Tamban - Fehlercode

ahorn

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Herbert Tamban ist auf der Suche nach einem Serienkiller, der nicht allein seine männlichen Opfer stranguliert, sondern sich an ihnen auslässt, ihnen die Genitalen beraubt, um diese zu verspeisen. Erst als es zu spät scheint, bemerkt Tamban, dass er die Lösung bereits seit Langem in der Hand hält.

Bevor es mit dem Labry weitergeht, etwas aus der Klamottenkiste.

Tamban

Fehlercode

Neuland

„Was halten Sie von meinem Vorschlag? Es ist für Sie eine Chance!“
Die angesprochene Frau Mitte zwanzig stellte ihre, mit einem Lippenstiftabdruck verzierte, halb volle Kaffeetasse neben eine leere auf einem Beistelltisch ab. Dann nahm sie Papiere von diesem, strich eine Strähne ihrer Bubikopffrisur von einem Auge und studierte die Schriftstücke. „Herr Jäger, ich weiß nicht?“
Sie überschlug die Beine, zupfte an dem Rock des geblümten Trägerkleides, spielte an einer Halskette, die in ihrer klobigen Art weder zu ihr noch dem Kleid passte, und starrte den Herrn vis-à-vis an.
Der korpulente Mann, den ein silbergrauer Haarkranz zierte, ergriff die Tasse. Er stierte in deren Trostlosigkeit, stellte sie wieder ab.
„Fräulein Santhof wir sitzen heute nicht zusammen, weil ich von ihnen begeistert bin.“
Herr Jäger erhob sich aus dem Ledersessel, stieß dabei gegen den Tisch, sodass die Tassen auf den Untertassen klirrten. Er presste die rechte Hand an das Schienbein und verdrehte die Augen. Dann schritt er, dabei das angeschlagene Bein hinter sich herziehend, auf eine Panoramascheibe zu und wandte sich dieser zu.
Bleigraue Gewitterwolken hatten die Sommersonne verdeckt, drohten mit aufflackernden Blitzen und den ersten Tropfen, die an der Scheibe zerbaren.
„Da bin ich offen zu Ihnen. Der Vorstand ist überzeugt davon, Sie seien die richtige Person für die Stelle.“
Er drehte sich, durchquerte das Büro, bis zu einem Schreibtisch, der den Raum dominierte. Nachdem er eine Thermoskanne ergriffen hatte, schritt er zurück zu der Sitzecke.
Der Zeigefinger von Frau Santhof glitt über das Dokument. „Das verstehe ich nicht? Warum soll ich hier in der Zentrale ... ein Jahr?“
„Das war meine Forderung. Ich als Personalchef habe eine Verantwortung und egal“, er stockte, sie blickte ihn an, sah, wie er den Kopf zurückneigte, „wie die da oben entscheiden, mit welchen Beziehungen Sie in die Auswahl gekommen sind, halte ich Sie für unqualifiziert.“
Sie kniff ein Auge zu, dachte nicht darüber nach, ob sie ihn vergiften oder erstechen sollte, sondern nur wann. „Danach wechsle ich in die Filiale?“
Ein Grinsen flog über seine schmalen Lippen. „Wenn Sie die Probezeit überstehen!“
„Keiner weiß, was ich hier in der Zentrale getan oder gemacht habe?“
„Solange Sie nicht klauen oder Geheimnisse verraten!“ Er beugte sich über den Tisch und malte Kreise auf ihrem bestrumpften Knie. „Unsere Filiale, für die Sie sich beworben haben, ist bis auf die Personalabteilung autark.“ Er lehnte sich zurück. „Warum ist Ihnen dieses derart wichtig?“
Sie knetete erneut die Halsketten, überlegte, ob sie das Risiko eingehen oder ihm, weil er sie ungefragt betatschte, eine kleben sollte. Es gab auch die Möglichkeit ihn zu fragen, ob er seine Meinung ändere, wenn sie ihm einen blies. Mehr war für ihn nicht drin. Denn sie wusste nicht, wie lang sie es aushielt, bevor ihr Ego, ihre Biologie, wieder verlangte, in ihr wahres Ich zu schlüpfen. Ein Ich, welches weit entfernt von einer Dame ansiedelte, eher dem Gegenteil entsprach. „Nicht wichtig! Wie Sie sagten, habe ich die Firma bewusst ausgewählt.“
Er strich über ihren Oberschenkel, bis seine Fingerspitzen unter ihren Rocksaum glitten. „Kommt darauf an, wie sie sich einfügen. Teamarbeit steht bei uns an erster Stelle.“
Sie senkte den Kopf, schob den Saum des Rockes, bis der sich straffte, über die Hand von Jäger, flüsterte: „Ich werde mich fügen und tun, was Sie verlangen“, dabei hoffte sie, dass er sie nicht enttarnte.
Der Personalchef nahm die Hand von dem Bein, lehnte sich zurück und richtete seine blutrote Krawatte. „Sind Sie mit Herrn Dreier bekannt?“
Sie legte die Unterlagen auf den Tisch und die Hände auf den Schoß. „Mit wem?“
„Herrn Dreier, dem ehemaligen Besitzer unserer Filiale.“
„Nein! Den kenne ihn nicht.“
Er wies auf den Vertrag. „Ich dachte, weil er sich für sie beim Vorstand eingesetzt hat.“
„Wie ich sagte. Ich kenne keinen Herrn Dreier.“ Sie wandte sich von ihm ab. „Mein Grund zu schwanken, ist anderer Natur.“
„Solange dieser Grund nicht Ihre Arbeit beeinträchtigen“, er blinzelte ihr zu, „interessiert es mich nicht.“
„Nein. Ihr Angebot ist verlockend. Ich wollte schon immer professionell Computerspiele entwerfen.“
Er runzelte die Stirn, ergriff den Vertrag und schüttelte den Kopf. „Bitte!“ Ein Lächeln hüpfte über das aufgedunsene Gesicht. „Ich verstehe! Später stehen Ihnen alle Türen offen. Wenn Sie gut sind!“
Er faltete die Hände hinter dem Genick und sie hätte gern die Rechte zur Faust geballt, um sie ihm, dabei vergnügt, in die Visage zu rammen. Aber eine Lady tat das nicht.
„Dann nehmen Sie den Vorschlag an? Herr Dreier ist nur Berater, aber eine Koryphäe in dem Fachgebiet. Ich persönlich halte nichts von Computerspielen. Die passen nicht in unsere Produktpalette.“ Er rieb übers Kinn. „Vorstandsentscheidung ist Vorstandsentscheidung!“
Dann zog er einen Kugelschreiber aus seinem Jackett, hielt ihr diesen unter die Nase.
Sie ergriff den Vertrag und bestätigte mit ihrem - sie lächelte - falschen Namen. Sie zuckte mit den Achseln. Obwohl der Nachname der echte war.
Herr Jäger stand auf und streckte ihr die Rechte entgegen. „Dann sehen wir uns am kommenden Montag, um Sie den Abteilungen, in denen Sie zuerst tätig werden, vorzustellen?“
Sie berührte die ausgestreckten Finger. „Ja! Ich stehe Ihnen zu Diensten.“



Massage

Ich zog den Schal fester um meinen Hals und verfluchte, dass mein Haus abseits lag. Der Weg von der Bushaltestelle schien endlos und an diesem Abend verlassener denn je. Ich empfand eine Art Furcht, die ich früher nicht kannte. Die Angst verstärkte das Frösteln, das mir durch den Körper bis zu den Zehen kroch.
Der Winter schien in diesem Jahr nicht enden zu wollen. Obwohl längst Mitte März, strömte ein frostiger Nordwind über die Straße und in den gefrorenen Pfützen spiegelten sich die Sterne, bis das Eis unter meinen Absätzen zerbrach.
Das verhaltende Leuchten der Fenster meines Heimes lockte mich geisterhaft eines Leuchtturmes gleich in den friedlichen Hafen. Der Geruch verbrannten Holzes, der aus dem Kamin waberte, beschleunigte meine Schritte - soweit die ätzend, hohen Absätze mir Gehen, geschweige Laufen gestatteten. Ich war daheim.
Wärme umflutete beim Eintreten meinen erkalteten Körper, woraufhin ich den Namen meines Mitbewohners rief. Eine freundliche Begrüßung, die mehr dem Heim, als ihm galt. Dennoch mir in den letzten Wochen zum Ritual geriet.
Vor Kurzen interessierte es mich keinen Furz, ob Kenan auf irgendjemanden wartete. Das hatte sich geändert. Denn hier in meinen vier Wänden konnte ich wieder ich sein und Kenan war ein Teil davon.
Kenan antwortete ungefragt und teilte mir mit, er sei im Wohnzimmer. Die Mundwinkel emporgezogen streifte ich den Mantel ab, Mütze und Schal folgten, flogen auf den Dielenboden. Ich setzte mich auf den Hocker, befreite die Füße von den Stiefeln, die meine Zehen quälten.
Die Türklinke zum Wohnzimmer umgriffen, ertappte ich mich. Ich war in den alten Trott zurückgefallen. Ich kniete nieder, ergriff die Sachen, verstaute sie, wie Kenan es mir vorlebte, in den Garderobenschrank. Sogar die Stiefel stellte ich in die Reihe der dort wartenden Schuhe.
Ich drückte die blütenweiß gestrichene Wohnzimmertür auf, der Geruch von Moder stieg mir in die Nase. Eine Witterung, die ich zuvor nie gerochen hatte. Es hatte für mich den Anschein, als beträte ich ein fremdes Zimmer. Obgleich die Wärme des Ofens mich erfreute, lehnte der Raum mich ab. Genauer die alten, zusammengewürfelten Möbel stießen mich wie ein Rudel Wölfe einen Einzelgänger ab. Hatte ich mich geändert oder lag es daran, dass ich mit den Kolleginnen diese Zeitschriften verschlang, indem der neuste Wohntrend leuchtete. Ich musste etwas ändern, mich trennen von dem Studenten-Buden-Look, den Weg weitergehen, egal, wie schwer er mir fiel. Die Episode abschließen, um daraus Erfahrungen und Kraft zu ernten, um diese in meinem weiteren Leben zu verzehren.
Erschöpft vom Tag fiel ich auf einen dieser klapprigen Sessel, warf die Beine auf das Sofa, auf dem Kenan, vertieft in eine Tageszeitung, ruhte. Kurz ließ er seinen Blick über mich schweifen, um sich erneut wortlos hinter der Zeitung zu verstecken.
Ich zupfte an meiner Bluse, fragte ihn, was er davon hielte, wenn wir uns eine neue Wohnzimmereinrichtung zulegen würden.
Ob er oder ich mehr verblüfft über die Frage war, lag außerhalb meiner Systeme. Er zumindest, studierte weiterhin seine Tageszeitung.
Bis zum Zeitpunkt meiner Anstellung in Hannover hatten wir nebeneinander her gelebt. Wir lebten in einer Wohngemeinschaft. Punkt!
Kenan zeigte mir seine Zuneigung und Dankbarkeit auf seine Art. Er machte den Haushalt und kaufte ein. Einen Umstand, den ich ihm anrechnete. Er kehrte üblicherweise um vier Uhr von der Arbeit heim, ich des öfteren erst nach sieben. Sein Angebot, meine Wäsche zu waschen, hatte ich abgelehnt.
Ich schüttelte den Kopf. Die Kälte hatte mir den Verstand vereist. Dachte ich ernsthaft diesen Blödsinn.

