Horst M. Radmacher
Mitglied
Für die heutige Gesellschaft ist es kaum vorstellbar, medial von nur einem Fernsehsender versorgt zu werden. Im Februar 1962 ist die Medienlandschaft in der Bundesrepublik aber so. Es existiert nur die ARD, das ZDF befindet sich im Aufbau. Im gesamten Land sind zu der Zeit weniger als sechs Millionen Haushalte mit einem TV-Gerät ausgestattet. Dazu kommen noch einige Geräte in Gaststätten und Betrieben. Diese Monopolstellung macht es möglich, dass eine einzige Sendung einen Marktanteil von neunzig Prozent erreicht: der Sechsteiler Das Halstuch nach der Vorlage von Francis Durbridge. Vor Ausstrahlung der letzten Folge am 17.02.1962 platzt in Deutschland eine Pressebombe: Die Berliner Zeitung Der Abend veröffentlicht ein Interview mit dem Schauspieler und Kabarettisten Wolfgang Neuss, in dem dieser den Mörder verrät. Es ist im Film der Maler John Hopedean, dargestellt von Dieter Borsche. Unglaublich das Echo auf diese Aktion. Eine Nation in kollektiver Schnappatmung. Der Programmbeirat des Fernsehens spricht davon, dass das deutsche Kulturleben zum Erliegen gebracht worden ist. Die Bild-Zeitung beschimpft Wolfgang Neuss gar als Vaterlandsverräter. Dabei will dieser nur Zuschauer abwerben für die an diesem Abend stattfindende Premiere seines neuesten Kinofilms.
Am Tag nach der Fernseh-Ausstrahlung der letzten Folge von Das Halstuch treffen sich zwei Frauen vor einem Pediküre-Studio in Berlin-Charlottenburg. Es sind die Buchhändlerin Eleonore Herold und Elizabeth Neuss, Mutter des Kabarettisten. Die zwei sind seit einiger Zeit Kundin in dem Studio, in dem auch die Ehefrau des Schauspielers Dieter Borsche regelmäßig zur Pediküre kommt. Und dieser Verbindung soll der Verrat des Täternamens geschuldet sein.
Es ist kurz nach sechzehn Uhr. Die junge Opernsängerin Marlene Herold ist auf dem Weg zu einer letzten Probe in der Deutschen Oper Berlin. Vorher möchte sie noch ihre Mutter vor dem Ausgang des Pediküre-Studios treffen. Kurz bevor sie auf die dort wartenden Frauen trifft, fährt ein Fahrradfahrer mit wütendem Gebrüll direkt auf die daneben stehende Elizabeth Neuss zu und schwingt dabei drohend eine eiserne Kette. Später heißt es, er wollte Rache für den Verrat Wolfgang Neuss' nehmen. Geistesgegenwärtig springt Marlene ihn seitwärts an, sodass dieser samt Rad auf die Straße fällt. Die junge Frau gerät dabei ins Straucheln und stolpert unglücklicherweise in die Ladenfront eines Lederwarengeschäfts. Sie hat Glück, nicht direkt mit dem Kopf in die Glasscheibe zu fallen. Sie prallt aber auf den gemauerten Sims des Schaufensters. Nach dem ersten Augenschein hat Marlene Herold keine schweren Verletzungen davongetragen. Wie sich später herausstellt, hat sie aber einen Riss des Kehlkopfdeckels erlitten. Die Stimmbänder sind ebenfalls beschädigt. Damit ist ihre Karriere als Sängerin beendet. Sehr tragisch, denn Marlene ist schon in jungen Jahren durch das besondere metallische Timbre ihrer Stimmlage Dramatischer Sopran aufgefallen. Sie besitzt für eine Sängerin in diesem jungen Alter eine bemerkenswerte Durchschlagskraft in ihrer Stimme. Das sind beste Voraussetzungen für Darbietungen in Wagner-Opern. Zum Beispiel für die anspruchsvolle Hallen-Arie der Elizabeth in Wagners Oper Tannhäuser. Der Intendant der Deutschen Oper Berlin hatte sie als beste unter vielen in Frage kommenden Sängerinnen für die Premiere an diesem Tag ausgewählt.
Gut Sechzig Jahre später, es ist der 17.02.2025. Die Studentin Jasmin Herold verlässt kurz die Wohnung ihrer Tante Marlene in Berlin-Schöneberg, um Besorgungen zu erledigen. Sie betreut die alte Dame in dieser Zeit, da diese wegen einer Long-Covid-Symptomatik aufgrund einer früheren Corona-Infektion bettlägerig ist. Nichts Akutes, die Patientin ist negativ getestet, fühlt sich aber sehr schwach. Ihre Nichte hat ihr ein kleines Radio auf die Fensterbank neben das Bett gestellt. Zur Unterhaltung hat sie ihrer Tante einen Spartensender für klassische Musik ausgewählt. Als aus diesem die Arie der Elizabeth aus Wagners Tannhäuser erklingt, schreckt die alte Frau aus ihrem Dämmerschlaf verstört auf. Mit großer Mühe gelingt es ihr, den Sender zu wechseln. Danach sinkt sie schwer atmend wieder ins Bett zurück. Der Nachrichtensender, den sie dabei rein zufällig gewählt hat, bringt kurz darauf eine Retro-Sendung zum Jahrestag des Dramas um den Halstuch-Mörder. Das lange verdrängte Trauma dieses Schicksalsschlages jener Tage bricht in Marlene Herold wieder auf.
