Friedrichshainerin
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„Von allen Einwohnern Thalias vermisste Billy das Kino am meisten. […] Jeden Abend nahm er seinen Besen und ging zum Kino hinüber, in der Hoffnung, es habe offen.“ aus „Die letzte Vorstellung“ von Larry McMurtry
Es begab sich also vor langer, langer Zeit – Quatsch, es war erst in den Achtzigern - , dass Jemand am 24. Dezember morgens frohgemut am Alex aus der U-Bahn stieg. Dieser Jemand war ich. Ich kam jedoch nicht von einer Weihnachtsfeier, die bis 5 Uhr früh gegangen war, sondern von einer Nachtschicht im Backwarenkombinat Marzahn, Abteilung Zwieback.
Meine gute Laune rührte daher, dass ich neun freie Tage vor mir hatte und außerdem im Arbeiterwohnheim in der Wilhelm-Pieck-Straße eine sturmfreie Bude. Sogar die Hausmeisterin war im Weihnachtsurlaub.
Zuerst wollte ich in die Kaufhalle unten im Centrum-Warenhaus - heute Galeria Kaufhof - , die schon morgens um 7 Uhr öffnete. Dort war es verdächtig ruhig. Der Schreck fuhr mir in die Glieder, als mir klar wurde, dass sie zu war, denn ich hatte noch nichts zu Essen für die Feiertage besorgt.
Ein Mann beobachtete mich dabei, wie ich entgeistert vor der geschlossenen Halle stand. Ich frage ihn, warum nicht geöffnet ist. „Da hast du Pech Mädchen, wenn du noch nicht eingekauft hast. In den nächsten drei Tagen ist in der ganzen Stadt alles dicht.“
In Ostberlin, das damals noch den Beinamen „Hauptstadt der DDR“ trug, hatte also alles geschlossen, auch die Imbisse und Restaurants, und es gab noch keine Türken, die kein Weihnachten feiern und deshalb immer aufhaben.
Der Currywurststand in der Wilhelm-Pieck-Straße, heute Torstraße, war verriegelt und verrammelt, und an ihm flatterte ein einsames Zettelchen in der Winterluft, auf dem man der Kundschaft ein Frohes Fest wünschte. Das machte mich auch nicht satt. Die Currywurst schmeckte dort zwar belastend, und der Ketchup war dünn wie Suppe, aber was hätte ich jetzt dafür gegeben.
Das einzige Essbare, was ich noch hatte, war ein taufrisches, duftendes Bauernbrot, das ich in der Bäckerei vom Band genommen hatte, auf dem es gerade aus dem Ofen gerollt kam. Dass, was ich gerade vor dem geschlossen Lebensmittelmarkt von dem Mann erfahren hatte, verlieh dem Weihnachtsgeschenk von einem Arbeitskollegen eine ganz andere Bedeutung.
Ein paar Tage zuvor hatte er mir feierlich eine Schachtel Eierlikörpralinen überreicht, bevor er in den Weihnachtsurlaub ging. Er war ein Lichtblick unter den anderen, die mich alle nicht leiden konnten - auf gut Deutsch, ich wurde gründlich gehasst - und hatte wohl ein Auge auf mich geworfen.
Weil ich diese Pralinen nicht mochte, lagen sie glücklicherweise noch immer bei mir im Schrank im Arbeiterwohnheim. Ich überlegte mir, dass sie zwar nicht schmeckten, aber dermaßen übersüßt waren, dass ich kalorienmäßig an Weihnachten über die Runden kommen müsste. Außerdem war noch schwarzer Tee da, aber kein Zucker und dann noch aufgetaute Sauerkirschen, die ich glücklich, denn so was war in der DDR Mangelware, einen Tag zuvor erworben hatte.
Nach Hause zu fahren, wäre keine Option für mich gewesen, ich wollte endlich mal mein erstes Weihnachten in Berlin feiern. Außerdem freute ich mich, dass ich der unvermeidlichen falschen Sentimentalität glücklich entronnen war.
Lieber mit knurrendem Magen allein in Berlin als zu Hause mit „Die Thomaner singen Weihnachtslieder“, wobei immer die unvermeidliche bestickte Decke auf dem Wohnzimmertisch lag, die ich hasste genauso wie die Thomaner,
- man hört ja viel von sexuellen Übergriffen in solchen Chören, und nach außen hin zelebrieren sie die heile Welt, dem hab ich sowieso noch nie getraut und das immer für faulen Zauber gehalten - , und ich ständig von meiner Mutter genötigt wurde, Pfeffernüsse zu essen, die ich genauso wenig mochte.