Kenan als meinen Mitbewohner zu bezeichnen, traf die Wahrheit nur zum Teil. Er erledigte, seitdem er bei mir wohnte, alle Dienstbarkeiten am Haus. Reparierte oder renovierte das Gemäuer, hackte Holz, damit ich nicht fror. Dafür bezahlte er keine Miete.
Dem nicht genug, mir verlangte es nach einem Knecht, der winselte, hechelte, nach Arbeit dürstete.
Erst in den letzten Wochen begriff ich, dass der Ansatz zu kurz griff. Meinen Willen ihm aufzudrücken, nicht zum Erfolg führte.
Kein Mensch veränderte sich, weil ich es verlangte. Ich entschied daher, mein Verhalten, das Programm, welches mich steuerte, umzuschreiben, damit der Gegenüber das Verlangen zu dienen erbat, erflehte.
Sein Angebot, meine Wäsche zu waschen, lehnte ich nur aus einem Grund ab, dass es mir zu intim war. Die Vorstellung, er hinge meine Unterwäsche zum Trocknen auf, betastete, womöglich beschnupperte er sie, erschauderte mich. Allein der Gedanke daran kam mir gleich wie eine Berührung seiner Finger auf meiner Haut. Für derart Belobigung war er nicht reif genug. Er war vom Tal der Quallen, die ich mir ausmalte, derzeit weit entfernt.
Mit einem Lächeln begründete ich die Entscheidung. Frauensache! Ich verziehe es ihm nie, gab ich ihm zu verstehen, wenn er eine der teuren Blusen zu heiß bügele, dann …
Eine Lüge, aber eine Gute, denn intim war es mir wahrlich nicht, wenn er an meinen Dessous schnüffelte, solange ich sie nicht anhatte, mir schnuppe. Die Vorstellung daran, dass er eines Tages vor mir auf die Knie fiel, vor mir kroch und winselte, um mir den Wäschekorb zu entreißen, beglückte mich dagegen.

Kenans Zuruf, ich hätte kalte Füße, schleuderte mich aus den Gedanken. Eine mir wohlbekannte Tatsache, immerhin waren es meine Füße, deren Temperatur ich registrierte. Niemand musste mich darauf aufmerksam machen.
Ohne, um Erlaubnis zu betteln, ergriff er meine Füße und zu allem Überfluss massierte er mir die Zehen, die ins Leben zurückkehrten.
Ich schloss die Augen, lehnte mich zurück. Dabei erklärte ich ihm, dass nicht nur das Schreiten in hochhackigen Stiefel anstrenge, sondern die wärmende Wirkung, obwohl der Schaft bis zu den Knien reichte, minimal war. Die Sohlen isolierten keinen Fitzel, weil sie dünn wie ein Schulheft waren.
Er unterbrach die Massage und wagte es ernsthaft, mich zu fragen, weshalb ich mir nicht richtige, warme Winterstiefel zulege. Die Frage zeigte mir erneut, er hatte keinerlei Wissen, war dumm wie Brot. Ich richtete mich auf und erklärte ihm, dass der Markt für elegante, warme Stiefel längst im Herbst geleert und mir zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt war, inwieweit ich derartige Schuhe benötigte.
Es fehlte am Ende meiner Erklärung nur die Nennung seines Geschlechtes im Plural, um von den Kolleginnen eine Auszeichnung entgegenzunehmen. Ich verkniff mir das Wort, da es aus meinem Mund doppeldeutig geklungen hätte, eher lächerlich. Daher sank ich zurück an die Sessellehne und schob nur hintenan, wie schwierig es gewesen wäre, überhaupt ein Paar zu finden.

Mein Körper genoss die Massage. Mein Verstand wehrte sich. Ich befahl Kenan aufzuhören und zog die Füße mit einem Ruck zurück. Dann begründete ich die Aktion damit, dass er mit seinen Pranken eine Laufmasche zöge. Eine nicht ganz unbegründete Gefahr. Meine Erklärungsversuche, weshalb Damen Feinstrumpfhosen trugen, verliefen eher im Sande. Entgegen ihren dickeren, wolligen Schwestern wärmten sie nur bedingt, dazu war ihre Lebenszeit kurz. Dieses hatte ich bereits festgestellt. Es existierten zwei Arten von Feinstrumpfwerk. Billige, die meist nicht einmal den Vormittag standhielten und welche, die fünf- bis zehnmal teurer waren, dafür mehrere Handwäschen überstanden. In einer Mittagspause hatte ich es den Kolleginnen vorgerechnet und kam zum Ergebnis, dass es finanziell nicht von Belang, welches Model man bevorzuge. Ökologisch - soweit man bei Strumpfhosen davon sprechen konnte - ich das Teure präferierte. Woraufhin die Kolleginnen mich erst erstaunt anglotzten, dann unterstrichen, dass der Tragekomfort und die Optik an oberster Stelle standen. Ohne etwas zu sagen, stimmte ich ihnen zu, verstand aber ihre Logik, ihre Empörung nicht, da ich ihnen beipflichtete. Egal, das Ergebnis war dasselbe, die Billigen kratzten.

Kenan versteckte sich erneut hinter der Zeitung und murmelte mir zu, dass ein Bad mir wohltue, er in der Zwischenzeit uns ein schönes Abendbrot mache.
Wie er ‚schönes‘ betonte, kotzte mich an. Am liebsten hätte ich ihn vom Sofa getrieben, damit er mit dem Atem meine Zehen wärmte.
Ich sah ihn von der Seite an und fragte, ob er den Badeofen angeworfen hätte.

Er ließ die Tageszeitung sinken, blickte mich an und warf mir ein schnippisches, weiberhaftes ‚natürlich‘ entgegen.



Mahlzeit!

„Ich habe Ihnen schon dreimal gesagt, meine Frau ist nicht daheim und ich mache keinen Termin für den Salon. Wenn sie einen vereinbaren möchten, rufen Sie doch die Chefin an … nein ich weiß nicht, wann Magda heimkommt. Wiederhören.“ Herbert kloppte den Hörer auf das Telefon. Er war nicht gereizt, die Ruhe selbst. Aber, was sich die Leute – er revidiert, wollte nicht verallgemeinern – diese Schnepfe sich erdreistete. Er sah zur Standuhr und murmelte. „19 Uhr 30. Heute verpasst. Schnepfe.“
Okay, dafür hatte sie wahrlich keine Schuld, eher Magda. Weshalb sie überhaupt arbeitete, war ihm schleierhaft. Wenn er sie wäre, würde er daheimbleiben, den Haushalt schmeißen und sich sonst einen schönen Tag machen. Aber nein, seine holde Gattin musste unbedingt halbtags in diesem Schönheitssalon … anderseits? Er schmunzelte. Für ihr Alter hatte sie sich gut gehalten. Wirklich! Er hatte nichts dagegen, wenn sie neben den häuslichen Pflichten etwas Gutes tat, wie die Nachbarin, bei den Grünen Damen? Sich bei den Patienten im Krankenhaus ablenken, ihnen etwas vorlesen. Oder zumindest wirklich halbtags und nicht jeden zweiten Tag Vollzeit zuarbeiten. Was unter dem Strich auf dasselbe führte. Warum war er bloß gereizt? Dabei hatte er sich vorgenommen, bis der Präsident ihn wieder rief, sich auszuspannen, zu lesen und ein oder vielleicht zwei gute Rote am Tag sich zu gönnen und …
Ja, er gestand es sich ein, sich von Magda bewirten zu lassen.
An ihre Kochkünste kam nur ein Mensch heran und das war seine, Herberts, Mutter. Was unternahm Magda, anstatt heimzukehren? Sie ging ins Reisebüro. Er hatte nichts einzuwenden, freute sich für sie. Das letzte dreiviertel Jahr, nachdem sich Eberhard von ihr getrennt hatte, für Herbert alles andere als erquickend. Gut, für ihn war es ein viertel Jahr, weil er damals in Aurich diente und nur am Wochenende heimkam. Da freute er sich, als sie ihm mitteilte, sie hätte im Café einen netten Herrn getroffen. Gebildet und ledig, genau der Richtige, wie sie meinte. Außerdem sei er wohlhabend. Einen Umstand, den sie zwar nicht verlangte, wie sie immer beteuerte, jedoch nicht als negativ titulierte. Sie gab es nicht direkt zu, aber als sie bereits das nächste Wochenende mit ihm verbrachte, war es Herbert bewusst, Magda hatte sich über alle Ohren verliebt. Das Essen wurde wieder genießbar, seine Hemden hatten keine Falten mehr und das Haus glänzte. Sie sich beim Fernsehen bei ihm einkuschelte, an den Füßen pulte oder strickte. Nachdem sie für ihn Häppchen geschmiert hatte. Die Welt war wieder in Ordnung.
Weshalb sie aber gleich mit ihm in den Urlaub fahren wollte, dann nach Griechenland, verstand Herbert nicht, obwohl sie es begründete. Es sei ihr am Anfang wichtig, die Liebe zu ihm zu vertiefen, und dieses geschehe am besten im Urlaub. Das mit dem Vertiefen begriff er wohl, jedoch Griechenland? Vertiefen konnten sie auch im Harz. Vielleicht Selke-Tal. Nette Gegend! Was benötige er zum Vertiefen? Drei Mahlzeiten und ein Bett.
„Apropos Mahlzeit“, murmelte er, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Er nahm den Teller heraus, auf dem die belegten Brote lagen. Dabei schaute er sich um, vermisste eins: ein kühles Blondes. Auf Wein hatte er irgendwie keinen Schmacht. In der Garage war gleichfalls keins. Die leere Kiste stand in Magdas Wagen und dieses in der Stadt. „Dann eben in die Eule“, flüsterte er, schlang die Scheiben hinunter und betrat in den Flur.

