Tagebuch von damals, 02. 11. 2021, 19:00 Uhr: Mozart

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Und wirklich, ich habe ein Schlupfloch gefunden.
Ganz ohne 3G komme ich zu ein bisschen Kultur und Musik. Ohne Geimpft-sein und ohne Ausweis-herzeigen-müssen, eben ganz ohne pandemische Zutrittsregelung.
Davon erfahren habe ich nur durch Zufall.
An Allerheiligen am Friedhof war’s, da gab es nach der Gräbersegnung noch ein paar Durchsagen und Einladungen, unter anderem eben für heute, den Allerseelentag, um 19:00 in der Pfarre Christkönig.
Man nennt sie auch „Friedenskirche“, diese Pfarre, und hier bin ich getauft worden, das ist schon über vierzig Jahre her.
Über der Eingangspforte prangt ein in Stein gehauenes Friedenstäubchen mit goldenem Ölzweig im Schnabel, als wäre die Taube meine Bestimmung von Babytagen an.
In meiner Taufkirche war ich schon lange nicht mehr gewesen.
Heute will ich einer Einladung folgen, die mich an diesen Ort zurückführt, mit dem ich doch irgendwie verbunden bin.

Als ich um dreiviertel vor die Kirche betrete, die jetzt ganz moderne Glasschiebetüren hat, ist schon ordentlich was versammelt.
Fast jede Reihe mit mindestens einer Person besetzt.
Ich selbst setze mich in eine der mittleren Reihen ganz außen; am anderen äußeren Rand sitzt eine Fremde, zwischen uns beträchtliche Meter Kirchenbank.
Der Abstand zu den Vorder- und Hintermännern ist weit geringer, aber man atmet sich FFP2-maskiert gegenseitig in den Nacken.
Vorne das Orchester, der Chor und die Solisten auf schlichten Stühlen vorm farbenprächtigen Altar.
Ich erinnere mich. Dieses Bild habe ich als Kind stundenlang betrachtet, während der einen oder anderen Messe.
Jesus in Haremshosen und seltsame, spitze Feenhüte auf den Köpfen der drei Weisen links, rechts die Muttergottes mit der Menschheit unterm Mantel.
Kurz vor Beginn um 19:00 ist es dann schon richtig voll, als wäre Weihnachten oder so.

Wie die Chose los geht, bin ich wirklich baff.
Majestätisch eindrucksvoll, ernst und getragen fängt das Requiem aeternam an, wie hatte ich vergessen, dass Live-Musik so schön sein kann.
Schneller noch als sonst werden mir die Augen nass, ich muss mit mir kämpfen.
Schaffe es zwar, nicht loszuheulen, aber viel fehlt nicht.
Mozart’sche Perfektion und das traurige Thema außerdem und die Entzugserscheinungen an kultureller Teilhabe, es ist echt viel auf einmal.
Dieses Kyrie, das furiose Dies Irae, das verspielte, fast schon kokette Benedictus… verdammt lang her, dass ich die Stücke gehört hatte, aber ich kenne sie alle, jeden Ton.
Weiß, wann der Sopran einsetzt, die Pauke, der Chor.
Nach dem Kyrie singt die gesamte Kirche einen Choral, der mich auch beeindruckt, aber zum Requiem gehört der nicht.
Zwischen den musikalischen Sätzen findet außerdem noch eine Predigt statt, aber ehrlich gesagt, für mich ist das nur Beiwerk.
Ich bin hier wegen der Musik, wegen Mozart, ich sage es, wie’s ist.
Vorne gedenkt man der Verstorbenen des letzten Jahres.
Ganz schön lange Liste wird vorgelesen, nach zirka zehn vorgelesenen Namen wird jeweils eine Kerze angezündet und Glockengeläut.
Sieh an, einen Namen kenne ich sogar.
Ist die jüngst verstorbene Nachbarin meiner Schwester, wir waren flüchtig bekannt.