Diese Dauerkuchen, weiß und braun, wurden immer in einem geschlossenen Kochtopf im Küchenschrank aufbewahrt und reichten mindestens bis Mai.
Das Verhältnis mit ihr war desolat. Die Alleinerziehung wird immer so in die Höhe gehoben, obwohl natürlich jeder weiß, dass gerade dort verstärkt Konflikte auftreten, einfach weil ein Dritter, als Puffer, fehlt.
Ich habe mal einen Film über Beate Zschäpe gesehen. Genau wie ich kennt auch sie ihren Erzeuger nicht. Die Szene in der Küche, wo sie und ihre Mutter sich beschimpften und schubsten, kam mir sehr bekannt vor. Man weiß ja, was aus Beate geworden ist.
Nach außen, vor den Leuten im Dorf, taten meine Mutter und ich immer, als wenn alles in Ordnung wäre. Genau wie ich hatte auch Brian Jones ein Problem mit seinem Heimatort gehabt. Keiner durfte es wagen, in seiner Gegenwart Davenport zu erwähnen, denn dann war er bei ihm unten durch.
Meine Mutter war vielleicht gar nicht mal so böse darüber, mich vom Hals zu haben, so wie wir uns ständig stritten und anschrien. Das Problem waren die Nachbarn. Was sollte sie denen sagen? Bei uns kannten sich die Leute. Es war ja nur ein kleines Dorf. Und außerdem war sie auch noch Lehrerin.
Da durfte nicht durchsickern, dass die eigene Tochter abhanden gekommen war. Bestimmt munkelte man schon einiges. Der Schein musste aufrecht erhalten werden.
Sie saß bestimmt an Weihnachten vor ihrer Stolle und kam sich mal wieder mal vom Leben betrogen vor. Es kam ihr immer am allermeisten darauf an, was die Leute dachten.
Ich spürte instinktiv, dass meine Mutter nicht die allein Schuldige an unserer Familienmisere war. Es waren die gesellschaftlichen Verhältnisse, die bei uns herrschten, nicht die politischen, sondern die Beziehungen zwischen den Menschen. Ich nahm mir vor, alles anders zu machen, was natürlich eine Illusion war, da auch ich den selben gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt und unterworfen war wie meine Mutter. Natürlich konnte ich mit meinem jugendlichen Idealismus und aus meiner schwachen Position heraus nichts ändern an der Gesellschaft so wie sie war.
Im Arbeiterwohnheim angekommen, ließ ich mir erstmal ein heißes Bad mit viel Badusan ein. Ich brauchte ja nicht zu befürchten, dass es ärgerlich an der Badezimmertür klopfte. Ich hatte mir aber für den Abend dieses Vierundzwanzigsten Dezember auch schon ein besonderes Highlight überlegt.
Im Kino Babylon - Übrigens: Ins Kino bin ich früher immer gegangen, wenn ich „kein“ Geld hatte. Eine Vorstellung kostete immer so 1,20 bis 1,50 DDR-Mark - nicht weit entfernt von meinem Arbeiterwohnheim, es war bloß über die Straße, wurde abends „Akrobat schö-ö-ön“ gegeben, ein alter Film aus den Vierzigern.
Seit ich mit dreizehn mal einen Ausschnitt aus diesem Film im Fernsehen bei Willi Schwabes Rumpelkammer gesehen hatte, träumte ich davon, einmal den ganzen Film in voller Länge zu sehen.
Und ausgerechnet am 24. Dezember um 20 Uhr wurde er im Kino Babylon am Rosenthaler Platz gezeigt. Für mich war das ein erfüllter Weihnachtswunsch.
So saß ich an diesem Vierundzwanzigsten Gott sei Dank nicht unter dem Weihnachtsbaum oder vor einer hässlichen Pyramide, die ständig drohte, in Flammen aufzugehen, sondern im Kinosessel dieses Altberliner Kinos im Scheunenviertel, wo vor der Nazizeit die Ostjuden lebten, und das wohl schon hundert Jahre alt war.
Meine Hoffnung, an diesem Abend noch etwas Sinnvolles zu essen zu kriegen, ruhte auf dem Imbiss im Kino, wo sie sonst immer Wiener verkauften. Pech gehabt. Es stellte sich raus, dass sie schon im Weihnachtsmodus waren und den Wurstkessel stillgelegt hatten.