Der Schauer ebbte ab und Herbert verließ den Hauseingang eines ihm fremden Mehrfamilienhauses. „Griechenland“, murmelte er. Welch vernünftiger Mensch reiste im Hochsommer nach Griechenland, wenn man es daheim nicht einmal vor Wärme aushielt.
Er dachte sofort an einen Hitzeschock, als er das blaue Blinken voraus erblickte. Allerdings entpuppte es sich als das Leuchten von mehreren Fahrzeugen, das jäh erlosch, während er näherkam.
Einige uniformierte Kollegen wiesen Passanten, die in die Stresemannallee wollten an, die Fahrbahn zu queren. Andere lehnten gelangweilt, die Arme verschränkt, an den Streifenwagen oder zogen eine durch. Zwei von der Spurensicherung, gehüllt im Schutzanzug, kamen aus einem Hauseingang. Als Herbert deren Bulli erreichte, erreichten auch sie diesen und einer der Vermummten sprach ihn an: „Herbert, was machst du hier?“
Der Typ zog den Mundschutz herab und Herbert erkannte ihn. „Norbert, das sollte ich eher dich fragen.“
„Entschuldige, ich wollte mich bereits vor einem Monat bei dir melden, habe nach Hannover gewechselt.“
„Wieso, du warst doch in Lüneburg glücklich?“
Herbert hatte ihn kennengelernt, als er dort für ein knappes Jahr die Kriminaltechnik leitete. Aus Kollegen wurden Freunde und aus Norberts Ehefrau, die Herbert oft bekochte, dessen Liebschaft. Ein Umstand, den er Norbert natürlich nicht gestand.
„Die Liebe, Herbert, die Liebe, treibt mich her.“
„Dorothea? Die Kinder?“
„Die Kinder sind erwachsen und Dorothea wird bestimmt nicht lange allein bleiben. Die findet schon einen, da habe ich keine Sorge.“
Diese Annahme teilte Herbert mit ihm und überlegte, ob er Dorothea anrufen solle. Er wies auf das Gebäude, aus dem Norbert zusammen mit dem Kollegen gekommen war. „Hier? Etwas größeres?“
„Kann man wohl sagen. Schau es dir an, es wird dich bestimmt interessieren.“
„Norbert, du weißt, ich habe es nicht mit Tatorten, das ist euer Ding.“
Norbert stieg in den Bulli, in dem zuvor der Kollege verschwand, streckte sodann einen Arm heraus, über dem ein Schutzanzug baumelte. „Komm, schlüpfe hinein!“

Wie ein Marsianer - bloß in Weiß - kam sich Herbert vor, als er das Treppenhaus betrat. Dieses war mit ein Grund, weshalb er es andern überließ, Tatorte zu besichtigen. Der Mundschutz raubte ihm den Atem, durch die Schutzbrille sah er nur verschwommen und die Latexhandschuhe klebten auf der Haut.
Norbert schien ihm das Glück anzusehen. „Gleich, Erdgeschoss.“
Sie nahmen die sechs Stufen. Norbert übernahm die Führung, Herbert folgte. Folgte ihm in die Wohnung. Bereits nach den ersten Schritten roch er, dass es sich nicht um einen Einbruch hielt. Der Gestank nach angefaultem Fleisch drang in seine Nase. Wenige Sekunden später erblickte er die Ursache. Ein korpulenter Mann - sein Alter konnte er nicht einschätzen, zumindest war er kein Jüngling mehr - lag auf einem Bett. Um seinen Hals trug er eine blutrote Krawatte, dessen freies Ende am Bettgestell gebunden war. Herbert trat näher heran, scheuchte dabei Fliegen auf, die erst schwirrten, dann sich zu ihresgleichen an Decke und Wände gesellten. Er betrachtete den Leichnam und erkannte, was Norbert mit ‚interessieren‘ gemeint hatte. Denn er, Herbert, hatte Gleiches bereits gesehen, zwar nicht in natura, jedoch auf Fotos. „Norbert, Bratpfanne, Teller, Besteck auf dem Küchentisch?“
„Jo.“
Im selben Augenblick saß er wieder an seinem Schreibtisch in Lüneburg.

***
„Sorry, Norbert, aber du weißt, was soll der Leiter der Technik, der eh keine Ahnung hat, bei einem Tatort. Außerdem konnte ich deine Frau nicht enttäuschen und sie mutterseelenallein mit dem Essen zurücklassen.“
„Nee, alles gut, immerhin hatte ich Bereitschaft. Du hättest eh nur gekotzt.“
„So schlimm?“
Norbert warf ihm Fotos auf den Schreibtisch. „Das Weitere ist Aufgabe der Rechtsmedizin, aber ich würde sagen, das Opfer wurde erst stranguliert, dann hat ihm der Täter sein Glied inklusive Sack abgetrennt. Vielleicht war er sogar nicht ganz hin und spürte noch etwas. Das wird sich zeigen.“ Weitere Fotos segelten auf seinen Schreibtisch nieder. „Ob der Täter dann die Trophäe gebraten und verspeist hat oder das Opfer zuvor eine Wurst, wird sich zeigen. Die Blutspuren weisen auf das Erste hin.“
„Norbert, jetzt pack die Fotos zusammen, damit die ermittelnden Kollegen sie abholen können und du fährst heim, kuschelst ein wenig mit Dorothea und machst den Rest des Tages frei.“
„Dorothea ist bestimmt schon auf der Arbeit.“
Gewiss war sie dort, dachte Herbert. Er hatte sie dort hingefahren, nachdem er die Nacht mit ihr verbracht hatte.

***
Herbert zerrte sich den Schutzanzug über die Beine und schaute Norbert an. „Du kannst ja den Kollegen sagen, dass wir bereits einen ähnlichen Fall in Lüneburg hatten.“
„Was machst du?“
„Ich gehe in die Eule.“
„In die was?“
„Meine Stammkneipe. Ich würde dich gern mitnehmen, aber du musst arbeiten.“
„Ich meine, ob du zurzeit auf Einsatz bist.“
„Nee, ich warte.“

In der Eule zischte er einige Helle, spülte diese mit ein paar Klaren hinunter und verdrängte das Bild des Toten. Er kehrte heim und Magda, im Evakostüm gekleidet, pfiff ihn an, woher er derart spät kämme, sie sich Sorgen mache. Sie ihm, nachdem er es ihr erklärt hatte, verzieh, aber ihn dennoch ins Gästezimmer verwies. Das war nicht der Fahne geschuldet, die ihm voraus flatterte, sondern, weil das Ehebett bereits mit einem Mann belegt war. Mit diesen Gedanken schloss er auf dem Klappsofa die Augen und lauschte dem lieblichen Gesang seiner Magda. Sie hatte zumindest eine aufregende Nacht.


Taktikwechsel

Das dampfende Wasser sprudelte in die Emaillewanne. Der Nebel umhüllte mich und waberte durch das Badezimmer. Ich griff nach der türkisfarbenen Flasche, die seit Langem auf der Fensterbank ruhte, sodass der Verschluss beim Öffnen harkte. Ein mir bekannter Duft vermischte sich mit dem Wasserdampf und drang in meine Nase. Es roch nach Sonja. Sonja hatte oftmals gebadet. Wann es sich ergab, sprang sie in meine Wanne, meist wenn sie abends ausging. Sie badete, cremte ihren Körper, schminkte ihr Gesicht und zog sich etwas Schnuckeliges über. Ich stand mit verschränkten Armen an der Tür und beobachtete sie.
Am anderen Morgen, zuweilen spätnachts, kuschelte sie sich in mein Bett, den zarten Geruch des Schaumbades weiterhin am Körper.
Das Wannenbad entspannte mich. Ich genoss den Schaum, die Pflege meiner Haut. Mit einem Lied auf den Lippen rasierte ich mir die Beine und verfluchte die rabenschwarzen Stoppel.
Ich war gerade dabei mich abzutrocknen, da hörte ich Kenans Stimme durch Haus dringen. Er rief nach mir, teilte mir mit, das Abendbrot wäre fertig.
Zügig schlüpfte ich in den Hausanzug, den ich an diesem Tag erworben hatte und genoss das weiche Gefühl auf meiner Haut. So schlecht wie ich mir dieses neue Plugin vorgestellt hatte, war es nicht, deshalb nahm ich mir vor, den Quellcode um ein paar Zeilen zu erweitern.

Die neuen Programmzeilen im Kopf gespeichert, hüpfte ich ins Wohnzimmer. Kenan hatte den Wohnzimmertisch gedeckt und saß wieder auf dem Sofa.
Als er mich erblickte, schnellte die rechte Hand an seinen Mund und er blaffte mich an, wie ich aussehe.
Die Begrüßung brüskierte mich. Was fiel dem Sklaven ein, in einem solchen Ton mit mir zu sprechen? Zu müde ihn zu bestrafen, blieb ich sanftmütig, pflichtete ihm bei, dass rosa mir nicht stünde, aber blau in meiner Größe vergriffen war.
Ich schritt auf ihn zu, stemmte meine Fäuste in die Taille und bäumte meinen Körper auf. Wie weich der Anzug wäre, gab ich mit einem widerlich, freundlichen Tonfall zu verstehen, dabei streckte ich ihm den Arm vors Gesicht.
Kenan legte die Zeitung beiseite und tastete über meinen Arm. Ohne vorher die Absurdität zu überprüfen, verkündete ich ihm, dass es den Anzug ebenfalls für Männer gebe. Ich schluckte bei den Worten, da ich erneut daheim das Vokabular meiner Kolleginnen benutzte. In Dunkelblau, versuchte ich, den Satz zu entschärfen.
Umgehend wickelte er ab, denn er amüsiere sich nicht über den Anzug, rosa stehe mir, sondern, er senkte den Kopf, die Schuhe, die ich an meinen Füßen trüge, seien drollig. Ich folgte seinem Blick, betrachtete die Puschen in Form von weißen Kaninchen, verstand seine Reaktion nicht, denn Tanja schlüpfte jedes Mal in diese, wenn sie uns besuchte.
Er runzelte die Stirn und versuchte, es mir zu erklären.
Ich hörte nicht zu, zumal mir die Sätze geläufig waren, die er mir entgegenwarf. Dabei war Tanja die, die nicht verstand. Ihre zwecklosen Annäherungsversuche nervten mich. Nicht, dass ich sie nicht mochte, immerhin hatte ich ihr meinen Job zu verdanken, aber sie sah es nicht ein, dass ich eher Chancen bei Kenan hatte als sie. Ein Vergleich, der abwegig, weil ich auf Frauen stand, aber, zumindest bei Kenan eher erfolgreich, denn ich hatte eine Zeugin.

Sonja! Es wäre von mir vermessen, zu behaupten, dass sie einen positiven Beweis der sexuellen Neigung von Kenan führen konnte. Trotzdem war ihr Bericht für mich ein Beleg.

