Tagebuch von damals, 01. 11. 2021: Allerheiligen

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Allerheiligen: Im letzten Jahr vorsorglich abgesagt, aber heuer darf es sein, der anhaltenden Pandemie zum Trotz.
Eigentlich mach ich mir ja nicht viel aus der jährlichen Friedhofsversammlung, aber mittlerweile ist mir fast schon jede Abwechslung recht, um die einförmigen Tage zu unterbrechen.
Ich für mich muss sagen, dass ich froh bin um eine solche hindernisfreie Zusammenkunft, bei der jeder einfach kommen kann.
Schon beim Anmarsch auf den Friedhof dämmert mir, dass ich mit einer solchen Erwartungshaltung vielleicht nicht allein bin.
Ein riesiger Menschenstrom bewegt sich auf die Friedhofstore zu wie ich ihn, glaube ich, noch nie gesehen habe, sofern ich mich richtig erinnere an eine Zeit vor Corona.
In Zweierreihen pilgern die Massen entlang der efeuberankten Mauer auf dem schmalen Pfad der Friedrichstraße, die hat man extra mal von „Friedhofsstraße“ umbenannt, um das Morbide aus dem Namen zu tilgen. Steht ja doch ein Altersheim in dieser Straße und da macht sich so ein Name nicht wirklich gut, wie man sich denken kann.
Wobei ich glaube, „Altersheim“ sagt man jetzt auch nicht mehr.
„Seniorenresidenz“, „Feierabendhaus“ oder so ähnlich heißt das nun, wo zum Sterben hingegangen wird.

Vom Tod und einer stillen Andachtsstimmung sind die Leute heute aber ganz weit weg, wie mir scheint.
Dabei wäre das Wetter sehr passend grau und neblig wie es sich für den trübsinnigen Anlass gehört.
Viel wird gelacht und fröhlich geschnattert.
Die Menge schiebt sich vorwärts.
Rollatoren und Rollstühle werden geschoben, meist junge Frauen stützen eingeschrumpelte Alte.
Man hält Ausschau nach bekannten Gesichtern und formiert sich zu einträchtig tratschenden Grüppchen, grüßt sich und winkt einander zu.
Alt und Jung ergießt sich schließlich auf die Gräber, da verläuft sich dann alles.
Richtig voll schaut es jetzt zwar nicht aus, aber besser besucht als in normalen Jahren ist es wohl doch.

Alsbald beginnt über Lautsprecher der ökumenische Gottesdienst. Musik, Gebete und die üblichen Worte, mit denen einer gegen die Schrecknisse der Vergänglichkeit und des Abschieds anredet.
Allerdings, ehe es richtig losgeht, fordert uns die Lautsprecherstimme noch freundlich auf, unsere Masken auf dem Friedhofsgelände anzulegen, aber echt keiner tut es.
Wäre aber auch wahrlich widersinnig, total.
Maske hier im Freien, wo mir der Nächste rechts vier Gräber weiter steht und links sind es fünf und so ist es bei den meisten, das macht so gar keinen Sinn.
Fast bin ich stolz auf meine Mitmenschen, dass sie eine derart absurde Anweisung nicht befolgen.
Ich zähle genau drei Maskenträger in meinem Gesichtsfeld, und mein Gesichtsfeld ist weit.

Während der Lautsprecher pathetische Bibelgeschichten erzählt und nicht müde wird, am proklamierten Tabuthema Tod anzurühren, wird ringsum lustig weitergetuschelt. Ein mäßig verschämtes Lachen hört man des Öfteren, so unpassend das sein mag.
Ich verstehe das gut.
Wohl hat man langsam genug vom ewigen Tod und Siechtum und von Bestürzung und Beklemmung auch.
Das haben wir ja jetzt schon seit Monaten ohne Pause, dass sich alles nur noch zurücknehmen soll und ein Dasein wie unter der Käseglocke.
Aber leben will man, selbst hier auf dem Friedhof.
So scheint es mir, aber vielleicht projiziere ich da auch nur mein eigenes Empfinden hinein, wer weiß.
Richtig traurige Gesichter erkenne ich jedenfalls kaum welche; nur eine Frau ganz links hinten muss wiederholt ihre Brille absetzen, um sich von Zeit zu Zeit mit einem Taschentuch über die Augen zu fahren.
Eine andere fährt ihrem Begleiter unentwegt bestärkend über den Rücken.

Ein italienischer Choral ungefähr zur Halbzeit tönt ergreifend schön aus dem Lautsprecher.
Hingegen bei der Predigt könnte man fast auf die Idee kommen, alles Leben wäre nur sinnbefreite, seichte Ablenkung, wo man sich viel besser unentwegt auf den Tod vorbereiten soll.
Ob Religion da nicht ordentlich was verwechselt?

