Tantalus am Gymnasium

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Wie kommen wir in der Schule zu unseren Banknachbarn? Was ist daran Zufall, was Notwendigkeit? Und wie stark prägen uns solche Nachbarschaften?

Ich wechselte erst mit dreizehn auf eine Oberschule, und zwar in die Eingangsklasse des Aufbaugymnasiums in X.. Schon falsch: Es war eine von sechs Parallelklassen, so stark war damals der Andrang. A. war der einzige aus meinem Heimatort Y., also setzten wir uns zusammen. Wir versuchten zweimal, nachmittags gemeinsam Hausaufgaben zu machen, und ließen es dann sein. Er war ein offener Charakter, ein anständiger, guter Kerl und fürs Gymnasium vollkommen ungeeignet. So resignierte er schon in den ersten Wochen, und ich ließ ihn links liegen. Ich freundete mich rasch mit B. an, einem Flüchtlingssohn aus dem Osten, gescheit, witzig und auch redlich. Nur mit ihm konnte ich damals Hochdeutsch reden, woran mir schon viel lag.

Mitten im Schuljahr kam ein Neuzugang, noch ein Norddeutscher. Dieser C. hatte seinem Vater von Bremen in den Südwesten folgen müssen und war hier schon an einer anderen Schule gescheitert. Infolgedessen betrug er sich wie ein Beatnik, enttäuscht und abweisend. Seine Art, neben den Dingen zu stehen, hielt ich für männliche Überlegenheit. Außerdem reizte mich sein knapper, kehliger Akzent. Ich setzte es schnell durch, dass wir Banknachbarn wurden, und spürte bald meinerseits Enttäuschung. Wir hatten uns nichts zu sagen, er war auf eine dumpfe Art in sich gekehrt.

Nach einem Jahr wurde unsere Klasse infolge der zahlreichen Abgänge - A. und C. gehörten auch dazu - aufgelöst und wir alle auf die fünf übrigen aufgeteilt. Als die Namen in der Aula verlesen und die anderen schon abmarschiert waren, blieb ich allein zurück: Die Sekretärin hatte vergessen, mich einer Klasse zuzuordnen. Nun durfte ich mir eine aussuchen und sprang rasch B. hinterher. Doch der hatte schon einen neuen Nachbarn. Für mich blieb nur der Platz neben D. übrig, der einzig noch freie. D. war ein Waisenknabe, die Eltern vermögende Kaufleute gewesen. Er wurde von seiner Tante erzogen und war für die Oberschule so wenig geeignet wie A. oder C.. Er war ein wohlhabender, unbegabter Waisenjunge und blieb unter uns isoliert. Seine Interessen - Fernsehen und Beatmusik - waren nicht meine. Später war er der Erste, der mit dem Moped zur Schule kam. Dabei wohnte er ganz in der Nähe. Manchmal sah ich ihn während des Unterrichts von der Seite an und verspürte dabei ein mir noch unbekanntes Gefühl. D. wirkte verloren, schutzbedürftig, außerdem war er hübscher als die meisten anderen. Er blieb nach einem Jahr sitzen und kam mir aus den Augen.

Ich glaube, ich saß dann zwei Jahre neben B.. Unser Verhältnis blieb gleichbleibend gut und produktiv. Wir dominierten zusammen in den meisten Fächern. Wir besuchten uns gegenseitig zu Hause. Wir redeten und lachten gern miteinander. Und doch vermisste ich etwas an ihm, etwas noch Undefiniertes, das ich im Verhältnis zu C. und D. schon gespürt hatte. Ich begann mich für E. zu interessieren, Sohn eines kleinen Beamten. E. war ordentlich, fleißig, adrett, in dieser Reihenfolge. Ich stellte mir jetzt die Frage: Bin ich homosexuell? E. wandte der eigenen Person, dem eigenen Körper mehr Aufmerksamkeit zu als sonst unter uns üblich. Dabei war er sportlich und keineswegs verzärtelt. Doch wollte er als Einziger nicht auf bloßem Holzstuhl sitzen und brachte ein Kissen für sich von zu Hause mit.

Das vorletzte Schuljahr kam. Wir bezogen einen neuen Raum. Ich wollte endlich neben E. sitzen. Es gab einen Konkurrenten, denkbar verschieden von mir. F., Sohn eines CDU-Stadtrats, war intelligent, schweigsam, fußballbegeistert und hatte einen schönen Römerkopf. E. lachte etwas boshaft, als er die Situation erfasste: "Ihr müsst euch schlagen." Es gelang mir, F. auf andere Weise auszutricksen.