Er zweifelte die ersten Jahre an ihre Existenz. Da generell zwei für ein Treffen vonnöten und Sonja einen Kontakt mit Kenan ablehnte, lag die Beweislast auf meiner Seite. Bis an einem Wochenende, an dem ich ein auswärtiges Seminar besucht hatte. Kenan hatte sich ebenfalls verabschiedet und ich nichts dagegen, wenn sie sich im Haus gemütlich machte. Warum Kenan am Samstagabend heimkehrte, hatte er mir nie erzählt, auch nicht, wen er in meiner Badewanne fand. Zumindest, wie mir Sonja berichtet hatte, empfahl er sich wie ein Gentleman und lud sie zu einem Abendmahl ein. Es blieb nicht bei dem Essen. Sonja war nie eine Frau, die man allein für sich hatte. Ich hatte nie einen Anspruch. Die Zeit, die sie mir schenkte, genügte mir. Aber egal, wie sie sich bemühte, anstrengte, ihre gesamte Weiblichkeit an Front schickte, stellte sich für sie bei Kenan kein Erfolg ein. Die von ihr geforderte Vereinigung blieb aus.

Mein Puls raste. Ich verschränkte meine Arme, zeigte ihm damit an, inwieweit er vor einer Bestrafung stand.
Kenan verdrehte die Augen, ließ seine rehbraunen Pupillen kreisen und frohlockte, dass ich eben lustig aussehe. Wäre dieses nicht genug, versuchte er, mit einem Klimpern seiner Wimper, wie ein kleines Mädchen, mir weiß zu machen, er wäre stets ehrlich zu mir. Wenn an diesem Abend meine Kolleginnen zugegen gewesen wären, dann war mir klar, was sie darauf entgegneten. Die Wahrheit, wie sie es nannten, alle Männer lügen. Eine Meinung, die ich im Kern vollends nachvollzog, dennoch logischerweise nicht in Gänze unterstrich.

Er widerte mich an. Es war an der Zeit, ihn endlich zu Boden zu schicken. Da kam ich auf die Idee, dass verzeihen oft eine härtere Strafe war, als den Feind mit einer Peitsche zu drangsalieren.

Ich zog die Mundwinkel herab, betrachte die Zimmerdecke und kletterte auf seinen Schoß. Erst hauchte ich ihm das Wort Blödmann ins Ohr, dann trafen, obwohl ich seine Wange zum Ziel meiner Attacke auserkoren hatte, meine Lippen die seinen.


Angriff

Ich schnappte mir eins der belegten Brote, biss hinein und setzte mich neben Kenan auf das Sofa.
Seine Worte brachten mich zum Grübeln. Was wusste ich von ihm? Waren wir nicht Fremde? Annähernd fünf Jahren wohnten wir zusammen. Er stammte aus dem Iran und liebte Männer, die einzigen Informationen, die ich verfügte. Und! Er besaß seit ein paar Monaten die deutsche Staatsbürgerschaft. Ein Umstand, dem ich nichts Gutes entnahm. Das wichtigste Mittel gegen ihn beraubt, seine Erziehung lang nicht beendet. Es würde einen Punkt geben, ab dem es für ihn kein zurückgab. Er für immer und ewig mir ausgeliefert war. Bis dahin benötigte ich ein Faustpfand. Ich stocherte, um eine Leiche in Kenans geistigen Keller zu erspähen.
Als wäre es rein aus dem Affekt, tupfte ich Mayonnaise von der Unterlippe, fragte ihn, warum er nicht zurück in seine Heimat ginge. Meine Worte, meine Gestik verfluchte ich, ehe diese aus dem Mund fielen, ich die Rückkopplung meiner Hände wahrnahm. Wie eine feine Dame benahm ich mich und dieses zu allem Überfluss in meinem eigenen Haus.
Ich hatte keinen Grund, mich zu verstellen, mich zu benehmen. Er war mein Sklave. Den rechten Zeigefinger an der Oberlippe wandte ich mich von ihm ab und klemmte den Kopf zwischen die Schultern. Ich entschuldigte die Frage, biss auf meine Unterlippe, bis Übelkeit mich empfing. Keinesfalls des Schmerzes wegen, der befreite eher, sondern – ich atmete tief durch – ich erkannte mich nicht wieder. Es gab nur eine Ursache, ein Bug in meinem Betriebssystem. Entweder hatte ich zu heiß gebadet oder – ich zupfte unwillkürlich an den Ärmel – dieser Anzug war der Ursprung. Daher gab ich ihm zu verstehen, dass er es vergessen solle.
Er nahm meine Hand, sah zu Boden und erklärte mir, seit wann er die Frage erwartet habe.
Bei seinen Worten schmunzelte ich. Sie klangen eher danach, dass er mit einem Blumenstrauß vor mir gekniet, um die Hand angehalten hatte. Die Erinnerung an diesen Tag lud sich selbstständig.

***
Ich saß, hier im Wohnzimmer, an meinen Computer, ich weiß nicht mehr, was ich gemacht habe, womöglich ein Onlinespiel. Damals verbrachte ich viel Zeit mit derartigen Spielen. Kenan stürmte, gefolgt von seinen Freunden, herein. Sie redeten über ihn. Man hatte ihn exmatrikuliert. Warum ihnen dieses wichtig erschien, entging mir anfangs. Mein Mitbewohner hatte sein Informatikstudium in einer Zeit abgeschlossen, in der ich über meinem Abitur brütete. Ich baute mir die Wortfetzen zusammen, die ich empfing. Wie ich studierte Kenan zwei Studiengängen. Nur, dass ich aus Langeweile zwei Fächer studierte, er dagegen, weil er es musste, seine Aufenthaltsgenehmigung war an sein erstes Studium gekoppelt.
Soweit ich vernahm, wurde der Studiengang Philosophie in unserer Universität seit zwei Jahren nicht mehr angeboten. Alle Studenten, die nicht den möglichen Wechsel an einen anderen Studienort vollzogen hatten, wurden zwangsexmatrikuliert. Kenan drohte die Ausweisung.

Angst schlug mir durch meine Adern, kaum deswegen, weil er zur Abschiebung anstand. Diese Deportationen gefielen mir. Wie sie da einer nach dem anderen die Treppe zum Flugzeug bestiegen, köstlich. Er damit einer weniger, von denen, die sich eingeschlichen hatte.
Dramatisch für mich war einzig, ich verlor meinen Hausmeister, den ich bereits, in der, von mir vorgesehen, Rolle sah.
Ohne mich zu wenden, hörte ich, wer von seinen Freunden in der Runde saß. Nicht, dass ich sie kannte oder gar mit ihnen eine Freundschaft pflegte, ich mied sie eher. Ich pflegte keinerlei Freundschaft, mit Ausnahme zu Sonja.
Freunde sind eine Last, ein Ballast. Freundschaften wollen gepflegt werden. Freunden muss man helfen. Jener Abend bewies mir, wenn man sie braucht, sind sie nicht zugegen.

Immer, wenn sie in mein Haus einfielen, an besagten Abend belagerte nur der engere Kreis das Wohnzimmer, verwüsteten sie mein Haus.
Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich ein ordnungsliebender Mensch war. Das Gegenteil traf eher zu. Es macht bloß einen Unterschied, ob ich meine eigene Wohnung in ein Schlachtfeld verwandle oder andere. Einverstanden, bei Kenan lag es anders. Wir hatten uns einander gewöhnt, pflegten die gleiche Ordnung. Es fiel mir nicht schwer, mit ihm gemeinsam unsere Hinterlassenschaften zu beseitigen, zumindest dann, wenn ich ihm die Hauptlast übertrug. Aber von anderen, das konnte er allein. Der einzige Vorteil der Überfälle war daher, dass ich mein Heim am Nachmittag des nächsten Tages kaum wieder erkannte. Kenan räumte nicht nur auf, er polierte es.
Bei diesen Exzessen floh ich normalerweise, zog mich in meinem Zimmer zurück. Dann setzte ich mir meine Kopfhörer auf und genoss Pink Floyd, dabei verschlang ich Max Frisch – meinen Lieblingsschriftsteller. Er sprach mir aus der Seele.
An diesem Tag blieb sitzen und hörte zu.

Ali, der einzige von Kenans Kumpeln, mit dem ich mich unterhielt – seine besonnene Art kam mir entgegen – hatte eine Lösung. Kenan musste heiraten, wen spielte keine Rolle, ob Mann oder Frau.
Ich erstarrte, sollte ich verlieren. Meine ganzen Bemühungen der letzten Jahre in Rauch aufgehen. Er würde mich verlassen, das schien mir unausweichlich.
Gebannt und gleichzeitig nach einer Lösung rinnend, spitze ich meine Ohren.
Ali stellte sich sofort zur Verfügung, obwohl er Hetero, nur würde es Kenan nichts bringen, er besaß einen türkischen Pass, meinte er.
Stille trat ein. Keiner seiner Freunde sagte etwas. Ich hatte zumindest erwartet, dass sein Freund, mit dem er eine Beziehung pflegte, den Mund aufmachte.
Ich verabscheute Pertev. Wenn er bei uns verweilte, dann kam mir der Magen hoch. Keinesfalls, dass mein Verstand etwas gegen körperliche Liebe unter Männern hatte. Trotzdem überkam mich Ekel. Ich verspürte den Drang, ihn aus meinem Haus zu werfen. Liebe zwischen Mann und Frau ist normal, zwischen Frauen zärtlich und weich, aber Mann mit Mann. Allein der Gedanke daran, wie zwei Männer, behaart wie Affen, ihre nach Scheiß stinkenden Körper berührten und dabei rülpsten, weckte einen Schauer in mir, der ohne Halt zu machen, mir über den Rücken bis in meine Zehen kroch.
Sabine, die Kampfemanze, brach das Schweigen als Erste. Sie lobte Kenan in höchsten Tönen, aber heiraten wollte sie ihn nicht. Sie könne mit einem Mann keine Wohnung teilen. Ihr Tonfall verriet, was sie dachte.

