Tanga Ithí

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ENachtigall

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Tanga Ithí

„Ich“, sagte Tanga Ithí, als Gott meinte:
„Sie könnten mal wieder einen gebrauchen, auf dem blauen Planeten.“
„Ich gehe“, sagte Tanga Ithí, denn er war entschlossen und mutig.

Also dimensionierte er zur Erde – keiner weiß wann und wo genau – denn mit Zahlen und Zeiten hatte er es nicht so.

So fand er sich wieder an einer Straße. Sie führte zu einer tristen Siedlung, gleichförmig geduckter Häuser, mit großen senkrecht stehenden Tellern an Stäben auf den flachen Dächern, von einander abgeschottet durch dichte hohe Zäune, auf deren Oberkanten stachelige Drähte genagelt waren. Vereinzelt warfen sich Hunde, die er nicht sah, Gebellfetzen zu.

Er wandte sich um. Sein Blick fiel in die Weite unendlicher Felder, durchbrochen nur durch kümmerliche Inseln, karger Häufchen Bäume, die sich gegenseitig mit ihren dürren Ärmchen festzuhalten schienen, während ein leichter Wind sie fast zärtlich wiegte.

Einem Drang nach Bewegung folgend marschierte er los, seine Flügel ein wenig aufgeplustert, denn es war kalt. Seinen Atem schickte er in kleinen Wölkchen voraus.

Als er zu seiner Rechten, in der dunklen Krume des Ackers, eine frische Spur entdeckte, folgte er ihr unverzüglich, den Blick fasziniert auf die Ebenmäßigkeit des gestochen scharfen Profils gerichtet. Mit Spannung erwartete er, darin eine Unregelmäßigkeit aufzuspüren.

Erschreckt blickte er auf, als sich seine Aura am hochglanzpolierten Lack eines Geländewagens rieb.
„Ob es lebt?“ fragte Tanga Ithí laut, denn er war es gewohnt, sich am vibrierenden Klang seiner Stimme zu stärken, wenn er verunsichert war.
„Es wackelt“, stellte er fest. Nachdenklich kratzte er sich unter dem linken Flügel.

„Was hast Du gesagt?“ lispelte die junge Schöne zwischen zwei bewusst lang gezogenen Stöhnlauten ihrem athletisch anmutenden Siegertypen zu. Der schien dem Rhythmus seiner Bewegungen nach eher an einem Fitnessgerät beschäftigt, als dem Zauber eines Liebesspiels ergeben.
„Ich?“ brachte der Typ mit leicht genervtem Unterton hervor, denn er sprach nicht gern, wenn es nicht sein musste. Schon war er aus dem Takt gekommen.

„Ich“, sagte Tanga Ithí, aus der Entfernung seiner zweieinhalb Meter, in das Gesicht, das ihm durch die Scheibe entgegenstarrte.
Ich spreche. Kann ich helfen?“ denn er erinnerte sich an seine Aufgabe, freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend zu sein.

Inzwischen hatte auch die Schöne entdeckt, dass es draußen etwas zu sehen gab und schüttelte kurz entschlossen, wie ein unbequem gewordenes Kleidungsstück, den Athleten ab.
„Ach wie süß! Ein Engel!“ flötete sie. „Ist denn schon wieder Haloween?“

Der Typ zog sich umständlich die halb heruntergelassene Tweedhose hoch und fingerte zitternd vor Wut am Gürtel herum, bevor es ihm gelang, ihn endlich zu schließen. Dabei brachte ihn seine Unbeholfenheit noch mehr zum kochen.

Er ließ sich in den Fahrersitz plumpsen, dessen Lehne noch heruntergelassen war, so dass sein Oberkörper nach hinten kippte. Mit einem Griff ließ er ihn in die exakt richtige Position schnacken. Langsam zog er seinen einstmals föhnfrisierten Kopf zwischen die Schulterblätter und verharrte kurz.
Seine Rechte suchte fieberhaft unter dem Sitz, bis sie den von Weichschaum überzogenen Schaft des - für alle Fälle vorhandenen – Totschlägers umklammerte. "Alle Fälle" gab es bei ihm öfter.
Jetzt streckte er den Kopf kampfesmutig wieder hoch.

Die Schöne durchsuchte inzwischen ihre Handtasche nach dem Fotohandy.

