Tagträume

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John Wein

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Tagträume

Unter Varanger, 70° Nord, Kurs West und beinahe geräuschlos, kreuzte die Havila Castor im spätmittäglichen Licht in der flockenverwirbelten Barentssee. Nicht das übliche Stampfen oder Brummen, sondern monotones Summen, war im Allgemeinen die Wahrnehmung ihres Antriebs und das auch nur, wenn man unbedingt darauf achtete. Das Hybridschiff bedient in Norwegen die Postroute zwischen Bergen und Kirkenes in erster Linie mit elektrischer Kraft.

Der Hafen Kirkenes, weit oben in der Finnmark, lag sieben Stunden zurück und das Rollen und Schlingern, das ich noch gestern von der offenen Flanke des Polarmeers als unbekömmlich in Erinnerung hatte, war heute einer nahezu gleitenden Fahrt über das Wasser gewichen. Hier oben an Deck 9, steuerbords im gemütlichen Sessel der Panorama Lounge, hatte ich mich mit meinen Büchern und Landkarten vergraben und suchte mit Stielaugen auf der Halbinsel Varanger eine Landmarke zur Orientierung. Seit Schultagen war es meine Leidenschaft gewesen, die geografische Wirklichkeit mit ihrer kartografischen Entsprechung zu vergleichen, um stets den Standort in meinem Lebensuniversum präzise ermitteln zu können.

Ohne die Spuren eines harten Lebens im Gesicht, passe ich doch ziemlich genau in das Profil eines Siebzigjährigen, den die Zeit an einer Abbiegung vergessen hat. Angesichts der abnehmenden Zukunft sind meine Weltrettungsambitionen längst einem gefestigten, inneren Gleichmut gewichen. Jedes Jahr, an jedem neuen Geburtstag habe ich den Eindruck, als wäre das zurückliegende Jahr wieder kürzer gewesen, als das zuvor, so sehr gleichen einander inzwischen die Jahre,

Den Kopf in die Hände gestützt, saß ich reglos und gedankenverloren endlose Minuten da und starrte durch die großen Panoramascheiben in die unendliche Weite des Meeres, während draußen allmählich das Licht zu versickern begann und die nördliche Welt einer weniger greifbaren, dunklen Wunderwelt wich. Weiter unten, im Süden über dem Land mit seinen braun- und ockerfarbigen Tönen, lag noch immer ein goldener Streifen der tiefstehenden Sonne der Nordhalbkugel und vermittelte das Vorwärtskommen des Schiffes.

Dort, auf der Halbinsel Varanger, startete Roald Amundsen einstmals seine Nordpol Expeditionen. Ich erinnerte mich, dass es in meinem alten Westermann Atlas tatsächlich Landflecken gab, die als noch unerforscht ausgewiesen waren, unvorstellbar heutzutage, wo doch Satelliten nahezu jeden Zentimeter auf der Erde vermessen und das globale Navigationsnetz jedem Mobilphon Benutzer seinen genauen Standort anzeigt.

Damals in meiner Kindheit, auf dem oberen Flur des Elternhauses, ruhte auf gedrechselten Füßen ein altmodischer Bücherschrank. Hinter Türen aus Glas mit grünen Gardinen an der Innenseite stand schüchtern, eingeklemmt zwischen Leinenbänden mit eingeprägten Bildern von Reiseberichten und Abenteuern aus vorigen Jahrhunderten, ein kleines Bändchen: „Die Eroberung des Nordpols“. Es war das erste Buch, das ich in meinem jungen Leben überhaupt gelesen hatte. Mit der Taschenlampe unter der Bettdecke hatte ich, trotz meiner kindlichen Unvollkommenheit, aus den aneinander gereihten Buchstaben Worte zu formen gewusst, daraus Sätze zu bilden vermocht, alles begriffen und in meinem Kopf schließlich als Vorstellung zu realistischen und dramatischen Bildern geformt. Dann träumte ich von einem Leben als Seefahrer und Abenteurer, ein tapferer Held, der in der Unwirtlichkeit des Polarmeeres und der Eiswüsten sein Schicksal ohne Zögerlichkeit selbst in die Hand zu nehmen weiß, um die abweisende, feindliche Natur in ihre Schranken zu weisen. Mit Roald Amundsen segelte ich auf den schwankenden Planken der Fram hinaus in die dunkle Barentssee, trotzte dem Klabautermann, den schaumbekrönten und eisigen Wellen und während am Bugspriet voraus das Packeises höher und höherwuchs, im Rumpf die Wanten gespenstisch knarzten und die Segel im Flockensturm ohrenbetäubend knatterten, schwang ich mich beherzt ans Ruder und trotzte mutig allen Naturgewalten. Heißa und Juché!

Träumen, das tue ich jetzt mit 79 Jahren immer noch und wer sollte es mir verwehren außer dem, der nichts von den Träumen eines alten Mannes versteht. Ich bin überzeugt von der Existenz der verwunschenen Orte und der Realität der fesselnden Geschichten, die nicht nur in der Nacht unsere Phantasie gefangen nehmen, sondern auch unserem täglichen Leben mit ihren Mythen und Überlieferungen den sicheren Halt geben.

Mit einem dumpfen, langanhaltenden „Töööööööööt“, inzwischen waren die fernen Lichter auf Varanger nähergekommen, schickte die Havila Castor ihrer Ankunft in Vardø das Signal voraus und katapultierte mich unvermittelt in die wahrhafte Welt der Gegenwart zurück. Nun als ich realisierte, dass meine Gedanken hier oben, im Sessel an Deck 9, in der Panorama Lounge, ein Tagtraum und die Abenteuer des jungen und alten Helden ein Abbild meiner Phantasie waren, durchflutete mich ein allumfassendes, inneres Lächeln.

Wirklichkeit und Übersinnlichkeit als Einheit zu deuten, Kognitives und Geistiges gleichwertig als Maßstab für menschliches Sein zu begreifen, war mir Gewissheit geworden und das spürte ich unmittelbar und unbezweifelbar. „Ich denke, also bin ich“, heißt es bei Descartes und im Wissen darum fühlte ich so ganz und gar das erhebende Gefühl meines „Ich Seins“ jetzt und hier.

Sorgfältig faltete ich die Landkarten zusammen, packte mein Bücher in den Rucksack und warf einen letzten, nachdenklichen Blick hinaus in die hereinbrechende Dunkelheit.

Unten, auf Deck 6 an der Bar, bestellte ich einen Milchkaffee.
 
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John Wein

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Danke für die Rückmeldungen Henry II und speziell auch Michele.S und Otto für das Begrünen, aber mein lieber Onivido, wieso wirst du vor Neid blass? Es ging doch gar nicht um Sex!o_O
 



 
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