Mein Haus verdreckten, besudelten sie aber ...
Die weiblichen Freunde Kenans durften mein Bad benutzen. Ich ging immer davon, dass alle Frauen sich beim Urinieren hinsetzten, bei Sabine kamen mir Zweifel.
Bei einer dieser Party ertappte ich sie. Nicht bei der Tat selbst, da war ich selbstredend nicht dabei. Ich verließ mein Bad. Sabine stand mit überkreuzten Beinen im Flur, drückte ihre Hand an ihren Schritt und wippte mit dem Becken. Warum kann ich nicht mehr ergründen, jedenfalls ging ich nach ihr wieder ins Bad. Nicht einmal Kenan hatte je mein Klo in dieser Weise hinterlassen, wie ich es nach Sabines Benutzung vorgefunden hatte.
Shervin ein kleiner, untersetzter Mittdreißiger, lehnte dankend ab. Er hatte keine Probleme mit Männern, er unterhielt seit mehreren Jahren mit Thorben – der an diesem Tag fehlte – eine glückliche Beziehung. Seine Liebe zu Thorben würde eine Ehe mit Kenan nicht überstehen. Was für eine Liebe war das?
Efi, die Frau, die sich bei jeder Gelegenheit, ob es passte oder nicht, brüstete, das Kapital abzulehnen und mantrahaft die Nächstenliebe propagierte, verzog in einem Monat nach New York, um eine Anstellung an der Wall Street aufzunehmen.
Der Kreis schrumpfte zusammen.
Die Aussage von Dario, ein schleimiger Gigolo und Pertev trennten mich von meinem Schicksal. Dario hechtete wortlos aus dem Wohnzimmer. Warum, erfuhr ich erst später.
Kenan ergriff für Pertev das Wort, erklärte der Runde, dass Pertev ihn nicht heiraten konnte, da er bereits ein Ehegelübde abgelegt hätte. Eine junge Ukrainerin, die gleich Kenans der Abschiebung nahe, hatte seine Nächstenliebe erweckt. Eine löbliche Begründung, dennoch gleich verlogen. Wie groß war seine Liebe zu Kenan? Die Ehe bestand über zehn Jahre. Eine Scheidung für mich in all der Logik überfällig.
Ich hörte mir das nicht länger an, stand auf und ergriff meine Chance, meine Pläne mit Kenan zu vollenden. Das Bild der Macht, welches mir das Schicksal bot, verlockte mich.
„Kenan, lass uns heiraten!“ Ich hüstelte. „Eine eingetragene Partnerschaft führen.“

***
Kenans fester Griff löste mich aus meinen Gedanken, dabei beichtet er mir, dass er Persien liebe und dort gewiss leben wollen, allerdings dort Menschen wie er nicht gerne gesehen würden.
Eine Ansicht, die mich gleichermaßen nicht verwunderte, wie seine Reaktion, seine Aussage, es gäbe im Iran genauso viele Homosexuelle wie bei uns.
Kenans zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und zog seinen Kopf zurück.
Wenngleich ich zuvor eher mit einem Ohr zugehört hatte, spitze ich in diesem Moment meine Ohren, saugte jeden Satz, jedes Wort von ihm auf und speicherte es ohne Komprimierung auf meiner Festplatte.

„Vielleicht sogar mehr als hier. Das ist ein anderes Thema. Gesteinigt wird niemand mehr, jedenfalls nicht in den Städten. Man ist eben kein Mitglied der Gesellschaft mehr. Kann nichts erreichen, nichts mehr für sein Land erzielen.“
Ich strich über seinen Arm.
„Das willst du?“
Kenan atmete durch, dann reckte er seine Arme gen Zimmerdecke.
„Das will ich nicht nur, das tue ich. Schon seit vielen Jahren arbeite ich für das Wohl meiner Leute.“
Er fuhr durch sein kurzes, lockiges Haar.
„Als ich noch, na ja … Ich wurde zur Gefahr.“
Er umgriff mein Handgelenk, klimperte mit seinen Wimpern und schmachte mich in einer schleimigen Art an, dass ich fast kotzen musste, inwieweit ich der einzige Mensch sei, der ihm jemals geholfen hatte. Seine ganze Organisation steht für immer mir gegenüber in ihrer Schuld. Seine Worte beglückten mich. Die Worte für sich waren mir einerlei, sondern wie er sie herüberbrachte. Es fehlte bloß, dass er zu meinen Füßen sank und diese küsste. Meine Strategie schien aufzugehen.
„Hätte sie herausgefunden, wo ich steckte, dann …“
„Hätten sie dich gefoltert“, fuhr ich im ins Wort.
„Vielleicht nicht direkt, aber sie hätten eins und eins zusammengezählt … Ist egal, damit will ich dich nicht belasten.“
Er runzelte seine Stirn und wir sahen uns lange, stumm an.

„Gehörst so einer Geheimorganisation an?“
Kenan verzog sein Gesicht zu einem Lächeln.
„Nein! Da ist nichts Geheimes. Wir sind eine ganz normale Organisation, eine Partei, international anerkannt. Wir sind in der Exilregierung.“
Kenan ein Politiker, dachte ich. Ich konnte mir dieses kaum vorstellen.
Er schenkte Tee nach. „Wir verhandeln mit anderen Ländern, sogar mit der iranischen Regierung.“
„Warum ist es dann für euch gefährlich?“
Er kniff ein Auge zu.
„Wir haben Verbindungsleute im Iran.“
Ich verstand. Die wollten seine Leute nicht gefährden.
„Warum hast du dich darauf eingelassen?“
„Warum?“
Seine Faust schmetterte auf sein Knie.
„Du hast keine Ahnung!“
Ich hatte an diesem Tag wirklich keine Ahnung, was er meinte. Politik hatte mich nie interessiert.
Meine Hand glitt über seine Faust.
„Dann erkläre es mir?“
Er nahm einen Schluck und berichtete mir. Ein langatmiges, für mich todlangweiliges Traktat schmetterte gegen meinen Schädel. Er erzählte von der glorreichen Geschichte der Perser, von Kolonialmächten, Rechtsstaat, Freiheit und Erdöl.
Warum zeigte er mir nicht einfach seine Blöße, seine Schwäche? Was gingen mich die Perser an? Dann zu allem Überfluss tote.
„Ich sehe, ich langweile dich!“
„Nein, nein.“
„Ich fasse mich kurz. Jedenfalls unser Stamm, ich muss dazu sagen, ist eher westlich eingestellt. Bildung ist für uns sehr wichtig, was nicht für alle Stämme im Iran gilt. Es gibt heute weiterhin Familie, die der Auffassung sind, dass Frauen zum Denken nicht in der Lage seien.“
Kenans tippte mit dem rechten Zeigefinger an seine Schläfe.
„Meine Leute und da gehörte mein Großvater und mein Vater dazu, waren mitverantwortlich, dass Khomeini ins Land kam.“ Er wandte sein Gesicht zuerst von mir ab, dann erneut zu mir. „Sie hatten die Auffassung, das einfache Volk mithilfe der Ayatollahs ins Boot zu nehmen“, Kenan lachte, „eine Idee, die vollkommen daneben ging.“

Mit jedem Wort, das er sprach, stieg in mir die Wut, Verlangen, Information zu erhalten, die ich in meinem Interesse ausbeuten konnte.

- Fortsetzung folgt -
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Ahorn,

ich schaue in letzter Zeit nicht mehr so oft rein, weil der Lyrikanteil hier für mich zu sehr überwiegt. Da finde ich nicht so viel, was ich kommentieren könnte. Habe ja auch selbst schon länger nichts mehr eingestellt. Sollte ich vielleicht bei Gelegenheit ändern.
Du hast jetzt was Neues. Dann schaue ich mir das mal an.

Der korpulente Mann, dem den ein silbergrauer Haarkranz zierte, ergriff die Tasse.
Bleigraue Gewitterwolken hatten die Sommersonne verdeckt, drohten mit aufflackernden Blitzen und den ersten Tropfen, die an der Scheibe zerbarsten.
„Da bin ich offen zu ihnen Ihnen. Der Vorstand ist überzeugt davon, sie Sie seien die richtige Person für die Stelle.“
„wie die da oben entscheiden, mit welchen Beziehungen sie Sie in die Auswahl gekommen sind, halte ich sie Sie für unqualifiziert.“
„Solange sie Sie nicht klauen oder Geheimnisse verraten!“
Es gab auch die Möglichkeit Komma ihn zu fragen, ob er seine Meinung ändere, wenn sie ihm einen blies.
„Kommt darauf an, wie sie Sie sich einfügen.
„Ich werde mich fügen und tun, was sie Sie verlangen“
„Ich dachte, weil er sich für sie Sie beim Vorstand eingesetzt hat.“
Später stehen für sie Sie alle Türen offen. Wenn sie Sie gut sind!“
„Dann sehen wir uns am kommenden Montag, um sie Sie den Abteilungen, in denen sie Sie zuerst tätig werden, vorzustellen?“

Genauer die alten, zusammengewürfelten Möbel stießen mich wie ein Rudel Wölfe einen Einzelgänger,kein Komma ab.
Die Episode abschließen, um daraus Erfahrungen und Kraft zu ernten, um diese in meinen meinem weiteren Leben zu verzehren.
Kurz ließ er seinen Blick über mich schweifen, um sich erneut sich wortlos,kein Komma hinter der Zeitung zu verstecken.
Meinen Willen,kein Komma ihm aufzudrücken, nicht zum Erfolg führte.
... damit der Gegenüber das Verlangen zu dienen,kein Komma erbat, erflehte.
Die Vorstellung.Komma, kein Punkt er hinge meine Unterwäsche zum Trocknen auf, betastete, womöglich beschnupperte er sie, erschauderte mich. Allein der Gedanke daran kam mir gleich,kein Komma wie eine Berührung seiner Finger auf meiner Haut.
Er ließ die Tageszeitung sinken, blickte mich an und warf mir ein Schnippisches, Weiberhaftes ich würde mal behaupten, diese Worte, da Adjektive, müssten klein geschrieben werden ‚natürlich‘ entgegen.

„Dann eben in die Eule“, flüsterte er, schlang die Scheiben hinunter und betrat in den Flur.
Der Schauer ebbte ab und Herbert verließ den Hauseingang,kein Komma eines ihm fremden Mehrfamilienhauses.
Allerdings entpuppte es sich,kein Komma als das Leuchten von mehreren Fahrzeugen, das jäh erlosch, während er näherkam.
Einige uniformierte Kollegen,kein Komma wiesen Passanten, die in die Stresemannallee wollten an, die Fahrbahn zu queren.
Er betrachtete den Leichnam und erkannte, was Norbert mit ‚interessieren‘ gemeint hatte.

Liebe Grüße,
 

ahorn

Mitglied
Hallo Rainer Zufall,

ich danke dir.
weil der Lyrikanteil hier für mich zu sehr überwiegt
Dem ist leider so, aber - dieses stelle ich in letzte Zeit fest - auch die Prosatexte dermaßen kurz, dass man sie in die Lyrik werfen könnte, falls es sich reimt.

Du hast jetzt was Neues.
Nee, wie ich bereits in der Info geschrieben habe eher aus der Klamottenkiste: Etwa zehn Jahre alt und zum Teil bereits in anderen Foren erschienen. War eben vor meiner LeLu-Zeit.
In der Fassung kam bereits ein Kommissar vor, allerdings und später und er hieß nicht Tamban. Der betrat erst hier in der LeLu Weihnachten 2018 als Spaß die Welt.
Da der Typ mir jedoch mit der Labry-Serie ans Herz gewachsen ist, nehme ich gern auch für andere Geschichten.