Sonst haben sie wenigstens immer noch ein paar Kekse dagehabt, aber stellt euch vor, an diesem Heiligabend waren die Regale leer. Das Einzige, was es noch gab, waren die Pralinen, die im Kino immer eingetütet verkauft wurden. „Na toll“, dachte ich.
Was soll´s. Ich nahm noch drei Beutel von den „süßen Köstlichkeiten“ mit, was blieb mir auch andres übrig und betrat frohgemut und erwartungsfroh den Kinosaal.
Er war gut gefüllt, aber die Stimmung, die mir entgegenschlug, war eigenartig. Die Leute wirkten alle deprimiert, der Kinobesuch am Weihnachtsabend war bestimmt nur eine Notlösung. Die Flucht vor der Weihnachtssentimentalität schien mir misslungen zu sein.
Auch der Film war eine Enttäuschung. Es zeigte sich, dass Willi Schwabe, der alte Fuchs mit der silbernen Tolle, der selber früher Ufa-Schauspieler war, sich die beste Szene rausgepickt hatte, um sie in seiner Fernsehsendung "Rumpelkammer" zu zeigen.
Es ist die Stelle, wo das Mädchen auf dem Dach tanzt. Wenn Wolfgang Staudte in diesem Stil weitergemacht hätte, wäre das ein guter Film geworden. Die Tänzerin ist die ungarische Schauspielerin Clara Tabody,1915–1986 , die einen wilden Freiluftstep hinlegte und ihre langen Haare flattern ließ.
In dem Film geht es um arme Künstler in Berlin, die sich gegenseitig helfen. Man sieht auch sehr geniale Aufnahmen von dem alten Berlin, vor der Bombardierung. Ich glaube, der Film ist von 1943. Das muss ja für die Schauspieler wie ein Tanz auf dem Vulkan gewesen sein.
Ich denke da an Stalingrad und vor allem an das Schicksal ihrer jüdischen Kollegen. Wie kann man, die Eingangsszene mal ausgenommen, in diesen Zeiten so einen süßlichen Quatsch drehen? Es ist auch ein merkwürdiges Gefühl, wenn man sich überlegt, dass bei solchen alten Filmen schon alle Schauspieler tot sein müssen - was aber nicht gestimmt hat, denn zum Beispiel Karl Schönbock ist erst 2001 verstorben - , und auf der Leinwand agieren sie noch jung und frisch vor sich hin.
Neben mir im Kinosessel saß ein gutaussehender junger Mann, Typ Etwas intellektuell angehaucht. Leider würdigte er mich keines Blicks, sondern sah traurig auf die Leinwand. Es ging mir ja nicht um das, was man denken könnte.
Ich dachte bloß, vielleicht hat er ja noch ein Salamibrot zu Hause. Als Nachtisch hätte ich die Pralinen beisteuern können, ich hatte ja genug davon, und er könnte mir von seiner Ex erzählen.
Schwarzer Tee ohne Zucker und aufgetaute Sauerkirschen wären im Arbeiterwohnheim auch noch da gewesen.
Aber so was gibt es wohl bloß in Hollywoodfilmen und Kitschromanen, wie „Zauber einer Winternacht“ und wie sie alle heißen. Wenn es nach einem Hollywood-Drehbuch gegangen wäre, säßen wir jetzt, viele Jahre später, schon mit einem Schock Enkelkinder unterm Tannenbaum.
Trotzdem der Film langweilte, der Pralinendiät und dem ungesüßten Tee – Der wahre Teekenner trinkt ihn ja sowieso ohne Zucker -, und ich weder Fernseher noch Radio hatte: Ich war wunschlos glücklich an diesem Weihnachten im Arbeiterwohnheim von Bako in der Wilhelm-Pieck-Straße, denn ich war froh in Berlin zu sein, weit weg von meinem Dorf in Mecklenburg, nach dem ich selbst in schlechten Zeiten noch nie die allerkleinste Sekunde Sehnsucht gehabt habe.
Ich habe jetzt die DVD mal bei Amazon entdeckt. Seitdem schaue ich mir diesen Film jedes Weihnachten am 24. Dezember an. Aber ob ich dazu eine Erinnerungsbowle aus kaltem Tee und Sauerkirschen trinke, so wie damals an meinem ersten Berliner Weihnachten im Arbeiterwohnheim, wie die Juden, die ungesäuertes Brot essen, um sich an ihren Marsch durch die Wüste zu erinnern, behalte ich mir mal vor.