Während vorn also gepredigt wird, vernehme ich von hinten plötzlich ein recht wildes Tuscheln.
Erst meine ich, da fängt jemand an mit streiten, aber dann höre ich, wie man von der Rettung redet, die gerufen werden soll, und ich drehe mich um.
Zwei Reihen hinter mir sitzt zusammengesunken eine alte, kleine Frau.
Es scheint ihr nicht gut zu gehen.
Ihre Begleitung, die Tochter vielleicht, hält sie besorgt im Arm.
Ob Kreislaufprobleme oder sonst was, man weiß es nicht.
Die Frau in der Reihe zwischen uns ist die, die die Rettung rufen will, glaube ich.
Die Begleitung meint, es geht schon.
Das nächste Mal, als ich mich umdrehe, fängt die Begleitung an, der alten Frau die dritten Zähne aus dem Mund zu fingern.
Eine Ordensschwester ist nun auch zur Stelle und steht unschlüssig im Mittelgang neben dem Rollator der alten Frau.
Immer mehr Leute drehen sich um und schauen, was da los ist.
Aus meiner Tasche fische ich meine mitgebrachte Wasserflasche, die ich nun erst recht immer bei mir trage, wo ja nicht mehr einfach so in Gasthäuser gegangen werden kann.
Ich reiche die Flasche nach hinten weiter, wo sie dankbar angenommen wird.
Die alte Frau nimmt ein paar Schlucke zu sich und ich hoffe, es hilft ihr.
Noch mehr hoffe ich allerdings, dass es ihr nicht schadet.
Immerhin hatte ich zuvor bereits selbst aus der Flasche getrunken und hatte schon beim Weitergeben ein mulmiges Gefühl.
Kein Wunder in Zeiten, in denen bereits ernsthaft spekuliert wird, ob man einem Verunfallten durch Mund-zu-Mund-Beatmung das Leben retten oder ob man ihn nicht lieber sterben lassen soll, damit man sich unter Umständen nicht mit Corona ansteckt.
Was für Zeiten.
Sollte man der alten Frau kurz vorm Kollaps das einzig verfügbare Wasser vorenthalten?
Gezögert hat hier jedenfalls keiner; weder die Begleitung, noch die Frau zwischen uns und die alte Frau schon gar nicht.
Ich hoffe, das war richtig so.
Keine Ahnung.
Beim nächsten Mal Umdrehen ist die alte Frau samt Begleitung weg.
Ich bilde mir ein, zwischen dem Confutatis und dem Lacrimosa draußen eine Sanitäter-Stimme gehört zu haben, die „Ganz ruhig, das wird schon!“ gesagt hat, aber sicher bin ich nicht.

Nachdem die letzten Klänge des Lux aeterna verklungen sind, will ich endlich klatschen, aber dem Pfarrer obliegt noch die Verabschiedung.
Er dankt dem Dirigenten, der in drei Wochen sein 20-jähriges Dienstjubiläum feiern wird. Zur feierlichen Veranstaltung wird mit Vorbehalt eingeladen, weil man ja nicht wissen könne, ob eine solche Feier dann gesetzlich erlaubt sein wird, sagt der Geistliche.
Dann schließlich darf applaudiert werden.
Ich applaudiere heftig.
Zum Abschluss spielt das Orchester als Zugabe noch ein Stück von Bach.
Was für ein ruhiger, bedächtiger Ausklang. Schöne Idee.
Noch einmal gibt es Applaus und spontan springe ich auf und gebe Standing Ovations wie einige andere auch.
Wirklich bin ich dankbar für dieses Erlebnis heute.
Für jeden Musiker einzeln bin ich dankbar, für den glockenhellen Sopran besonders, wirklich, als wäre man selbst schon im Himmel, so war das.
Und zum ersten Mal wirklich dankbar bin ich für eine Kirche, die jeden prinzipiell willkommen heißt.
Noch einmal muss ich mit den Tränen kämpfen, aber es geht gut. Verloren habe ich diesen Kampf ja noch nie, nicht wegen Musik jedenfalls.