Nebenbei: Wo bleibt mal wieder etwas Neues von dir und von Franklyn Francis habe ich hier auch lange nichts mehr gelesen. ;)

Liebe Grüße
Ahorn
 

Walther

Mitglied
Hey @ahorn,
ich hab mal den ersten Absatz neu formuliert:
„Was halten Sie von meinem Vorschlag? Es ist eine Chance für Sie!“
Die angesprochene Frau Mitte Zwanzig stellte ihre halbvolle Kaffeetasse auf dem Beistelltisch ab. Sie war mit einem (rote?) Lippenabdruck verziert und stand neben einer leeren. Dann nahm sie Papiere auf und studierte die Schriftstücke. Dabei strich sie eine Strähne vor ihrem Auge aus dem Gesicht. „Herr Jäger, ich versteh nicht so ganz.“
warum? weil es so besser klingt. bevor ich weitermache, würde ich gern hören, ob ich das soll - oder ob du's lieber so lassen willst, wie's ist.
ich war dir noch was schuldig, und ich dachte, ich lös das mal ein.
lg W.
 

ahorn

Mitglied
Moin Walter,

deine Idee, den ersten Satz zu splitten, gefällt mir. Bei deinem Vorschlag gibt es jedoch ein Problem: die Zeit.
Wenn sie erst stellt, dann kann die Tasse nicht stehen.
Daher meine Idee:
Die angesprochene Frau Mitte Zwanzig nahm ihre halbvolle Tasse von den Lippen. Sie betrachtete den roten Lippenstiftabdruck und stellte sie neben eine leere auf dem Beistelltisch ab.
Damit hat man alles Wichtige verpackt: Ihr Alter, den Beistelltisch, auf dem die Papiere liegen, die Tassen, die beide Personen verknüpften.

Dann nahm sie Papiere auf und studierte die Schriftstücke. Dabei strich sie eine Strähne vor ihrem Auge aus dem Gesicht
Hat zwar weniger Kommata, finde ich jedoch für meinen Geschmack hölzerner als:
Dann nahm sie Papiere von diesem, strich eine Strähne ihrer Bubikopffrisur von einem Auge und studierte die Schriftstücke.
Vielleicht kann man das 'dann' durch ein weicheres 'anschließend' ersetzen.

Mach gerne weiter. Ich habe wohl noch genügend Kapitel in der Grabbelkiste, aber nicht recht die Zeit, daher fände ich es okay über das zu diskutieren, was draußen ist.

Liebe Grüße
Ahorn
 

Walther

Mitglied
Fein, dann mach ich weiter. es geht bei meinem lektorat um etwas wichtiges: lange und überfrachtete sätze lesen sich nicht gut. aber am ende ist das dein text. du nimmst, was du willst, und der rest bleibt, wie er war. ich werd ein bisschen brauchen, bis ich durch bin. dann poste ich das ergebnis, und du verwurstest es nach deinem gusto. wir brauchen das nicht im detail zu diskutieren, OK?
stay tuned!
WT
 

Walther

Mitglied
und hier:

Neuland



„Was halten Sie von meinem Vorschlag? Es ist eine Chance für Sie!“

Die angesprochene Frau Mitte Zwanzig stellte ihre halbvolle Kaffeetasse auf dem Beistelltisch ab. Sie war mit einem (rote?) Lippenabdruck verziert und stand neben einer leeren. Dann nahm sie Papiere auf und studierte die Schriftstücke. Dabei strich sie eine Strähne vor ihrem Auge aus dem Gesicht. „Herr Jäger, ich versteh nicht so ganz.“

Sie schlug die Beine übereinander und zupfte an dem Rock ihres geblümten Trägerkleides. Sie starrte den Herrn vis-à-vis an. Dabei spielte sie an einer Halskette, die in ihrer klobigen Art weder zu ihr noch dem Kleid passte.

Der korpulente Mann, dessen Kopf ein silbergrauer Haarkranz zierte, ergriff die seine leere Tasse. Er stierte in deren Trostlosigkeit, stellte sie wieder ab.

„Fräulein Santhof, wir sitzen heute nicht zusammen, weil ich von Ihnen begeistert bin.“



Herr Jäger erhob sich aus dem Ledersessel und stieß gegen den Tisch, so dass die Tassen auf den Untertassen klirrten. Er fasste sich mit der rechten Hand an sein Schienbein und verdrehte die Augen. Nachschließend hinkte er, das angeschlagene Bein etwas hinter sich herziehend, zur Panoramascheibe und stellte sich davor auf.

Bleigraue Gewitterwolken hatten mittlerweile die Sommersonne verdeckt. Sie drohten mit zuckenden Blitzen und den ersten Tropfen, die an der Scheibe zerplatzten.

„Da bin ich offen zu Ihnen. Der Vorstand ist überzeugt davon, Sie seien die richtige Person für die Stelle.“



Er drehte sich und durchquerte das Büro bis zu einem Schreibtisch, der den Raum dominierte. Nachdem er die Thermoskanne an sich genommen hatte, ging er zurück zur Sitzecke.

Der Zeigefinger von Frau Santhof glitt über das Dokument.

„Das versteh ich nicht. Warum soll ich hier in der Zentrale ... ein ganzes Jahr?“

„Das war meine Forderung. Ich als Personalchef habe eine Verantwortung und, egal“, er stockte kurz, „wie die da oben entscheiden und mit welchen Beziehungen Sie in die Auswahl gekommen sind – ich halte ich Sie für unqualifiziert.“ Sie hatte ihn die ganze Zeit unverwandt angeblickt und bemerkt, wie er den Kopf dabei zurückwarf.

Sie kniff ein Auge zu, dachte nicht darüber nach, ob sie ihn vergiften oder erstechen sollte, sondern nur wann. „Danach wechsle ich in die Filiale?“



Ein Grinsen flog über seine schmalen Lippen. „Wenn Sie die Probezeit überstehen!“

„Keiner weiß, was ich hier in der Zentrale getan oder gemacht habe?“, wollte sie wissen.

„Solange Sie nicht klauen oder Geheimnisse verraten!“

Er beugte sich über den Tisch und malte Kreise auf ihrem bestrumpften Knie.

„Unsere Filiale, für die Sie sich beworben haben, ist bis auf die Personalabteilung autark.“

Er lehnte sich zurück. „

Warum ist Ihnen das derart wichtig?“



Sie knetete erneut die Halsketten und überlegte, ob sie das Risiko eingehen sollte. Oder ihm, weil er sie ungefragt betatschte, gleich eine kleben. Es gab auch die Möglichkeit ihn zu fragen, ob er seine Meinung änderte, wenn sie ihm einen blies. Mehr war für ihn nicht drin.

Denn sie wusste nicht, wie lang sie es aushielt, bevor ihr Ego, ihre Biologie, verlangte, wieder in ihr wahres Ich zu schlüpfen. Ein Ich, welches weit entfernt von einer Dame war, eher dem Gegenteil entsprach.

„Nicht wichtig! Wie Sie sagten, habe ich die Firma bewusst ausgewählt.“



Er strich über ihren Oberschenkel, bis seine Fingerspitzen unter ihren Rocksaum glitten.

„Kommt darauf an, wie Sie sich einfügen. Teamarbeit steht bei uns an erster Stelle.“

Sie senkte den Kopf, schob den Saum des Rockes über die Hand von Jäger, , bis er sich straffte. Sie flüsterte: „Ich werde mich fügen und tun, was Sie verlangen“, dabei hoffte sie, dass er sie nicht enttarnte.



Der Personalchef nahm die Hand vom Bein, lehnte sich zurück und richtete seine blutrote Krawatte. „Sind Sie mit Herrn Dreier bekannt?“

Sie legte die Unterlagen auf den Tisch und die Hände auf den Schoß.

„Mit wem?“

„Herrn Dreier, dem ehemaligen Besitzer unserer Filiale.“

„Nein! Den kenne ihn nicht.“

Er wies auf den Vertrag.

„Ich dachte, weil er sich für sie beim Vorstand eingesetzt hat.“

„Wie ich sagte. Ich kenne keinen Herrn Dreier.“



Sie wandte sich von ihm ab.

„Mein Grund zu schwanken, ist anderer Natur.“

„Solang dieser Grund nicht Ihre Arbeit beeinträchtigen“, er blinzelte ihr zu, „interessiert es mich nicht.“

„Nein. Ihr Angebot ist verlockend. Ich wollte schon immer professionell Computerspiele entwerfen.“



Er runzelte die Stirn, ergriff den Vertrag und schüttelte den Kopf.

„Bitte!“

Ein Lächeln huschte über sein aufgedunsenes Gesicht.

„Ich verstehe! Später stehen Ihnen alle Türen offen. Wenn Sie gut sind!“

Er faltete die Hände hinter dem Genick, und sie hätte gern die Rechte zur Faust geballt, um sie ihm mit dem größten Vergnügen in die Visage zu rammen. Aber eine Lady tat das nicht.

„Dann nehmen Sie den Vorschlag an? Herr Dreier ist nur Berater, aber eine Koryphäe in seinem Fachgebiet. Ich persönlich halte nichts von Computerspielen. Die passen nicht in unsere Produktpalette.“

Er rieb übers Kinn.

„Vorstandsentscheidung ist Vorstandsentscheidung!“

Dann zog er einen Kugelschreiber aus seinem Jackett, hielt ihr diesen unter die Nase.



Sie ergriff den Vertrag und unterschrieb lächelnd mit ihrem falschen Namen. Sie zuckte mit den Achseln. Obwohl der Nachname der echte war.

Herr Jäger stand auf und streckte ihr die Rechte entgegen.

„Dann sehen wir uns am kommenden Montag, um Sie den Abteilungen, in denen Sie zuerst tätig werden, vorzustellen.“

Sie berührte die ausgestreckte Hand.

„Ja! Ich stehe Ihnen zu Diensten.“





Massage



Ich zog den Schal fester um meinen Hals und verfluchte, dass mein Haus abseits lag. Der Weg von der Bushaltestelle schien endlos und an diesem Abend verlassener denn je. Ich empfand eine Art Furcht, die ich früher nicht kannte. Die Angst verstärkte das Frösteln, das mir durch den Körper bis zu den Zehen kroch.

Der Winter schien in diesem Jahr nicht enden zu wollen. Obwohl längst Mitte März, strömte ein frostiger Nordwind über die Straße und in den gefrorenen Pfützen spiegelten sich die Sterne, bis das Eis unter meinen Absätzen zerbrach.