PS: Der Film „Akrobat schö-ö-ön“ wurde auf dem Gelände der Tobis Filmgesellschaft (später Defa), Am Flughafen 6 in Johannisthal gedreht.
Es begab sich also vor langer, langer Zeit – Quatsch, es war erst in den Achtzigern - , dass Jemand am 24. Dezember morgens frohgemut am Alex aus der U-Bahn stieg. Dieser Jemand war ich. Ich kam jedoch nicht von einer Weihnachtsfeier, die bis 5 Uhr früh gegangen war, sondern von einer Nachtschicht im Backwarenkombinat Marzahn, Abteilung Zwieback.
Meine gute Laune rührte daher, dass ich neun freie Tage vor mir hatte und außerdem im Arbeiterwohnheim in der Wilhelm-Pieck-Straße eine sturmfreie Bude. Sogar die Hausmeisterin war im Weihnachtsurlaub.
Zuerst wollte ich in die Kaufhalle unten im Centrum-Warenhaus - heute Galeria Kaufhof - , die schon morgens um 7 Uhr öffnete. Dort war es verdächtig ruhig. Der Schreck fuhr mir in die Glieder, als mir klar wurde, dass sie zu war, denn ich hatte noch nichts zu Essen für die Feiertage besorgt.
Ein Mann beobachtete mich dabei, wie ich entgeistert vor der geschlossenen Halle stand. Ich frage ihn, warum nicht geöffnet ist. „Da hast du Pech Mädchen, wenn du noch nicht eingekauft hast. In den nächsten drei Tagen ist in der ganzen Stadt alles dicht.“
In Ostberlin, das damals noch den Beinamen „Hauptstadt der DDR“ trug, hatte also alles geschlossen, auch die Imbisse und Restaurants, und es gab noch keine Türken, die kein Weihnachten feiern und deshalb immer aufhaben.
Der Currywurststand in der Wilhelm-Pieck-Straße, heute Torstraße, war verriegelt und verrammelt, und an ihm flatterte ein einsames Zettelchen in der Winterluft, auf dem man der Kundschaft ein Frohes Fest wünschte. Das machte mich auch nicht satt. Die Currywurst schmeckte dort zwar belastend, und der Ketchup war dünn wie Suppe, aber was hätte ich jetzt dafür gegeben.
Das einzige Essbare, was ich noch hatte, war ein taufrisches, duftendes Bauernbrot, das ich in der Bäckerei vom Band genommen hatte, auf dem es gerade aus dem Ofen gerollt kam. Dass, was ich gerade vor dem geschlossen Lebensmittelmarkt von dem Mann erfahren hatte, verlieh dem Weihnachtsgeschenk von einem Arbeitskollegen eine ganz andere Bedeutung.
Ein paar Tage zuvor hatte er mir feierlich eine Schachtel Eierlikörpralinen überreicht, bevor er in den Weihnachtsurlaub ging. Er war ein Lichtblick unter den anderen, die mich alle nicht leiden konnten - auf gut Deutsch, ich wurde gründlich gehasst - und hatte wohl ein Auge auf mich geworfen.
Weil ich diese Pralinen nicht mochte, lagen sie glücklicherweise noch immer bei mir im Schrank im Arbeiterwohnheim. Ich überlegte mir, dass sie zwar nicht schmeckten, aber dermaßen übersüßt waren, dass ich kalorienmäßig an Weihnachten über die Runden kommen müsste. Außerdem war noch schwarzer Tee da, aber kein Zucker und dann noch aufgetaute Sauerkirschen, die ich glücklich, denn so was war in der DDR Mangelware, einen Tag zuvor erworben hatte.
Nach Hause zu fahren, wäre keine Option für mich gewesen, ich wollte endlich mal mein erstes Weihnachten in Berlin feiern. Außerdem freute ich mich, dass ich der unvermeidlichen falschen Sentimentalität glücklich entronnen war.
Lieber mit knurrendem Magen allein in Berlin als zu Hause mit „Die Thomaner singen Weihnachtslieder“, wobei immer die unvermeidliche bestickte Decke auf dem Wohnzimmertisch lag, die ich hasste genauso wie die Thomaner,
- man hört ja viel von sexuellen Übergriffen in solchen Chören, und nach außen hin zelebrieren sie die heile Welt, dem hab ich sowieso noch nie getraut und das immer für faulen Zauber gehalten - , und ich ständig von meiner Mutter genötigt wurde, Pfeffernüsse zu essen, die ich genauso wenig mochte.
