Take me home

Michele.S

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Wie jeden zweiten Samstag war Gerald bei Wallmart gewesen. Neben dem Notwendigsten hatte er ein Megapack Hähnschenschenkel und zwei Stangen Zigaretten gekauft. "Du musst mit dem Rauchen aufhören", sagte er sich, während er die hügelige, bewaldete Landschaft durch die Windschutzscheibe betrachtete. Nicht nur aus gesundheitlichen Gründen war das zwingend. Die Zigaretten fraßen etwa ein Viertel seines Monatsgehalts. Gerald wohnte in der kleinen Stadt Welch im Süden West Virginias. Die Gegend war in die Schlagzeilen gekommen, da sie die höchste Rate an Drogentoten und außerdem die niedrigste Lebenserwartung im ganzen Land hatte.


Gerald steuerte seinen Truck in die Garageneinfahrt. Als sie das Geräusch des Autos hörte, kam seine Tochter Tiffanny aus dem Haus.
"Du warst lange weg", schnaufte sie angestrengt. Sie wog an die 180 Kilo und der kurze Weg von der Haustür zur Garage hatte sie angestrengt.
"Hab noch Tante Anna besucht", meinte er.
"Wie geht es der Guten?", fragte Tiffany mit gespielter Besorgnis.
"Miserabel. Der Krebs frisst sie langsam auf", gab Gerald zu verstehen. Die Besuche bei der Alten waren für ihn Christenpflicht. Tante Anna war ihr Leben lang unausstehlich gewesen und ihre wehleidigen Klagen über Schmerzen und Übelkeit entlockten Gerald nichts als Ungeduld. Immerhin war der Besuch nicht umsonst gewesen. Als Anna kurz auf die Toilette gegangen war, hatte er sich eine Packung Schmerztabletten von ihrem Nachttisch eingesteckt. "Jesus wird mir das verzeihen", sagte er sich. "Es ist ja eigentlich kein richtiges Stehlen, die Alte ist ja versichert und bekommt die Tabletten bezahlt"
Tiffanny räusperte sich. "Du Dad", sagte sie mit entschlossener Stimme. "Ich hab mich jetzt entschieden. Ich werde es wegmachen lassen. Schon nächsten Mittwoch".
Gerald stöhnte. Vor zwei Wochen hatte Tiffany erfahren, dass sie schwanger war. Der Vater war wohl ein Klassenkamerad in der Highschool, mit dem sie nicht wirklich zusammen war. Sie waren nur ein paar Mal ausgegangen.
"Du kennst meine Meinung dazu, junge Dame", sagte Gerald streng. "Wenn du das tust, kannst du ausziehen"
"Aber Dad", jammerte Tiffany, "versetz dich doch mal in meine Lage".
Das hatte Gerald versucht und war dabei zu keinem anderen Schluss gekommen. Eine Abtreibung kam nicht in Frage. Es war schlimm genug, dass sie mit einem Typen rumgemacht hatte, mit dem sie nicht verheiratet war, aber das konnte Gott zur Not verzeihen. Immerhin, machte das nicht fast jeder? Aber eine Abtreibung, das war Mord. Für sowas kam man in die Hölle. Und er wollte nicht, dass einer seiner Familienmitglieder in die Hölle kam.
"Wir reden später darüber", gab er seiner Tochter barsch zu verstehen.


Nachdem er sich die Schuhe ausgezogen und die Jacke an den Haken gehängt hatte, ging er ins Badezimmer. Dort holte er die Packung Oxycodon hervor. Er entnahm ihr fünf Pillen und schluckte sie mit einem Glas Wasser hinunter. Natürlich würde es nicht so schön wie beim ersten Mal werden, aber fünf Pillen, soviel hatte er noch nie genommen. Gerald freute sich auf die nächsten Stunden.
Als Gerald gerade vor dem Fernseher saß und die wohlige Wirkung der Schmerztabletten genoss, leutete es an der Tür. Mit einem Stöhnen erhob er sich vom Sofa und öffnete. Eine junge Frau von etwa 30 Jahren stand da und lächelte gezwungen. "Ich will sie nicht lange stören. Ich wollte ihnen nur etwas über den Präsidentschaftskandidaten Joe Biden erzählen und warum er in diesen schweren Zeiten die beste Wahl fürs Weiße Haus ist"
Gerald wurde wütend. "An sowas sind wir hier nicht interessiert", sagte er ungehalten und schlug die Tür hinter sich zu. In seiner Jugend hatte er immer die Demokraten gewählt, wie fast jeder hier, in dieser früher von Minenarbeitern und Gewerkschaftlern dominierten Region. Doch spätestens mit Obama hatten die Demokraten Leute wie ihn vergessen. Jetzt kümmerte sie sich lieber um Minderheiten. Schwule, Schwarze und diese bedauernswerten Transgender-Leute. Wer als weißer Mann heute arm war, der war einfach nur ein Versager. Mehr nicht. Er hatte trotzdem Trump gewählt, auch wenn dieser ein Multimilliardär war und von Leuten wie ihm sicherlich weder etwas wusste noch wissen wollte. Aber immerhin hasste das Establishment ihn. Das konnte nur für ihn sprechen. Außerdem sprach Trump nicht wie ein Politiker, und wenn es etwas gab, was Gerald hasste, dann war es Politiker-Geschwätz. Verbessert hatte sich hier in den letzten vier Jahren trotzdem nichts.


Gerald begab sich wieder vor den Fernseher. Als er gerade am Eindösen war, wurde er von einem lauten Knall geweckt. Er schreckte hoch. Das Geräusch war aus der Garage gekommen. Mit wankenden Knien verließ er das Haus. Während er die Garage öffnete, murmelte er "Bitte nicht, Jesus!"
Als Erstes bemerkte er das viele Blut. Selbst die Luft roch danach. Dann sah er den leblosen Körper seiner Tochter in der Blutlache liegen. Neben ihr lag Geralds Jagdgewehr.


Die Beerdigung war schön gewesen. Der Pfarrer der Baptisten-Gemeinde hatte eine anrührende Rede gehalten. Nachdem er die betroffenen Beileidsbekundungen von Freunden und Familie entgegengenommen hatte, versuchte er, etwas zu Essen. Die kalten Frikadellen schmeckten furchtbar.
Der Pfarrer hatte viel von Hoffnung geredet. Das Tiffany jetzt an einem besseren Ort war. Aber Gerald wusste es besser. Selbstmord, das war eine noch schlimmere Sünde als Abtreibung. In dieser Sekunde litt seine Tochter in der Hölle. Dort würde sie für alle Zeiten bleiben. Und es war seine, Geralds Schuld. Er fühlte, wie ihm schlecht wurde. Er hätte die verfluchten Frikadellen nicht essen dürfen.
Seine Frau trat an ihn heran und streichelte seinen Oberarm.
"Geht es , mein Schatz?", fragte sie ihn liebevoll. Ihre Augen waren vom vielen Weinen gerötet.
"Ja es geht schon. Das Leben geht weiter", antwortete Gerald, während er sich entschlossen die Tränen aus den Augen wischte.
 



 
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