Seine Linke öffnete die Fahrertür und geduckt sprang er auf die Füße, um sich im Schutze des Wagens an den feindlichen Eindringling zu schleichen.

Die Frau schrie hysterisch, als sie ihn mit der Waffe sah.

Tanga Ithí zuckte zusammen. In den Taschen seines Gewandes suchte er nach den Stöpseln für die empfindlichen Ohren, denn hohe laute Geräusche konnten seinen unterentwickelten Gleichgewichtsinn außer Kraft setzen.

Ihre Hand, die noch immer in der Tasche nestelte, hatte etwas zu packen gekriegt. Die Finger umklammerten das kleine kalte Ding, dessen Metall eine so beruhigende Wirkung ausübte. Die Spannung wich jäh aus ihrem Körper. Sie tippte mit dem linken Zeigefinger auf den Schalter des automatisch öffnenden Beifahrerfensters und steckte den rechten Ellbogen gelassen durch die Öffnung; kein Zweifel, dass sie ihn rechtzeitig erwischen würde.

Schon erblickte der Mann, der leise und gebückt vorne um den Wagen geschlichen war, den Engel, der gedankenverloren dastand - die Hände in den Taschen vergraben, wie ein Wartender auf den Bus.

Wirre, unsortierte Vorstellungen geisterten im Hirn des Angreifers über mögliche Missetäter, die sich diesen schlechten Scherz ausgedacht haben könnten. Gleich würde er ihm den Gummiknüppel gegen die Knie schlagen und seine Verkleidung herunterreißen.

Der Schuss zerriss die Stille in dem Moment, als alle drei bemerkten, dass Schnee fiel.

Tanga Ithí erwachte aus seiner Ohnmacht.
„Ich“, sagte Tanga Ithí, „ich liege“.
Auf ihm lag eine beachtliche Schneedecke. Er öffnete seinen Mund und schluckte die schmelzenden Flocken gegen den Durst. Die Hände in den Taschen umschlossen seine Ohrstöpsel. Allmählich kam ihm die Erinnerung.

Er stand auf und klopfte sich den Schnee von seinem Gewand. Ein paar mal schlug er vorsichtig mit den Flügeln.

Dann ging er zu der Stelle, wo unter einer rötlichen Färbung im Schnee der andere lag.
Er strich den Schnee mit seiner Hand beiseite, bis er das Gesicht und die Brust sah. Leben war nicht mehr in ihm. Behutsam schloss er die Augen, die ein Staunen mit in den Tod genommen hatten, und hauchte ihm etwas Atem in die Ohren, die noch nicht ganz taub waren.

Tanga Ithí sah sich um. Ganz leichte weiße Spuren waren noch vom Geländewagen zu sehen, die sich in der Richtung verliefen, aus der sie alle gekommen waren.
„Es lebte doch nicht“, sagte Tanga Ithì und schaute ein letztes Mal zu der tristen Siedlung, die im Schneegestöber kaum noch zu erkennen war.
„Totes hinterlässt keine lebendige Spur.“

Dann drehte er sich langsam im Kreise und hielt witternd die rote Nase in die Ferne. Dabei schloss er seine Augen. Er fühlte sich hungrig, kalt, einsam und müde; all die ungewohnten menschlichen Beschwerden, ach nein, Bedürfnisse hießen sie ja.

Ganz schwach nahm er einen Duft wahr, eine Fährte! Es war eine Spur, die ein unregelmäßig durchbrochenes Grundmuster enthielt: Korn, Salz, Wasser, Butter, Hefe. Dazu hörte er, kaum wahrnehmbar, frischbezogene Federbetten plustern und Kaminfeuer knistern.

„Brot!“ rief er aus. „Frisches Brot!“

Schwungvoll breitete er seine Flügel aus. Er flog davon.




11.12.05, leicht korrigiert am 13.12.05
Anmerkung:
Eigentlich wollte ich den Text als Schreibaufgabe zum Thema "Engel" einstellen. Aber wie schon früher in der Schule, stelle ich nach Beendigung der Arbeit fest, dass ich mal wieder das Thema verfehlt hatte!
Sollte er fehl am Platze sein, bitte ich um entsprechende Verschiebung in "Kurzgeschichte" oder "Fantasy".
 



 
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