Diese Dauerkuchen, weiß und braun, wurden immer in einem geschlossenen Kochtopf im Küchenschrank aufbewahrt und reichten mindestens bis Mai.
Das Verhältnis mit ihr war desolat. Die Alleinerziehung wird immer so in die Höhe gehoben, obwohl natürlich jeder weiß, dass gerade dort verstärkt Konflikte auftreten, einfach weil ein Dritter, als Puffer, fehlt.
Ich habe mal einen Film über Beate Zschäpe gesehen. Genau wie ich kennt auch sie ihren Erzeuger nicht. Die Szene in der Küche, wo sie und ihre Mutter sich beschimpften und schubsten, kam mir sehr bekannt vor. Man weiß ja, was aus Beate geworden ist.
Nach außen, vor den Leuten im Dorf, taten meine Mutter und ich immer, als wenn alles in Ordnung wäre. Genau wie ich hatte auch Brian Jones ein Problem mit seinem Heimatort gehabt. Keiner durfte es wagen, in seiner Gegenwart Davenport zu erwähnen, denn dann war er bei ihm unten durch.
Meine Mutter war vielleicht gar nicht mal so böse darüber, mich vom Hals zu haben, so wie wir uns ständig stritten und anschrien. Das Problem waren die Nachbarn. Was sollte sie denen sagen? Bei uns kannten sich die Leute. Es war ja nur ein kleines Dorf. Und außerdem war sie auch noch Lehrerin.
Da durfte nicht durchsickern, dass die eigene Tochter abhanden gekommen war. Bestimmt munkelte man schon einiges. Der Schein musste aufrecht erhalten werden.
Sie saß bestimmt an Weihnachten vor ihrer Stolle und kam sich mal wieder mal vom Leben betrogen vor. Es kam ihr immer am allermeisten darauf an, was die Leute dachten.
Ich spürte instinktiv, dass meine Mutter nicht die allein Schuldige an unserer Familienmisere war. Es waren die gesellschaftlichen Verhältnisse, die bei uns herrschten, nicht die politischen, sondern die Beziehungen zwischen den Menschen. Ich nahm mir vor, alles anders zu machen, was natürlich eine Illusion war, da auch ich den selben gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt und unterworfen war wie meine Mutter. Natürlich konnte ich mit meinem jugendlichen Idealismus und aus meiner schwachen Position heraus nichts ändern an der Gesellschaft so wie sie war.
Im Arbeiterwohnheim angekommen, ließ ich mir erstmal ein heißes Bad mit viel Badusan ein. Ich brauchte ja nicht zu befürchten, dass es ärgerlich an der Badezimmertür klopfte. Ich hatte mir aber für den Abend dieses Vierundzwanzigsten Dezember auch schon ein besonderes Highlight überlegt.
Im Kino Babylon - Übrigens: Ins Kino bin ich früher immer gegangen, wenn ich „kein“ Geld hatte. Eine Vorstellung kostete immer so 1,20 bis 1,50 DDR-Mark - nicht weit entfernt von meinem Arbeiterwohnheim, es war bloß über die Straße, wurde abends „Akrobat schö-ö-ön“ gegeben, ein alter Film aus den Vierzigern.
Seit ich mit dreizehn mal einen Ausschnitt aus diesem Film im Fernsehen bei Willi Schwabes Rumpelkammer gesehen hatte, träumte ich davon, einmal den ganzen Film in voller Länge zu sehen.
Und ausgerechnet am 24. Dezember um 20 Uhr wurde er im Kino Babylon am Rosenthaler Platz gezeigt. Für mich war das ein erfüllter Weihnachtswunsch.
So saß ich an diesem Vierundzwanzigsten Gott sei Dank nicht unter dem Weihnachtsbaum oder vor einer hässlichen Pyramide, die ständig drohte, in Flammen aufzugehen, sondern im Kinosessel dieses Altberliner Kinos im Scheunenviertel, wo vor der Nazizeit die Ostjuden lebten, und das wohl schon hundert Jahre alt war.
Meine Hoffnung, an diesem Abend noch etwas Sinnvolles zu essen zu kriegen, ruhte auf dem Imbiss im Kino, wo sie sonst immer Wiener verkauften. Pech gehabt. Es stellte sich raus, dass sie schon im Weihnachtsmodus waren und den Wurstkessel stillgelegt hatten.