Es schmeichelte E., neben mir zu sitzen. Er erkannte an, worin ich ihm überlegen war, und versuchte davon zu profitieren. Deutschaufsätze misslangen ihm regelmäßig. Als einmal die Themen gestellt waren, schob ich ihm bald einen Zettel mit rasch entworfenem Konzept und Details für die Ausarbeitung hinüber. Er bekam trotzdem wieder ein Mangelhaft. Ohne vom Betrug zu wissen, rügte der Lehrer das hilflose Herumrudern in den Ideen.

Auch E. besuchte mich einige Male daheim. Zufällig ergab es sich einmal, dass wir im gleichen Bett schlafen mussten. Ich blieb kühl bis ans Herz hinan und begriff nicht, was mich vereist hatte - sein wirkliches Wesen. Ich hielt mich dann einige Wochen lang für normal. Später übernachteten wir eine ganze Woche lang in einem kleinen Zelt. Ich sah jetzt wieder klarer und kam auf die närrische Idee, mich platonischer Liebe zu weihen.

Dann der Mai '68. Wir standen vor dem Abitur und hatten die Nachrichten aus Paris, Berlin und Heidelberg im Kopf. Auch ich wurde mutiger. Ich wollte jetzt zweierlei erreichen: E. womöglich doch noch verführen und ihn von seiner geplanten Berufswahl - Bundeswehroffizier - abbringen. Lächelnd ließ er sich meine kleinen Vertraulichkeiten gefallen, verlegen hörte er sich die immer gleiche pazifistische Suada an. Am 1. Juli rückte er ein.

Während der Tschechoslowakeikrise fuhr ich für eine Woche dahin, wo er in Garnison lag. Den Tag nach meiner Ankunft verbrachten wir damit, in der Stadt und der Umgebung herumzugehen. Wir führten dieselben Gespräche wie bisher. Alles schien unverändert. Tatsächlich habe ich ihn danach nie wiedergesehen. Am Tag darauf, einem Sonntag, wartete ich vergeblich auf ihn. Es war viel Unruhe in der Stadt und im Land. Es wurden Einheiten verlegt, es gab hier und da Ausgangssperren. Doch in Z. bummelten die Soldaten durch das Zentrum. Nur E. ließ sich nicht blicken. Wir haben im Winter darauf noch zwei Briefe gewechselt, ohne die Tage im August zu berühren. Es war vorbei.

Ich sehe uns noch heute auseinandergehen. Ich hatte ihn bei Sonnenuntergang zum Kasernentor gebracht. Dann gingen wir kurze Zeit parallel in die gleiche Richtung, nur er innerhalb der hohen Umzäunung - und ich für immer draußen.
 

Anders Tell

Mitglied
Hallo Arno,
ich habe einen Faible für Coming of age Geschichten. Man erfährt darin wie prägend Erlebnisse in Kindheit und Jugend für den späteren Lebensweg sind und welchen Einfluss andere Faktoren als nur die Eltern hatten. Während meiner neunjährigen Schulzeit an einem Knabengymnasium hatte ich viele wechselnde Freundschaften und manche sind mir bis heute erhalten geblieben.
Warum man sich so jung entschließt, jemandem zum Freund zu wählen, könnte ich nicht ergründen. Stephen King beschreibt in seiner autobiographischen Novelle »Die Leiche« (verfilmt als Stand by me mit dem unvergessenen River Phoenix) die Freundschaft zu den Jungen in seiner Clique. In einem Nachwort schreibt er, dass er nie mehr solche Freunde hatte wie als Zwölfjähriger und dass es dem Leser sicher genau so ginge. Was die Tiefe und Ernsthaftigkeit angeht, kann ich es bestätigen. Für mich war es auch ein Alter, in dem meine Freunde mir wichtiger waren als alles andere.
Deine Geschichte habe ich gerne gelesen
Anders
 
Danke, Anders, für die freundliche Aufnahme des Textes. Ich schätze mal, du hattest insgesamt bessere Erfahrungen und vielleicht auch Voraussetzungen.

