Tagebuch von damals, 08. 11. 2020: In der Kirche

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In der Kirche, da war ich schon lange nicht mehr.
Wäre bestimmt auch gestern nicht hingegangen, hätte die Familie meines Mannes nicht wie jedes Jahr eine Messe für die verstorbenen Verwandten aufschreiben lassen.
„Messe aufschreiben lassen“ bedeutet, dass der Pfarrer im Verlauf der regulären Messe eine gekaufte Bemerkung einstreut. Beim Gedenken an die Toten im Allgemeinen wird dann im Besonderen die Familie xy namentlich erwähnt.
Nicht, dass es sich bei meiner Schwiegerfamilie um besonders gläubige Menschen handeln würde.
Das mit dem Messe-Aufschreiben ist eher eine traditionsgeschwängerte Gewohnheit, die vor allem an die Religiosität meiner verstorbenen Schwiegermutter anrührt.
Die hat das mit dem Glauben aber auch wirklich ernst gemeint und das christlich Gute im Herzen getragen, das kann ich ehrlich anerkennend sagen. Ich habe sie ehrlich gemocht.

Im geschlossenen Kirchenraum wird heute natürlich Maske getragen, zudem ist jede zweite Kirchenbank gesperrt und aufgehängte Papierzettel gemahnen zum Abstandhalten.
Auch der Pfarrer, die Ministranten und andere Handlanger kommen maskiert herein.
An der Kanzel vor dem Mikrofon nimmt der Prediger den Mundschutz aber ab.
Ich zähle an die fünfzig Leute, die sich zum Gottesdienst eingefunden haben.
Ich zähle schon auch aus purer Langeweile heraus, weil ich dem Kauderwelsch des brasilianischen Pfarrers nicht wirklich folgen kann. Da würde auch der Mundschutz keinen Unterschied machen; dieser Singsang aus deutschen Stichwörtern, die mehr Akzent als Deutsch sind, ist schwer zu verstehen.
Eine wirklich wirre Geschichte von 10 Jungfrauen, die ihren Bräutigamen mit Öllampen entgegengehen, wobei fünf törichte Weiber das Reserve-Öl zu Hause vergessen haben, und dann ist die Tür der Kirche verschlossen und fünf sind beim Heiraten draußen oder so. Keine Ahnung.
Es geht doch immer nur ums Öl, denk ich mir.
Vielleicht auch ums Glaubenslicht, das man ständig in sich nähren muss, weil man ja nie weiß, wann der Tag X kommt. Wie gesagt, ich verstehe nicht viel.

Vom Öl und vom Brot ist dann auch noch weiter viel die Rede, und weil ich Hunger habe, habe ich unwillkürlich ein fluffiges Weißbrot vor Augen, das sich in köstliches Olivenöl tunken lässt.
Meine Nichte neben mir hat scheinbar auch Hunger. Das höre ich an ihrem knurrenden Bauch, obwohl wir anständig abständig voneinander sitzen, wie es die Gebotstafeln gebieten.
Diskret reiche ich ihr ein Karamellzuckerl und wir scherzen leise über die Folge mit Mr. Bean in der Kirche, wo er sich ziemlich vergeblich ein raschelndes Bonbon unauffällig in den Mund schieben will.

Zu meinem Erstaunen reicht auch der Pfarrer die Hostie an die Gläubigen weiter.
Ich hätte gewettet, dass dieser Programmpunkt heute ausfallen wird.
Vor der Eucharistie tritt noch eine Frau ans Mikrofon und erklärt den Ablauf:
Mit Maske vor den Pfarrer treten, die Hostie in Empfang nehmen.
Zwei Schritte nach links, Maske abnehmen, Hostie in den Mund stecken, wegtreten.
Und so geschieht es tatsächlich, ich beobachte das Geschehen.
Bin ja kein Experte für Kirchenfragen, aber es scheint wichtig zu sein, bei der Einnahme der Hostie gen Altar zu blicken, denn so wird es konsequent gemacht.
Nicht immer wird dabei der Sicherheitsabstand eingehalten.
Das Fließband der Gläubigen stockt an manchen Stellen, wo Einzelne zu andächtige verharren oder einen Knicks zur Fleißaufgabe hinlegen.

Gesang gibt es nur einmal, da legt wieder eine andere Frau am Mikrofon ein Sopran-Solo hin. Näher kommt man an Konzerte zurzeit ja nicht ran.
Zwar ruft der Prediger einmal auch zum gemeinschaftlichen Singen auf - das habe ich ausnahmsweise deutlich vernommen - aber dann fängt die kleine Glaubensgemeinde einhellig an, das Hosanna nur runter zu beten.

Praktisch am Mundschutz ist, dass es nicht so auffällt, wenn man etwa das Glaubensbekenntnis nicht mitsprechen möchte.
Etwa, weil man eben nicht wirklich dran glaubt.
Ich meine, es scheitert bei mir ja schon an der ersten Zeile, beim „Schöpfer des Himmels und der Erde“ und wird beim „Glauben an die heilige katholische Kirche“, wo sich die oft entfremdete Institution kontinuierlich in die Glaubensköpfe einsprechen lässt, nicht besser.
Ich hatte mal eine richtig gute Religionslehrerin, die uns das Glaubensbekenntnis phrasenweise zerpflücken ließ. Wir sollten anstreichen, woran wir wirklich glauben könnten.
Meist ist da nicht viel übriggeblieben, also bei mir nicht.
Daran muss ich seitdem immer denken, wenn ich das Bekenntnis mitsprechen soll.
Meine Nichte ist ebenfalls froh, dass dank Maske eine mangelnde Mundbewegung nicht mehr verraten kann, aber aus anderen Gründen. Sie kennt den genauen Wortlaut noch nicht mal.

Gespannt bin ich auch auf den Friedensgruß.
Ich lerne so denn, dass man sich beim „Friede-sei-mit-dir“ nunmehr freundlich zunickt anstatt sich versöhnlich die Hände zu reichen.
Das finde sogar ich als Kirchenfremde einigermaßen schade und merke, dass hier etwas Bedeutsames verloren geht.

Übrigens sind wir heute die einzige Familie, die eine Messe hat aufschreiben lassen.
Es wird nur unser Name genannt, wo sonst mehrere hintereinander aufgezählt werden.
Heute sind wir scheinbar die VIPs im Ort, die „Very Important Passed-aways“.

Zu Ende ist die Messe um ca. 19:45 Uhr, das ist reichlich knapp vor Ausgangssperre.
Mit dem geselligen Tratsch vor der Kirche, im Freien, verschiebt sich die Abfahrt weiter und weil wir noch 25 Kilometer Fahrt vor uns haben, sind mein Mann und ich an diesem Tag erst gegen halb neun daheim.
Die Straßen sind nach Acht mitnichten leer. Es sind dann doch einige Autos unterwegs, Fußgänger kaum.
Gott sei Dank schaffen wir es, zu Hause anzukommen, ohne dass wir aufgehalten, gerügt oder gestraft worden wären.
 

petrasmiles

Mitglied
Wieder ein trockenes memento corona ... dieses Mal mit einer Prise feinem Humor.
Ich weiß gar nicht, ob wir in D eine Ausgangssperre hatten ... ?
Gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 



 
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