Tante Ännes großer Traum

VeraL

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„Das ist eine total verrückte Idee. Du wirst immer schrulliger. Du bist 79 Jahre alt und warst noch nie im Urlaub. Und jetzt willst du da noch nach England? Du machst dich doch lächerlich.“ Tante Mia hatte sich in Rage geredet.

Tante Änne versuchte etwas einzuwerfen, doch Tante Mia sprach unbeirrt weiter. „Überhaupt, was da alles passieren kann. Du bist den Wind und die Luft nicht gewöhnt. Wahrscheinlich holst du dir eine Lungenentzündung. Oder eine Lebensmittelvergiftung von den Fischbrötchen, so wie Heinz Brömmelkamp letztes Jahr. Wenn du dich nicht schon unterwegs verfährst. Oder einen Unfall hast, weil du nicht links fahren kannst.“ Tante Mia war eine notorische Schwarzseherin und nicht zu stoppen.

Tante Mia schüchterte ihre Schwester ein und hatte dieser oft den Mut genommen, aber diesmal ließ die mit stoischer Miene alle Ausführungen über schlechtes Wetter, die nicht vorhandene Qualität des englischen Essens und Bettwanzen in Hotels über sich ergehen. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich eine große Reise gewünscht. Die Verwirklichung ihre Träume war allerdings immer an fehlendem Geld und der vielen Arbeit auf dem Hof gescheitert. Doch jetzt hatte sie mit ihrem Jahreslos einen kleinen Betrag gewonnen und als Rosamunde-Pilcher-Fan wollte sie nach Cornwall.

Gestern hatte sie ihren Mut zusammengenommen und war ins Reisebüro Schulte marschiert. Dort hatte sie ein Hotel im beschaulichen Ottery St. Mary gebucht und eine Überfahrt mit der Fähre. Danach konnte sie die ganze Nacht nicht schlafen, weil sie sich eine Begegnung mit Prinz Charles ausmalte.
„Am Samstag geht es los. Du kannst mitkommen oder nicht, das ist mir gleich. Ich fahre auf jeden Fall.“ Änne versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen, doch sie spürte, wie sich ein leiser Zweifel in ihr Herz schlich.

Auch in dieser Nacht lag Änne wach. Diesmal war allerdings nicht Prinz Charles der Grund, sondern Mia. Vielleicht hatte sie doch recht. Bestimmt machte sie sich lächerlich, wenn sie mit 79 Jahren anfangen wollte zu reisen. Und in ihrem Alter war so eine lange Fahrt sehr mühsam. Mia mochte zwar eine Schwarzseherin sein, aber sie kannte sie auch so gut wie sonst niemand. Sie waren zusammen aufgewachsen und seit dem Tod ihrer Männer lebten sie wieder gemeinsam in ihrem Elternhaus. Im ganzen Dorf waren sie seitdem nur als die Tanten bekannt ‒ sie waren mit den meisten um einige Ecken verwandt ‒ und sprachen sich schon manchmal selbst so an.

Am nächsten Morgen sagte sie nichts zu Mia, stellte die Reiseführer, die sie schon vor Jahren gekauft hatte, wieder ins Regal und stopfte die Prospekte aus dem Reisebüro ganz hinten in ihren Schreibtisch. Die Illustrierten mit den Geschichten über Prinz Charles schenkte sie ihrer Nachbarin. Sie war zu alt für Träume. Natürlich musste Tante Mia trotzdem ihren Senf dazu abgeben: „Endlich bist du zur Vernunft gekommen. Eine Reise in deinem Alter, also wirklich. So wie dich kenne hast du bestimmt keine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen. Schade um das schöne Geld.“ Zerknirscht musste sich Tante Änne eingestehen, dass das stimmte. Tante Mia hatte natürlich recht, wie immer.

Keine der beiden Schwestern erwähnte in den nächsten Tagen die Reise. Tante Mia schimpfte über das Wetter, die Preise im Supermarkt und die Nachbarn und Tante Änne sagte noch weniger als sonst. Sie hatte keine Lust auf ihre Kreuzworträtsel, ihre Lieblingssendung „Bares für Rares“ schaltete sie gar nicht erst ein und selbst ihr geliebtes Rosinenbrot mit Leberwurst wollte ihr nicht mehr recht schmecken.

Am Freitagnachmittag saß Tante Änne am Fenster und starrte in den Nieselregen. Sie bemerkte nicht, dass Tante Mia sie nachdenklich beobachtete.
„Gleich wird `Das Geheimnis der Blumeninsel` wiederholt. Das ist doch einer deiner liebsten Pilcher-Schmachtfetzen. Willst du dir den gar nicht ansehen?“, fragte Tante Mia.
Änne hatte keine Lust. Sie schwieg und auch Tante Mia sagte nichts mehr.