Was mich im Rückblick besonders frappiert, ist der extrem unterschiedliche Verlauf des weiteren Lebens dieser Personen (soweit mir bekannt). In jener sehr fernen Vergangenheit scheint es Kreuzungen gegeben zu haben, an denen in ganz verschiedene Richtungen abgebogen werden konnte oder musste und die sie Befahrenden haben die volle Tragweite damals kaum ermessen. Diese Vorstellung bedrückt mich manchmal etwas.

Schöne Abendgrüße
Arno
 

Anders Tell

Mitglied
Ja, Arno, ich bin auf meinem Lebensweg auch oft falsch abgebogen und habe erst in der Rückschau auf diese oft leidvollen Erfahrungen sehen können, wozu sie gut waren. Am Scheitern habe ich viel gelernt. Es machte mich zu dem, der ich heute bin. Manchmal haben mich auch die Umstände gezwungen, eine anderen Richtung einschlagen zu müssen. Von heute aus spekuliere ich manchmal, was geworden wäre, wenn ich Pfeilgerade meine Pläne hätte verfolgen können. Oft komme ich zu dem Schluss, dass es mir damit womöglich schlechter gegangen wäre.
Nein, meine Voraussetzungen waren nicht die besten. Ich war der einzige Schüler an dieser höheren Anstalt, dessen Mutter nach Scheidung von meinem Vater phasenweise von Sozialhilfe leben musste. Manche Lehrer haben mich dafür diskriminiert. Nur meine Freunde haben zu mir gestanden und mich diese Zeit aushalten lassen. Das alles hat meine Resilienz gestärkt.
Daher kann ich geliebten Menschen zusehen, wie sie vielleicht falsche Entscheidungen treffen, von denen sie sich nicht abbringen lassen.
Mit liebem Gruß
Anders
 
Nein, meine Voraussetzungen waren nicht die besten. Ich war der einzige Schüler an dieser höheren Anstalt, dessen Mutter nach Scheidung von meinem Vater phasenweise von Sozialhilfe leben musste. Manche Lehrer haben mich dafür diskriminiert. Nur meine Freunde haben zu mir gestanden und mich diese Zeit aushalten lassen. Das alles hat meine Resilienz gestärkt.
Leicht hast du es also auch nicht gehabt, das erkenne ich jetzt gern an, Anders. Entscheidend ist vielleicht, ob und wo man Anknüpfungspunkte findet, wenn es um existenzielle Fragen, Krisen usw. geht.

Schöne Abendgrüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

ich kann mich an keinen einzigen meiner Banknachbarn in meiner Kindheit erinnern, ich habe es immer so empfunden: Ich und die anderen.
Das mag daran liegen, dass ich als Kind Hautprobleme hatte und immer rauhe Hände; das hing mit den Umständen bei meiner Geburt zusammen. Und wegen der rauen Hände mochte mich kein Kind bei der Hand nehmen - wie es damals üblich war, um in Zweierreihen vom Schulhof ins Klassenzimmer zu gehen.
Ich habe aus kindlichen Freundschaften auch nie Trost empfangen. Hört sich jetzt traurig an, aber so war das.
Mit dieser Ausgrenzungserfahrung war ich wohl sehr zurückhaltend und habe viel beobachtet und an Zwischentönen wahrgenommen, aber immer nur in der konkreten Situation. Ich wüsste von niemandem seinen Lebensweg, und ob es da falsche Abbiegungen gegeben hat.
Der Klassiker in der Generation - wenn auch später - war ja wohl die ungewollte Schwangerschaft, die dann den weiteren Lebensweg bestimmt hat. Da wurde geheiratet und alle Träume flogen zum Fenster raus - wenn es sie denn gab.
Im übrigen habe ich bei keinem meiner Umwege das Gefühl, ich hätte etwas anders machen können oder sollen. No regrets. Wie Anders schon sagte, man wäre ein anderer Mensch.

Sehr schön einfühlsam erzählt.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, liebe Petra, für die vielen Details. Gleich das erste hätte mir fast die Sprache verschlagen, so ungewöhnlich kam es mir zunächst vor. Dann aber stellte ich überrascht fest, aus der Volksschule (Kl. 1 - 7) habe ich auch keine Erinnerungen an Banknachbarn mehr. Erst danach weiß ich noch gut Bescheid. Auch ohne raue Hände scheint es im kindlichen Abschnitt ähnlich wie bei dir gewesen zu sein. Dagegen fand in der Oberschulzeit laufend enger Austausch mit einigen anderen statt. Eine ungewollte Schwangerschaft kam auch vor, in der Abiturklasse. Kind wurde erst nach der Prüfung geboren.

