tante

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Mitglied
beim blick durch den briefschlitz
damals als ich von der schule kam
hab ich deine zerbrechlichkeit entdeckt
danach war auch ich
ein stückchen zerbrochener
ein stückchen weniger kind
du so reglos am boden
mein sturmläuten nicht laut genug
kindliche erweckungsmagie nicht wirksam

erst jahre später fielen puzzleteile
aus der erinnerung ins bild
der scharfe geruch in der wohnung
die schleppende sprache
die blicke des rettenden nachbarn
erwachsenengetuschel
und hastig aufgebrühter kaffee
du schliefst am sofa bis zum morgen
sagtest du wolltest nur rasch
etwas aus deiner wohnung holen
für die bescherung abends
und mama ginge es schon besser

als es schon längst dunkel war
kein zeichen von dir
das telefon unbeantwortet
wir haben allein beschert
eine neun- und eine dreizehnjährige
unterm geschmückten baum
die kerzen wagten wir nicht zu entzünden
ohne erwachsenen
zum abendbrot kekse und
vorsorglich unausgesprochenes

es war deine vernichtung
die familie hat nicht vergessen
nicht verziehen
nicht geholfen
nicht verstanden

ich musste damals nicht verstehen
uns hat es zusammengeschweißt
in unserer zerbrechlichkeit
ich war nur froh
so unendlich froh
dass du nur leblos ausgesehen hattest
damals
als ich von der schule kam







for M. - dearly missed


.okt_2022
 
Zuletzt bearbeitet:
Oh, das ist sehr traurig und sehr gut geschrieben. Und während man liest, entstehen Bilder im Kopf, die alles beinhalten, was du nicht aufgeschrieben hast.
 

Aufschreiber

Mitglied
Hallo Fee,

das kann ich gut nachvollziehen, bei mir anhand der Großmutter ...
Wenn ich ehrlich bin, ist es mir dennoch zu "wortreich". Ich behaupte, man könnte die Eindringlichkeit durch Verdichtung noch steigern.

Beste Grüße,
Steffen
 

Mimi

Mitglied
Hallo fee,
das sind sehr persönliche Eindrücke aus Sicht eines jungen Menschen, die Du mit Deinen Lesern teilst ...

Auch ich stelle mir die Frage, ob (mehr) Verdichtung, den Text "aufgewertet" oder zumindest im lyrischen Kontext interessanter für den Leser gemacht hätte ... Das ist gar nicht so einfach zu beantworten ...

Gruß
Mimi
 

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Mitglied
Liebe Mimi, lieber Steffen,

herzlichen Dank für die genaue Befassung mit diesem Versuch einer verdichteten Erfassung einer einschneidenden Erfahrung, deren volle Dimension sich ja eigentlich erst Jahrzehnte später erfassen lässt.

Ihr habt definitiv recht, dass für einen lyrischen Text mehr Verdichtung sinnvoll gewesen wäre. Ich tat mir beim Einstellen ins Forum auch einigermaßen schwer beim Zuordnen in das richtige Unterforum. Der Text ist ja eine Art lyrische Prosa - ich wollte aber auf die Umbrüche nicht verzichten. Daher ist er im Ungereimtheiten gelandet. Aber eigentlich ein Texthybrid.

Beste Grüße,
fee
 
G

Gelöschtes Mitglied 24428

Gast
Gut gemeint, aber durch die Länge arg prosaisch. Ich würde das Lamento im mittleren Abschnitt kürzen und straffen.
 

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Mitglied
Gut gemeint, aber durch die Länge arg prosaisch. Ich würde das Lamento im mittleren Abschnitt kürzen und straffen.
ich weiß, Daisy.

Aber in diesem Fall ist für mich jedes Wort wichtig. Man kann jetzt natürlich fragen, warum ich den Text dann ins Forum gestellt habe....durchs Einstellen im Forum erhalten Texte für mich selbst so eine letzte "Gültigkeit". Ich musste etwas "ausdrücken", das in mir gearbeitet hat, und da steckt das Wort "aus" im Sinne von "aus mir heraus und ins Freie" nicht zufällig drin.
Hier ist es ein jetzt ein sehr privater Text und da wage ich es, etwaigen LeserInnen eine Prise "Lamento" zuzumuten. Klar, dass es aufgrund des wenig schönen Inhalts so ankommen kann. Es war ja auch nicht schön. Gut gemeint übrigens auch nicht.

Ich kann deinen Standpunkt schon nachvollziehen. Nur hier werde ich - das wird sicher jeder verstehen - nichts ändern und die Anmerkungen sozusagen still zur Kenntnis nehmen. Für andere Texte ist es ja dann auch erstrebenswert und legitim.

LG,
fee
 
Beeindruckend geschrieben liebe Fee. Passgenau auf den Millimeter, kein Wort zu viel, keins zu wenig und genug, um die Szenerie aus der Sicht eines Kindes sacken zu lassen.
Beislgrüße
 



 
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