Das verhaltende Leuchten der Fenster meines Hauses lockte mich geisterhaft eines Leuchtturmes gleich in den friedlichen Hafen. Der Geruch verbrannten Holzes, der aus dem Kamin waberte, beschleunigte meine Schritte - soweit die ätzend, hohen Absätze mir Gehen, geschweige Laufen gestatteten. Ich war daheim.

Wärme umflutete beim Eintreten meinen erkalteten Körper, woraufhin ich den Namen meines Mitbewohners rief. Eine freundliche Begrüßung, die mehr dem Heim als ihm galt. Dennoch mir in den letzten Wochen zum Ritual geriet.



Vor Kurzen interessierte es mich keinen Furz, ob Kenan auf irgendjemanden wartete. Das hatte sich geändert. Denn hier in meinen vier Wänden konnte ich wieder ich sein, und Kenan war ein Teil davon.

Kenan antwortete ungefragt und teilte mir mit, er sei im Wohnzimmer. Die Mundwinkel emporgezogen streifte ich den Mantel ab, Mütze und Schal folgten, flogen auf den Dielenboden. Ich setzte mich auf den Hocker, befreite die Füße von den Stiefeln, die meine Zehen quälten.

Als ich Türklinke zum Wohnzimmer in der Hand hielt, ertappte ich mich. Ich war in den alten Trott zurückgefallen. Ich kniete nieder, ergriff die Sachen, verstaute sie, wie Kenan es mir vorlebte, in den Garderobenschrank. Sogar die Stiefel stellte ich in die Reihe der dort wartenden Schuhe.



Ich drückte die blütenweiß gestrichene Wohnzimmertür auf, der Geruch von Moder stieg mir in die Nase. Eine Witterung, die ich zuvor nie gerochen hatte. Es hatte für mich den Anschein, als beträte ich ein fremdes Zimmer. Obgleich die Wärme des Ofens mich erfreute, lehnte der Raum mich ab. Genauer die alten, zusammengewürfelten Möbel stießen mich wie ein Rudel Wölfe einen Einzelgänger ab. Hatte ich mich geändert oder lag es daran, dass ich mit den Kolleginnen diese Zeitschriften verschlang, indem der neuste Wohntrend leuchtete. Ich musste etwas ändern, mich trennen von dem Studenten-Buden-Look, den Weg weitergehen, egal, wie schwer er mir fiel. Die Episode abschließen, um daraus Erfahrungen und Kraft zu ernten, um diese in meinem weiteren Leben zu verzehren.

Erschöpft vom Tag fiel ich auf einen dieser klapprigen Sessel, warf die Beine auf das Sofa, auf dem Kenan, vertieft in eine Tageszeitung, ruhte. Kurz ließ er seinen Blick über mich schweifen, um sich erneut wortlos hinter der Zeitung zu verstecken.



Ich zupfte an meiner Bluse, fragte ihn, was er davon hielte, wenn wir uns eine neue Wohnzimmereinrichtung zulegen würden.

Ob er oder ich mehr verblüfft über die Frage war, lag außerhalb meiner Systeme. Er zumindest studierte weiterhin seine Tageszeitung.

Bis zum Zeitpunkt meiner Anstellung in Hannover hatten wir nebeneinanderher gelebt. Wir lebten in einer Wohngemeinschaft. Punkt!

Kenan zeigte mir seine Zuneigung und Dankbarkeit auf seine Art. Er machte den Haushalt und kaufte ein. Einen Umstand, den ich ihm anrechnete. Er kehrte üblicherweise um vier Uhr von der Arbeit heim, ich des Öfteren erst nach sieben. Sein Angebot, meine Wäsche zu waschen, hatte ich abgelehnt.

Ich schüttelte den Kopf. Die Kälte hatte mir den Verstand vereist. Dachte ich ernsthaft diesen Blödsinn.



Kenan als meinen Mitbewohner zu bezeichnen, traf die Wahrheit nur zum Teil. Er erledigte, seitdem er bei mir wohnte, alle Dienstbarkeiten am Haus. Reparierte oder renovierte das Gemäuer, hackte Holz, damit ich nicht fror. Dafür bezahlte er keine Miete.

Dem nicht genug, mir verlangte es nach einem Knecht, der winselte, hechelte, nach Arbeit dürstete.

Erst in den letzten Wochen begriff ich, dass der Ansatz zu kurz griff. Dass ihm meinen Willen ihm aufzudrücken, nicht zum Erfolg führte.

Kein Mensch veränderte sich, weil ich es verlangte. Ich entschied daher, mein Verhalten, das Programm, welches mich steuerte, umzuschreiben, damit der Gegenüber das Verlangen zu dienen erbat, erflehte.

Sein Angebot, meine Wäsche zu waschen, lehnte ich nur aus einem Grund ab, dass es mir zu intim war. Die Vorstellung, er hinge meine Unterwäsche zum Trocknen auf, betastete, womöglich beschnupperte er sie, erschauderte mich. Allein der Gedanke daran kam mir gleich wie eine Berührung seiner Finger auf meiner Haut. Für derart Belobigung war er nicht reif genug. Er war vom Tal der Quallen, die ich mir ausmalte, derzeit weit entfernt.

Mit einem Lächeln begründete ich die Entscheidung. Frauensache! Ich verziehe es ihm nie, gab ich ihm zu verstehen, wenn er eine der teuren Blusen zu heiß bügele, dann …

Eine Lüge, aber eine Gute, denn intim war es mir wahrlich nicht, wenn er an meinen Dessous schnüffelte, solange ich sie nicht anhatte, mir schnuppe. Die Vorstellung daran, dass er eines Tages vor mir auf die Knie fiel, vor mir kroch und winselte, um mir den Wäschekorb zu entreißen, beglückte mich dagegen.



Kenans Zuruf, ich hätte kalte Füße, warf mich aus meinen Gedanken. Eine mir wohlbekannte Tatsache, immerhin waren es meine Füße, deren Temperatur ich registrierte. Niemand musste mich darauf aufmerksam machen.

Ohne, um Erlaubnis zu betteln, ergriff er meine Füße, und zu allem Überfluss massierte er mir die Zehen, die ins Leben zurückkehrten.

Ich schloss die Augen, lehnte mich zurück. Dabei erklärte ich ihm, dass nicht nur das Gehen in hochhackigen Stiefel anstrenge, sondern die wärmende Wirkung, obwohl der Schaft bis zu den Knien reichte, minimal war. Die Sohlen isolierten keinen Fitzel, weil sie dünn wie ein Schulheft waren.

Er unterbrach die Massage und wagte es ernsthaft, mich zu fragen, weshalb ich mir nicht richtige, warme Winterstiefel zulegte. Die Frage zeigte mir erneut, er hatte keinerlei Wissen, war dumm wie Brot. Ich richtete mich auf und erklärte ihm, dass der Markt für elegante, warme Stiefel längst im Herbst geleert und mir zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt war, inwieweit ich derartige Schuhe benötigte.

Es fehlte am Ende meiner Erklärung nur die Nennung seines Geschlechtes im Plural, um von den Kolleginnen eine Auszeichnung entgegenzunehmen. Ich verkniff mir das Wort, da es aus meinem Mund doppeldeutig geklungen hätte, eher lächerlich. Daher sank ich zurück an die Sessellehne und schob nur hintenan, wie schwierig es gewesen wäre, überhaupt ein Paar zu finden.



Mein Körper genoss die Massage. Mein Verstand wehrte sich. Ich befahl Kenan aufzuhören und zog die Füße mit einem Ruck zurück. Dann begründete ich die Aktion damit, dass er mit seinen Pranken eine Laufmasche zöge. Eine nicht ganz unbegründete Gefahr.

Meine Erklärungsversuche, weshalb Damen Feinstrumpfhosen trugen, verliefen eher im Sand. Entgegen ihren dickeren, wolligen Schwestern wärmten sie nur bedingt, dazu war ihre Lebenszeit kurz. Dieses hatte ich bereits festgestellt. Es existierten zwei Arten von Feinstrumpfwerk. Billige, die meist nicht einmal den Vormittag standhielten, und welche, die fünf- bis zehnmal teurer waren, dafür mehrere Handwäschen überstanden. In einer Mittagspause hatte ich es den Kolleginnen vorgerechnet und kam zum Ergebnis, dass es finanziell nicht von Belang wäre, welches Model man bevorzuge. Dass ich ökologisch - soweit man bei Strumpfhosen davon sprechen konnte - ich das Teure vorzog. Woraufhin die Kolleginnen mich erst erstaunt anglotzten, dann unterstrichen, dass der Tragekomfort und die Optik an oberster Stelle standen. Ohne etwas zu sagen, stimmte ich ihnen zu, verstand aber ihre Logik, ihre Empörung nicht, da ich ihnen beipflichtete. Egal, das Ergebnis war dasselbe, die Billigen kratzten.



Kenan versteckte sich erneut hinter der Zeitung und murmelte mir zu, dass ein Bad mir wohltäte, er in der Zwischenzeit uns ein schönes Abendbrot machte.

Wie er ‚Schönes‘ betonte, kotzte mich an. Am liebsten hätte ich ihn vom Sofa getrieben, damit er mit dem Atem meine Zehen wärmte.

Ich sah ihn von der Seite an und fragte, ob er den Badeofen angeworfen hätte.

Er ließ die Tageszeitung sinken, blickte mich an und warf mir ein schnippisch-weibliches ‚Natürlich‘ entgegen.







Mahlzeit!



„Ich habe Ihnen schon dreimal gesagt, meine Frau ist nicht daheim, und ich mache keinen Termin für den Salon. Wenn Sie einen vereinbaren möchten, rufen Sie doch die Chefin an … nein ich weiß nicht, wann Magda heimkommt. Wiederhören.“

Herbert donnerte den Hörer auf die Gabel Er war nicht gereizt, die Ruhe selbst. Aber, was sich die Leute – er revidierte, er wollte nicht verallgemeinern – diese Schnepfe sich erdreistete. Er sah zur Standuhr und murmelte.

„19 Uhr 30. Heute verpasst. Schnepfe.“

Okay, dafür hatte sie wahrlich keine Schuld, eher Magda. Weshalb sie überhaupt arbeitete, war ihm schleierhaft. Wenn er sie wäre, würde er daheimbleiben, den Haushalt schmeißen und sich sonst einen schönen Tag machen. Aber nein, seine holde Gattin musste unbedingt halbtags in diesem Schönheitssalon … anderseits? Er schmunzelte.