Beim Rausgehen habe ich noch kurz das Gefühl, ich hätte mir grade unrechtmäßig was erschlichen wie eine Betrügerin.
Als hätte ich Mozart und Bach gar nicht verdient, aber das verdränge ich schnell.
Was wohl aus der alten Frau geworden ist?
Wegen der Wasserflasche packt mich ein anderes schlechtes Gewissen.
Wofür man das heute schon haben kann.
Vor der Kirche jedenfalls keine Spur von alter Frau samt Begleitung und Rettungswagen ist auch keiner zu sehen.
Leise summe ich das Benedictus nach und ziehe ab.
 

petrasmiles

Mitglied
Was ich erschreckend finde - das ist jetzt zwei Jahre her - und klingt so abwegig, und nicht wie gelebte Realität von Millionen.
Da hat uns das Geschehen aber schnell eine Tür weiter gescheucht zur nächsten Katastrophe ... und immer so weiter ...

Um so besser, dass Du das dokumentierst.

Liebe Grüße
Petra
 
Ich habe gut mitgeschrieben während der letzten Jahre, ich konnte gar nicht anders.
Da hat sich viel Material angesammelt.
Und wer weiß, vielleicht wird es eines Tages noch relevant.
 

petrasmiles

Mitglied
Also, die Berliner Zeitung bringt öfters Artikel, die sich mit dem Thema beschäftigen - das ist auch der Vorteil einer Printausgabe, man blättert auf und sieht einfach angebotene Texte; internet ist so 'absichtsvoll', eher fürs suchen als finden gedacht.
Nun lässt sich ja nur mutmaßen, wie häufig diese Artikel wahrgenommen werden, auch, wenn die an Kennzahlen interessierte Industrie sich schon viel einfallen lässt...
Nein, ich denke, da ist Interesse. Ich fürchte, da geht es insgesamt um ein Krisenproblem: die eine jagt die andere. Man kommt kaum zum Atmen.
Und wir haben einen Mediensalat, der immer das neueste Problem hochstilisiert und andere verdrängt. Und ich sehe auch zunehmende Tendenzen der Steigerung der Bedrohungsszenarien. z.B. gab es vor 18h im ZDF im so eine Promi-Sendung, albern und harmlos. Und jetzt gibt es an dem Sendeplatz 'hallo Deutschland' mit der Darstellung von echten Kriminalfällen - als wären nicht schon fiktive Kriminalfälle Hauptbestandteil des Programms.
 
Die Berliner Zeitung ist auch mir wiederholt positiv aufgefallen während der letzten Jahre.
Aber nur eine Zeitung reicht halt nicht, um einen Diskurs in der Breite anzuregen.

„Probleme dieser Tage werden gar nicht erst gelöst, sondern werden nur abgelöst von wieder neuen Problemen. So summieren sich die Probleme, dass es schon eng wird in den Nachrichten…“ heißt es in einem meiner Beiträge, den ich für den „Freitag“ zum Thema „Aufmerksamkeitsökonomie“ geschrieben habe. (https://www.freitag.de/autoren/freitags-erdling/aufmerksamkeitsoekonomie-neue-rubrik)
In deiner Replik klingt eine ähnliche Zeitkritik an, wie mir scheint.

Kriminalfälle und das ewige „Whodunit“ locken mich schon lang nicht mehr hinterm Ofen hervor.
Aber leider, du hast recht, nimmt diese Thematik immer mehr überhand im TV.
„Augenzeuge Kamera“, „Killer Couples“, „Wenn Frauen töten“…, dazu der ewige „Tatort“-Reigen und jetzt immer mehr Trend: Der Krimi mit geographischem Bezug: der „Lissabon“-, „Zürich“- oder „Kroatien“-Krimi, SOKO München/Leipzig/Donau usw.
Gähn.
Das Fatale daran ist, dass es dem Publikum fortwährend suggeriert, der nächste Mitmensch könne immer auch ein brutaler Mörder sein, oder, im Fall von „Augenzeuge Kamera“ wird die ohnehin ausufernde Überwachung nochmal zusätzlich propagiert. Der Subtext: Wie gut, dass die Überwachungskamera schon überall mit dabei ist; dank ihr können wir nun diesen oder jenen Fall auflösen…

Es gefällt mir so vieles nicht, was ich um mich herum wahrnehme.

Von den echten Problemen wird entweder abgelenkt oder sie werden total einseitig in einem grotesk engen Rahmen diskutiert – nur um irgendwann von wieder neueren Problemen verdrängt zu werden.
 



 
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