Tagebuch von damals, 28. 10. 2020: Grabpflege

4,00 Stern(e) 1 Stimme
Der Friedhof ist heute bei weitem nicht so beschaulich wie unterm Jahr, und gar nicht einsam. Es wuselt geradezu vor Bewegung, wenn auch relativ lautlos.
Überall wird gepflanzt und gepflegt, auf dass sich niemand eine Schlamperei oder eine Lieblosigkeit gegen seine Vorfahren nachsagen lassen muss.
Wir sind auch da.
Meine Schwester und ich richten das eine Grab, auf dem nachweislich unser Familienname eingraviert ist.
Dabei ist heute nicht mal viel zu tun.
Die traditionellen Erika-Pflänzchen, die ich schon vor Wochen eingegraben hatte, haben die Zwischenzeit gut überlebt.
Es braucht nur noch ein passendes Gesteck in der Mitte, frische Schnittblumen für die Vase, bisschen Unkraut ausrupfen und weißen Kies ums Grab herum ausstreuen, dann ist das Tagwerk getan.
Weil es sich anbietet, helfe ich auch der alten Frau am Nebengrab und wische die Grabumrandung der ihrigen sauber. Ist doch selbstverständlich, ich bücke mich ja noch leicht.

Richtig kalt ist es geworden, sodass man sich die Jacken schon zuknöpfen muss.
Die Steinblöcke, die Erde, die Luft; alles scheint heute besonders kühl, starr und schwer, und überbetont traurig.
Noch nicht mal das kleinste Leben habe ich beim Stochern in der dunklen, feuchten Graberde gefunden. Keine Schnecke, keinen Regenwurm; noch nicht mal etwas, das krabbelt.
Am Ende sind meine Finger nur klamm und schmutzig vom Ackern, und nur kaltes Wasser zum Händewaschen im Waschraum.
Absichtlich betrete ich diesen ohne Maske, weil die Maske beim Aufsetzen mit Erdfingern nur dreckig würde. (Niemand rügt mich.)
Zurück am Familiengrab bestätigt der letzte prüfende Blick, dass wir fertig sind.
Wenn es auch keiner bewerten wird dieses Jahr – die Friedhofsversammlung ist ja abgesagt – es muss sich nicht für unser Grab geschämt werden. Es sieht ganz gut aus, wenn man von diesem kitschigen Barockengel absieht, der sicher nicht meine Idee gewesen ist.
Nun noch das Grablicht in der Laterne anzünden.
So stehen wir eine Weile schweigend nebeneinander, meine Schwester und ich.
Zupfen hie und da noch was zurecht und tun für den Rest der Zeit andächtig, ohne wirklich in eine Andacht hineinzufinden.
Ich für meinen Teil fühle mich viel zu gedrängt und beobachtet, um ein stilles Gespräch mit meiner Oma, die hier begraben liegt, anzufangen.
Dabei hab ich meine Oma richtig gern gehabt; aber das mit der Andacht geht nur, wenn ich allein bin mit ihrem Grab.
Also immer noch stehen wir Schwestern ziemlich sinnlos um die Ruhestätte herum, und niemand will der ungeduldige Aufbruchsmahner sein.

Allenthalben ist es angemessen friedhofsruhig - trotz der emsigen Grabpfleger – aber dann plötzlich zerreißt es die Stille und ein steinerweichendes Schluchzen zerreißt einem das Herz.
Die Geräuschquelle ist leicht zu lokalisieren.
Eindeutig kommen die Laute von rechts vorne.
Dort stehen drei Leute vor einem frischen Erdhaufen beisammen, engumschlungen, und die eine Frau kann offensichtlich nicht mehr an sich halten.
Minutenlang weint und wehklagt sie vor sich hin und will gar nicht mehr aufhören. Schluchzt und schnieft in den Mantelärmel, welcher dem Mann an ihrer Seite gehört.
Betreten schaue ich vor allem zu Boden und spüre, wie es auch mir die Tränen in die Augen treibt. Das geht bei mir ja vollautomatisch, da reicht auch nur einigermaßen schöne Musik. Meist ist es mir unangenehm und peinlich, dass man mir meine Ergriffenheit so ansieht, und grade eben geht es mir nicht anders.
Indes steht die verzweifelt Weinende gar nicht weit von mir.
Einmal treffen sich unsere Blicke rein zufällig.
Keine Ahnung, ob die tröstende und mitfühlende Absicht bei ihr ankommt, aber mehr kann ich sowieso nicht tun.
Bin schließlich froh, dass wir für heute den Friedhof wieder verlassen.
 



 
Oben Unten