Für ihr Alter hatte sie sich gut gehalten. Wirklich! Er hatte nichts dagegen, wenn sie neben den häuslichen Pflichten etwas Gutes tat, wie die Nachbarin, bei den Grünen Damen. Sich bei den Patienten im Krankenhaus ablenken, ihnen etwas vorlesen. Oder zumindest wirklich halbtags und nicht jeden zweiten Tag Vollzeit zuarbeiten. Was unter dem Strich auf dasselbe führte. Warum war er bloß gereizt? Dabei hatte er sich vorgenommen, bis der Präsident ihn wieder rief, sich auszuspannen, zu lesen und ein oder vielleicht zwei gute Rote am Tag sich zu gönnen und …

Ja, er gestand es sich ein, sich von Magda bewirten zu lassen.



An ihre Kochkünste kam nur ein Mensch heran und das war seine, Herberts, Mutter. Was unternahm Magda, anstatt heimzukehren? Sie ging ins Reisebüro. Er hatte nichts einzuwenden, freute sich für sie. Das letzte dreiviertel Jahr, nachdem sich Eberhard von ihr getrennt hatte, war für Herbert alles andere als erquickend. Gut, für ihn war es ein viertel Jahr, weil er damals in Aurich diente und nur am Wochenende heimkam.

Da freute er sich, als sie ihm mitteilte, sie hätte im Café einen netten Herrn getroffen. Gebildet und ledig, genau der Richtige, wie sie meinte. Außerdem sei er wohlhabend. Einen Umstand, den sie zwar nicht verlangte, wie sie immer beteuerte, jedoch nicht als negativ titulierte. Sie gab es nicht direkt zu, aber als sie bereits das nächste Wochenende mit ihm verbrachte, war es Herbert bewusst, Magda hatte sich über alle Ohren verliebt.

Das Essen wurde wieder genießbar, seine Hemden hatten keine Falten mehr, und das Haus glänzte. Sie sich beim Fernsehen bei ihm einkuschelte, an den Füßen pulte oder strickte. Nachdem sie für ihn Häppchen geschmiert hatte. Die Welt war wieder in Ordnung.

Weshalb sie aber gleich mit ihm in den Urlaub fahren wollte, dann nach Griechenland, verstand Herbert nicht, obwohl sie es begründete. Es sei ihr am Anfang wichtig, die Liebe zu ihm zu vertiefen, und dieses geschehe am besten im Urlaub. Das mit dem Vertiefen begriff er wohl, jedoch Griechenland? Vertiefen konnten sie auch im Harz. Vielleicht Selke-Tal. Nette Gegend! Was benötige er zum Vertiefen? Drei Mahlzeiten und ein Bett.

„Apropos Mahlzeit“, murmelte er, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Er nahm den Teller heraus, auf dem die belegten Brote lagen. Dabei sah er sich drin um und vermisste eins: ein kühles Blondes. Auf Wein hatte er irgendwie keinen Bock.

In der Garage war gleichfalls keins mehr. Die leere Kiste stand in Magdas Wagen und dieses in der Stadt. „Dann eben in die Eule“, flüsterte er. Er schlang die Scheiben hinunter und betrat den Flur.



Der Schauer ließ nach. Herbert verließ den Hauseingang eines ihm fremden Mehrfamilienhauses. „Griechenland“, murmelte er. Welch vernünftiger Mensch reiste im Hochsommer nach Griechenland, wenn man es daheim nicht einmal vor Wärme aushielt.

Er dachte sofort an einen Hitzeschock, als er das blaue Blinken voraus erblickte. Allerdings entpuppte es sich als das Leuchten von mehreren Fahrzeugen, das jäh erlosch, während er näherkam.

Einige uniformierte Kollegen wiesen Passanten an, die in die Stresemannallee wollten an, die Fahrbahn zu wechseln. Andere lehnten gelangweilt, die Arme verschränkt, an den Streifenwagen oder rauchte eine. Zwei von der Spurensicherung, gehüllt im Schutzanzug, kamen aus einem Hauseingang. Als Herbert deren Bulli erreichte, erreichten auch sie diesen, und einer der Vermummten sprach ihn an: „Herbert, was machst du hier?“

Der Typ zog den Mundschutz herab, und Herbert erkannte ihn. „Norbert, das sollte ich eher dich fragen.“

„Entschuldige, ich wollte mich bereits vor einem Monat bei dir melden, habe nach Hannover gewechselt.“

„Wieso, du warst doch in Lüneburg glücklich?“



Herbert hatte ihn kennengelernt, als er dort für ein knappes Jahr die Kriminaltechnik leitete. Aus Kollegen wurden Freunde und aus Norberts Ehefrau, die Herbert oft bekochte, dessen Liebschaft. Ein Umstand, den er Norbert natürlich nicht gestand.

„Die Liebe, Herbert, die Liebe, treibt mich her.“

„Dorothea? Die Kinder?“

„Die Kinder sind erwachsen, und Dorothea wird bestimmt nicht lange allein bleiben. Die findet schon einen, da habe ich keine Sorge.“

Diese Annahme teilte Herbert mit ihm. Er überlegte, ob er Dorothea anrufen solle. Er wies auf das Gebäude, aus dem Norbert zusammen mit dem Kollegen gekommen war.

„Hier? Etwas größeres?“

„Kann man wohl sagen. Schau es dir an, es wird dich bestimmt interessieren.“

„Norbert, du weißt, ich habe es nicht mit Tatorten, das ist euer Ding.“

Norbert stieg in den Bulli, in dem zuvor der Kollege verschwand, streckte sodann einen Arm heraus, über dem ein Schutzanzug baumelte. „Komm, schlüpfe hinein!“



Wie ein Marsianer - bloß in Weiß - kam sich Herbert vor, als er das Treppenhaus betrat. Dieses war mit ein Grund, weshalb er es andern überließ, Tatorte zu besichtigen. Der Mundschutz raubte ihm den Atem, durch die Schutzbrille sah er nur verschwommen, und die Latexhandschuhe klebten auf der Haut.

Norbert schien ihm das Glück anzusehen. „Gleich, Erdgeschoss.“

Sie nahmen die sechs Stufen. Norbert übernahm die Führung, Herbert folgte. Folgte ihm in die Wohnung. Bereits nach den ersten Schritten roch er, dass es sich nicht um einen Einbruch handelte. Der süßliche Gestank von angefaultem Fleisch drang in seine Nase. Wenige Sekunden später erblickte er die Ursache. Ein korpulenter Mann - sein Alter konnte er nicht einschätzen, zumindest war er kein Jüngling mehr - lag auf einem Bett. Um seinen Hals trug er eine blutrote Krawatte, dessen freies Ende am Bettgestell gebunden war. Herbert trat näher heran, scheuchte dabei Fliegen auf, die erst schwirrten, dann sich zu ihresgleichen an Decke und Wände gesellten. Er betrachtete den Leichnam und erkannte, was Norbert mit ‚interessieren‘ gemeint hatte. Denn er, Herbert, hatte Gleiches bereits gesehen, zwar nicht in natura, jedoch auf Fotos. „Norbert, Bratpfanne, Teller, Besteck auf dem Küchentisch?“

„Jo.“

Im selben Augenblick saß er wieder an seinem Schreibtisch in Lüneburg.



***



„Sorry, Norbert, aber du weißt, was soll der Leiter der Technik, der eh keine Ahnung hat, bei einem Tatort. Außerdem konnte ich deine Frau nicht enttäuschen und sie mutterseelenallein mit dem Essen zurücklassen.“

„Nee, alles gut, immerhin hatte ich Bereitschaft. Du hättest eh nur gekotzt.“

„So schlimm?“

Norbert warf ihm Fotos auf den Schreibtisch. „Das Weitere ist Aufgabe der Rechtsmedizin, aber ich würde sagen, das Opfer wurde erst stranguliert, dann hat ihm der Täter sein Glied inklusive Eier abgetrennt. Vielleicht war er sogar nicht ganz hin und spürte noch etwas. Das wird sich zeigen.“ Weitere Fotos segelten auf seinen Schreibtisch nieder. „Ob der Täter dann die Trophäe gebraten und verspeist hat oder das Opfer zuvor eine Wurst, wird sich zeigen. Die Blutspuren weisen auf das Erste hin.“

„Norbert, jetzt pack die Fotos zusammen, damit die ermittelnden Kollegen sie abholen können und du fährst heim, kuschelst ein wenig mit Dorothea und machst den Rest des Tages frei.“

„Dorothea ist bestimmt schon auf der Arbeit.“

Gewiss war sie dort, dachte Herbert. Er hatte sie dort hingefahren, nachdem er die Nacht mit ihr verbracht hatte.



***



Herbert zerrte sich den Schutzanzug über die Beine und schaute Norbert an.

„Du kannst ja den Kollegen sagen, dass wir bereits einen ähnlichen Fall in Lüneburg hatten.“

„Was machst du?“

„Ich gehe in die Eule.“

„In die was?“

„Meine Stammkneipe. Ich würde dich gern mitnehmen, aber du musst arbeiten.“

„Ich meine, ob du zurzeit auf Einsatz bist.“

„Nee, ich warte.“



In der Eule zischte er einige Helle, spülte diese mit ein paar Klaren hinunter und verdrängte das Bild des Toten. Er kehrte heim, und Magda, im Evakostüm gekleidet, pfiff ihn an, woher er derart spät käme, sie sich Sorgen mache. Sie verzieh ihm zwar, nachdem er es ihr erklärt hatte, verbannte aber ihn dennoch ins Gästezimmer.

Das allerdings war nicht seiner Fahne geschuldet, die ihm voraus ging, sondern dem Faktum, dass das Ehebett bereits mit einem anderen Mann belegt war. Mit diesen Gedanken schloss er auf dem Klappsofa die Augen und lauschte dem lieblichen Gesang seiner Magda. Sie zumindest hatte eine aufregende Nacht.
have fun with it.
 

ahorn

Mitglied
Moin Walter,

ich habe dich nicht vergessen, sondern deine Korrekturen gern übernommen - soweit ich sie gefunden habe. ;) Wie wäre es, diese zu markieren? Glaubst du, ich kenne meinen Text auswendig. :) Aber damit es nicht langweilig ist, habe ich ein weiteres Kapitel angefügt.

Gruß
Ahorn
 

Walther

Mitglied
Moin Walter,

ich habe dich nicht vergessen, sondern deine Korrekturen gern übernommen - soweit ich sie gefunden habe. ;) Wie wäre es, diese zu markieren? Glaubst du, ich kenne meinen Text auswendig. :) Aber damit es nicht langweilig ist, habe ich ein weiteres Kapitel angefügt.

Gruß
Ahorn
Hi, schön, wenn ich helfen konnte. und jetzt schreibe ich an meinem 3. Brühlsdorf weiter. neue einsätze dieser art erst wieder im februar 24. sorry dafür. lg W.
 

ahorn

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Walter, kein Ding,

bin ohnehin bloß sporadisch da, denn ich bastle an meinen zweiten Roman: den Ur-Tamban. ;)
 



 
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