Mir selbst kommt in der halben Stunde, die wir hier mitsammen rumstehen, vor allem beim Rundumblick auf die vielen Gräber, die Idee für meinen eigenen Grabstein.
Beschlossene Sache: Ein Täubchen will ich eingraviert haben und eine integrierte Futterschale für die Gefiederten will ich auch. Die soll immer gefüllt sein. Vielleicht auch eine Vogeltränke, das lässt sich sicher machen.
Ja, das stelle ich mir schön vor, wie meine Todesstatt dann Lebensquell für andere ist; aber wahrscheinlich ist auch das nur eitles Kokettieren mit einem Selbstbild, das ich über den Tod hinaus konserviert haben will.

Auf dem Grabstein schräg gegenüber steht „Schlossermeister“.
Die stolzen Berufsbezeichnungen sind aber die Ausnahme, wie mir auffällt.
Gar komisch würde es anmuten, stünde dort „Busfahrer“, „Putzfrau“ oder „Versicherungsfachangestellter“ geschrieben oder wie man den Broterwerb sonst so nennt dieser Tage. „CEO“, „Prostituierte“, „Erntehelfer“, „Pizzalieferant“: Wir werden albern.
Ich merke schon, tiefgründiger werden meine Gedanken heute nicht.

Nach dem Friedhofsevent und einem schnellen Espresso gehe ich noch meine Waldrunde im Nebel spazieren, ganz für mich.
Als hungerte ich nach einer authentischeren Vergänglichkeit, wie nur die Natur sie zeigt mit ihren welkenden Blättern und pittoresk einschläft vor meinen Augen.
Ich meine, es bleibt dabei.
Ein Grabstein mit Taube drauf soll es werden, und eine Futterstation, das ist weit wichtiger als irgendein Blumenschmuck und Kerzen, auf jeden Fall.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Dichter Erdling,

das ist ein wunderbarer Text - offensichtlich hast Du die 'Zeit' gut genutzt.

Ich habe das früher auch gemacht - an Allerheiligen auf den Friedhof zu gehen. Ich weiß gar nicht, ob das die Evangelen auch machen? Zumindest ist es in D in Bundesländern mit überwiegend evangelischer Bevölkerung kein Feiertag, also wird es wohl etwas Katholisches sein. (Hab mal schnell gegoogelt, ist katholisch ja eigentlich Allerseelen, aber das fällt irgendwie zusammen ...)

Ich finde Friedhöfe wichtig - gerade in der Stadt. Das sind da ja richtige Parks mit riesigen alten Bäumen und Bänken und durch die Hecken braust ein Anklang von Verkehr herein, wird aber durch die Stille des Ortes selbst irgendwie neutralisiert.
In einem rheinnahen Viertel meiner Geburtsstadt Düsseldorf ist ein alter - nicht mehr benutzter - Friedhof auf einem 'Block' jeweils zwischen Hauptverkehrsstraßen. Wenn er nicht unter Denkmalschutz stünde, wer weiß, ob die Fläche nicht schon längst bebaut wäre.

Dein Text bringt mich zum Sinnieren ...

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Petra!

In meiner Stadt gibt es einen besonders schönen, bewaldeten Urnenfriedhof.
Schon als Kind durfte ich dort Eichhörnchen füttern gehen.
Obwohl ich kaum jemanden kenne, der dort in einer Urne begraben liegt, gehe ich auch heute noch gern im Urnenhain spazieren.
Ist schon eine ganz eigene Atmosphäre. Ein kleiner Bach schlängelt sich durch, die oft verwucherten Gräber mit oft interessanten Inschriften, der dichte Baumbestand, Bänke laden zum Verweilen ein…

Auch der Zentralfriedhof in Wien hat mich seinerzeit beeindruckt.
Wo Prominente bestattet sind, geht es allerdings oft weniger besinnlich zu. Das verkommt dann ein bisschen zur trubeligen Pilgerstätte.
Als wir damals in Paris waren, hatten mein Mann und ich schon auch überlegt, Jim Morrison einen Besuch abzustatten – es hat sich dann aber doch nicht ergeben. Im Nachhinein vielleicht schade.

Haben schon was für sich, diese Friedhöfe.

Mit liebem Gruß,

Erdling
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Erdling,

vielleicht hat Paris da ein anderes Verhältnis zu Prominenz - oder bei ihnen liegen andere Arten von Prominenten.

Das Grab von Jim Morrison - fast hätte man es übersehen, halb verdeckt von einem verwachsenen Baum; gerade mal - vielleicht - gefegt. Als wir dort waren, schienen nur wenige Trauernde unterwegs zu sein - ihrem Gebaren nach, nicht der Kleidung. Es war irgendein Ort mit historischer Relevanz - wie so viele in dieser Stadt. Gerade mal eine ungeschickte Kopie als Plan für Pilger - den man braucht, so weitläufg ist das Gelände und so versteckt die Toten.
Pére Lachaise ist ein guter Ort, um vanitas zu begreifen - und gleichzeitig das Leben zu lieben. Vielleicht ist es das, was Friedhöfen allgemein eigen ist.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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