Liebe Grüße
Arno
 
Hallo Arno, ich finde Du urteilst etwas zu rigide über die in Deinen Augen fürs Gymnasium nicht ausreichenden geistigen Fähigkeiten Deiner Mitschüler. Manche sind Spätzünder. Was war mit Thomas Mann? Er, genauso wie Hesse, kein Abi. Gibt auch Hochbegabte, die in der Schule scheitern.
Finde ich aber interessant, dass im Westen, heute ist es ja wieder so, die Kids schon ab der vierten Klasse aufs Gym gingen. Bei uns im Osten war das nach der Achten und nannte sich Erweiterte Oberschule, kurz EOS. Ging bis zur Zwölften. Dahin kamen aber nur die Allerbesten. In Städten, wie Berlin, wo es eine Uni gab und viele Intellektuelle, die höhere Bildung für ihre Kids wollten, war das sehr schwer.
Ich find das besser, wie das jetzt im Westen ist, dass mehr die Möglichkeit haben Abi zu machen und zu studieren. Auch das Abi nachzumachen, ist einfacher geworden. Wie gesagt, ich kenne das heutige Bildungssystem überhaupt nicht, da ich schon erwachsen war, als die Mauer fiel.
Auch Jungs- und Mädchengym bzw. EOS gab es im Osten nicht. Dachte ich jedenfalls. Bis ich mal einen Dokumentarfilm über Berliner Punks zu Ostzeiten im Fernsehen sah. Die Regisseurin, Pfarrerstochter, war in den Achtzigern mit ihre Schwester als Punkmädel unterwegs. Sie erzählte vor der Kamera, dass sie doch tatsächlich ein katholisches Mädchengym im Prenzlauer Berg besuchten.
Ich dachte, sie verarscht uns. So was gab es doch im Osten nicht. Machte im schlau im Netz. Und sie hatte tatsächlich Recht. Die Alliierten hatten verfügt, dass ein kirchliches Mädchengym, das es schon zu Kaisers Zeiten gab, im geteilten Berlin auf der Ostseite erhalten bleiben muss. Da konnte die Partei nicht ran.
Sehr eigenartig. Übrigens, zu ihren Punkzeiten haben sich die beiden Pastorentöchter nicht getraut, ihren Punkfreunden davon zu erzählen. Damit sie nicht ausgegrenzt werden. Sie behaupteten stattdessen Lehrlinge zu sein, was oft gar nicht mal so einfach war, da sie sich in Widersprüche verwickelten.
Die Wünsche, die einem jetzt alle inflationär wünschen, wünsche ich Dir auch.
Frohes Fest von Friedrichshainerin
 
Danke, für deine Anmerkungen, Friedrichshainerin. Was die beiden Schulabbrecher A und C angeht. so habe ich mich oben nur zu A so geäußert, wie du es kritisierst, und seine Nichteignung fürs Gymnasium - nur dafür! - lag offen zutage. Bei C beschränkt sich der Text auf die Mitteilung, dass er hintereinander an zwei Schulen scheiterte (Fakten) und beschreibt im Übrigen vor allem die persönliche Ausstrahlung (subjektive Erinnerung des Erzählers). So viel zur Verteidigung des Textes.

Die von uns besuchte Oberschule war, wie erwähnt, ein Aufbaugymnasium. Dort wurde man, ähnlich wie seinerzeit in der DDR, nach der 7. oder 8. Klasse aufgenommen. Zu meiner Zeit wurde es förmlich überrannt von Spätentwicklern oder von Kindern, deren Eltern sich die Mühen und Kosten von drei Oberschulklassen sparen wollten (so war es in meinem Fall, leider). Es war unvermeidlich, dass unter der sehr großen Zahl der Angemeldeten (sechs Eingangsklassen!) nicht wenige waren, die bald abbrechen wollten oder mussten. Ich denke, beide Formen - Kurzgymnasium wie die Langform - haben Vor- und Nachteile. Das sollten wir aber hier im Textarbeitsforum nicht ausführlich erörtern.

Auch dir ein Frohes Fest
Arno
 



 
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