, weil sich Schaumbecher, Langos und Wilde Maus nicht immer gut vertragen.
Dann wischt man sich den Mund ab lacht weiter.
Eintauchen und untertauchen in der Menge, die sich zwischen den Buden vorwärtsschiebt und nichts eint uns außer dem unbändigen Vergnügen des flüchtigen Augenblicks.
Kein Fankult, keine politische Agenda treibt einen an, hier ist man bloß, um hier zu sein.
Für den Moment, da gibt es dieses Miteinander.

Das ist es.
Das fehlt.
Nicht nur mir, das fehlt in einem größeren Rahmen.
Das ist ein unscheinbares Gummiband, das Gesellschaft doch irgendwie lose zusammenhält.
Sehnsüchtig denke ich an die sonnigen Frühsommertage, da sich in der blauen Luft die Zuckerwattefäden mit den fliegenden Samenhaaren der Pappeln am Flussufer verflechten, dass man sie kaum auseinanderkennt und jedermann ist gut drauf.
Man teilt sein bisschen Vergnügen.
Oder die dumpfen Herbsttage, wenn sich die Hände klamm und klebrig vom Zuckerzeug an einem Metallbügel festkrallen, während man sich lustschreiend durch die Luft wirbeln lässt. Dabei schaut man in wesensverwandte fremde Gesichter, die direkt nebenan das gleiche durchmachen und man denkt sich, wenn der Bügel nicht hält, wird man gleich gemeinsam sterben.
Phantastisch.

Jetzt fehlt mir das Volksfest schon so sehr - und es bleibt wohl länger noch dabei, dass uns das Volksfest fehlen wird.
Das ist mehr als fehlende Zerstreuung und Hedonismus.
Derartige Zusammenkünfte, die den Alltag wie beiläufig unterbrechen, gibt es ja doch in jeder Kultur.
Das ist mehr als Jux und Tollerei, das heißt was, wenn das dauerhaft ausbleibt, ernsthaft.
Wir merken es vielleicht nicht so direkt und so gleich, aber es trifft uns wohl mehr ins Herz als man meinen möchte.
 



 
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