Und die alte Frau richtet sich mühsam wieder auf, um den am Gerät weiter hinten befindlichen Aus-Knopf zu drücken. Sie reißt dabei die gläserne Jugendstil-Lampe auf ihrem Nachttisch um. Diese zerbricht, und Marlene Herold fällt mit dem Hals in eine der spitzen Scherben. Wie sich später herausstellt, ist es die gleiche Stelle, an der sie sich, auf den Tag genau vor gut sechzig Jahren, die unglückselige Verletzung ihres Kehlkopfs zugezogen hatte, als sie auf dem Weg war zu ihrer ersten großen Rolle in Wagners Oper Tannhäuser.
Am Tag nach der Fernseh-Ausstrahlung der letzten Folge von Das Halstuch treffen sich zwei Frauen vor einem Pediküre-Studio in Berlin-Charlottenburg. Es sind die Buchhändlerin Eleonore Herold und Elizabeth Neuss, Mutter des Kabarettisten. Die zwei sind seit einiger Zeit Kundin in dem Studio, in dem auch die Ehefrau des Schauspielers Dieter Borsche regelmäßig zur Pediküre kommt. Und dieser Verbindung soll der Verrat des Täternamens geschuldet sein.
Es ist kurz nach sechzehn Uhr. Die junge Opernsängerin Marlene Herold ist auf dem Weg zu einer letzten Probe in der Deutschen Oper Berlin. Vorher möchte sie noch ihre Mutter vor dem Ausgang des Pediküre-Studios treffen. Kurz bevor sie auf die dort wartenden Frauen trifft, fährt ein Fahrradfahrer mit wütendem Gebrüll direkt auf die daneben stehende Elizabeth Neuss zu und schwingt dabei drohend eine eiserne Kette. Später heißt es, er wollte Rache für den Verrat Wolfgang Neuss' nehmen. Geistesgegenwärtig springt Marlene ihn seitwärts an, sodass dieser samt Rad auf die Straße fällt. Die junge Frau gerät dabei ins Straucheln und stolpert unglücklicherweise in die Ladenfront eines Lederwarengeschäfts. Sie hat Glück, nicht direkt mit dem Kopf in die Glasscheibe zu fallen. Sie prallt aber auf den gemauerten Sims des Schaufensters. Nach dem ersten Augenschein hat Marlene Herold keine schweren Verletzungen davongetragen. Wie sich später herausstellt, hat sie aber einen Riss des Kehlkopfdeckels erlitten. Die Stimmbänder sind ebenfalls beschädigt. Damit ist ihre Karriere als Sängerin beendet. Sehr tragisch, denn Marlene ist schon in jungen Jahren durch das besondere metallische Timbre ihrer Stimmlage Dramatischer Sopran aufgefallen. Sie besitzt für eine Sängerin in diesem jungen Alter eine bemerkenswerte Durchschlagskraft in ihrer Stimme. Das sind beste Voraussetzungen für Darbietungen in Wagner-Opern. Zum Beispiel für die anspruchsvolle Hallen-Arie der Elizabeth in Wagners Oper Tannhäuser. Der Intendant der Deutschen Oper Berlin hatte sie als beste unter vielen in Frage kommenden Sängerinnen für die Premiere an diesem Tag ausgewählt.
Gut Sechzig Jahre später, es ist der 17.02.2025. Die Studentin Jasmin Herold verlässt kurz die Wohnung ihrer Tante Marlene in Berlin-Schöneberg, um Besorgungen zu erledigen. Sie betreut die alte Dame in dieser Zeit, da diese wegen einer Long-Covid-Symptomatik aufgrund einer früheren Corona-Infektion bettlägerig ist. Nichts Akutes, die Patientin ist negativ getestet, fühlt sich aber sehr schwach. Ihre Nichte hat ihr ein kleines Radio auf die Fensterbank neben das Bett gestellt. Zur Unterhaltung hat sie ihrer Tante einen Spartensender für klassische Musik ausgewählt. Als aus diesem die Arie der Elizabeth aus Wagners Tannhäuser erklingt, schreckt die alte Frau aus ihrem Dämmerschlaf verstört auf. Mit großer Mühe gelingt es ihr, den Sender zu wechseln. Danach sinkt sie schwer atmend wieder ins Bett zurück. Der Nachrichtensender, den sie dabei rein zufällig gewählt hat, bringt kurz darauf eine Retro-Sendung zum Jahrestag des Dramas um den Halstuch-Mörder. Das lange verdrängte Trauma dieses Schicksalsschlages jener Tage bricht in Marlene Herold wieder auf.
Und die alte Frau richtet sich mühsam wieder auf, um den am Gerät weiter hinten befindlichen Aus-Knopf zu drücken. Sie reißt dabei die gläserne Jugendstil-Lampe auf ihrem Nachttisch um. Diese zerbricht, und Marlene Herold fällt mit dem Hals in eine der spitzen Scherben. Wie sich später herausstellt, ist es die gleiche Stelle, an der sie sich, auf den Tag genau vor gut sechzig Jahren, die unglückselige Verletzung ihres Kehlkopfs zugezogen hatte, als sie auf dem Weg war zu ihrer ersten großen Rolle in Wagners Oper Tannhäuser.