Zwei Stunden später saß Tante Änne immer noch in ihrem Sessel, als Tante Mia hereinrauschte und etwas vor ihr auf den Tisch knallte. Es waren die Reiseprospekte und die neue Gala mit Prinz Charles auf der Titelseite. „Los, geh Koffer packen. Dieses Elend kann keiner mit ansehen. Du fällst mir noch vom Fleisch. Morgen fahren wir nach England.“
Tante Änne war völlig verdaddert: „Aber du … ich, du hast doch gesagt, ich bin zu alt. Und was uns da alles passieren könnte.“
„Ja, ich bin immer noch der Meinung, dass das der helle Wahnsinn ist. Aber du hast keinen Mumm mehr, seit du beschlossen hast, nicht zu fahren. Und ich muss ja schließlich auf dich aufpassen.“
Jetzt hatte Tante Änne wieder neue Energie. Sie fühlte sich wie 59 und zerrte ihren Koffer aus dem Wandschrank. Dann fing sie an zu packen.
„Du rennst rum wie ein aufgescheuchtes Huhn“, bemerkte Tante Mia trocken, während sie fast alles, was sie an Kleidung besaß in einen Koffer stopfte, um für alle Wetterlagen und sozialen Ereignisse gewappnet zu sein.

Voller Vorfreude ging Änne ins Bett. Doch mitten in der Nacht wurde sie wach. Sie hatte Halsschmerzen, ihr Kopf pochte, ihre Stirn glühte und sie hatte Schüttelfrost. Oh nein, so würde es mit ihrer Reise wohl nichts werden. Mühsam schleppte sie sich aus dem Bett, klopfte an Mias Tür und schilderte der ihr Leid.
„Ach stell dich doch nicht so an. Du bist nur nervös. Vor deiner Hauswirtschaftsprüfung und deiner Hochzeit ging es dir genauso. Nimm eine Ibuprofen und lass mich schlafen“, antwortete Tante Mia mitleidslos.
Änne legte sich wieder ins Bett und schlief irgendwann wieder ein. Und tatsächlich: Am nächsten Morgen fühlte sie sich blendend. Es störte sie nichtmal, dass Tante Mia wie am Fließband Schwarzbrote schmierte und sich dabei über die Ungenießbarkeit des englischen Essens ausließ.

Dann ging es tatsächlich los. Sie quetschten sich in Ännes alten roten Opel Corsa und ließen sich jetzt weder von Bauer Tegtmeiers Schafen, die auf der Straße standen, noch von der gelb leuchtenden Kontrollleuchte aufhalten. Obwohl Mia mit einer Straßenkarte aus den frühen 90er-Jahren navigierte und Änne vor Nervosität ständig auf die Toilette musste, schafften sie es rechtzeitig nach Calais.

Auf der Fähre ging Tante Mia direkt nach unten, um im Bistro einen Imbiss zu sich zu nehmen und eine Familie aus Holland über die Gefahren des Ärmelkanals aufzuklären. Doch Tante Änne blieb lieber an Deck. Sie lauschte auf die schrillen Schreie der Möwen und ließ sich die frische Meeresluft um die Nase wehen. Hier oben waren nur wenige Passagiere. Änne schenkte ihnen kaum Aufmerksamkeit, doch dann fiel ihr ein elegant gekleideter Heer auf, der ebenfalls nach den Kreidefelsen Ausschau hielt. Das konnte doch nicht sein. Doch, diese Ohren würde sie überall wieder erkennen. Nur etwas fünf Meter von ihr entfernt stand tatsächlich Prinz Charles.
 
Zuletzt bearbeitet:

molly

Mitglied
Hallo VeraL

ich habe die Geschichte nur nach Füllwörtern "untersucht. Das Ende der Geschichte war für mich keine Überraschung.

Deine Lieblingsfüllwörter: Aber, einfach, irgendwie

Oder eine Lebensmittelvergiftung von den Fischbrötchen Komma so wie Heinz Brömmelkamp letztes Jahr.

...eine notorische Schwarzseherin und einfach nicht zu stoppen.

Tante Mia schüchterte ihre Schwester oft ein und hatte dieser schon oft den Mut genommen,

. Aber ich fahre auf jeden Fall.“ Änne versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen, aber sie spürte, wie sich ein leiser Zweifel in ihr Herz schlich.
und mehr...

Viele Grüße
molly
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Hallo @VeraL : Ich habe es Tante Änne gegönnt. Den Prinz Charles, meine ich. Anrührend, diese beiden Schwestern, habe gerne mitgelesen.
Herzliche Grüße nach Kevelaer, dort habe ich so manchen Sonntag verbracht.
Isbahan
 

VeraL

Mitglied
@molly: Vielen Dank, dass du meine Geschichte so genau gelesen hast. Ja, Füllwörter sind meine Schwäche. Ich schau mir den Text nochmal genau an.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo VeraL,

deine Geschichte ist zur Unterhaltung bestens geeignet. :)

Ich glaube zwar nicht, dass Prinz Charles mit einer schnöden Fähre übersetzt, aber das Ende ist trotzdem irgendwie niedlich: An den Ohren sollt ihr ihn erkennen!

Amused grüßt

DS
 



 
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