Sonst haben sie wenigstens immer noch ein paar Kekse dagehabt, aber stellt euch vor, an diesem Heiligabend waren die Regale leer. Das Einzige, was es noch gab, waren die Pralinen, die im Kino immer eingetütet verkauft wurden. „Na toll“, dachte ich.
Was soll´s. Ich nahm noch drei Beutel von den „süßen Köstlichkeiten“ mit, was blieb mir auch andres übrig und betrat frohgemut und erwartungsfroh den Kinosaal.
Er war gut gefüllt, aber die Stimmung, die mir entgegenschlug, war eigenartig. Die Leute wirkten alle deprimiert, der Kinobesuch am Weihnachtsabend war bestimmt nur eine Notlösung. Die Flucht vor der Weihnachtssentimentalität schien mir misslungen zu sein.
Auch der Film war eine Enttäuschung. Es zeigte sich, dass Willi Schwabe, der alte Fuchs mit der silbernen Tolle, der selber früher Ufa-Schauspieler war, sich die beste Szene rausgepickt hatte, um sie in seiner Fernsehsendung "Rumpelkammer" zu zeigen.
Es ist die Stelle, wo das Mädchen auf dem Dach tanzt. Wenn Wolfgang Staudte in diesem Stil weitergemacht hätte, wäre das ein guter Film geworden. Die Tänzerin ist die ungarische Schauspielerin Clara Tabody,1915–1986 , die einen wilden Freiluftstep hinlegte und ihre langen Haare flattern ließ.
In dem Film geht es um arme Künstler in Berlin, die sich gegenseitig helfen. Man sieht auch sehr geniale Aufnahmen von dem alten Berlin, vor der Bombardierung. Ich glaube, der Film ist von 1943. Das muss ja für die Schauspieler wie ein Tanz auf dem Vulkan gewesen sein.
Ich denke da an Stalingrad und vor allem an das Schicksal ihrer jüdischen Kollegen. Wie kann man, die Eingangsszene mal ausgenommen, in diesen Zeiten so einen süßlichen Quatsch drehen? Es ist auch ein merkwürdiges Gefühl, wenn man sich überlegt, dass bei solchen alten Filmen schon alle Schauspieler tot sein müssen - was aber nicht gestimmt hat, denn zum Beispiel Karl Schönbock ist erst 2001 verstorben - , und auf der Leinwand agieren sie noch jung und frisch vor sich hin.
Neben mir im Kinosessel saß ein gutaussehender junger Mann, Typ Etwas intellektuell angehaucht. Leider würdigte er mich keines Blicks, sondern sah traurig auf die Leinwand. Es ging mir ja nicht um das, was man denken könnte.
Ich dachte bloß, vielleicht hat er ja noch ein Salamibrot zu Hause. Als Nachtisch hätte ich die Pralinen beisteuern können, ich hatte ja genug davon, und er könnte mir von seiner Ex erzählen.
Schwarzer Tee ohne Zucker und aufgetaute Sauerkirschen wären im Arbeiterwohnheim auch noch da gewesen.
Aber so was gibt es wohl bloß in Hollywoodfilmen und Kitschromanen, wie „Zauber einer Winternacht“ und wie sie alle heißen. Wenn es nach einem Hollywood-Drehbuch gegangen wäre, säßen wir jetzt, viele Jahre später, schon mit einem Schock Enkelkinder unterm Tannenbaum.
Trotzdem der Film langweilte, der Pralinendiät und dem ungesüßten Tee – Der wahre Teekenner trinkt ihn ja sowieso ohne Zucker -, und ich weder Fernseher noch Radio hatte: Ich war wunschlos glücklich an diesem Weihnachten im Arbeiterwohnheim von Bako in der Wilhelm-Pieck-Straße, denn ich war froh in Berlin zu sein, weit weg von meinem Dorf in Mecklenburg, nach dem ich selbst in schlechten Zeiten noch nie die allerkleinste Sekunde Sehnsucht gehabt habe.
Ich habe jetzt die DVD mal bei Amazon entdeckt. Seitdem schaue ich mir diesen Film jedes Weihnachten am 24. Dezember an. Aber ob ich dazu eine Erinnerungsbowle aus kaltem Tee und Sauerkirschen trinke, so wie damals an meinem ersten Berliner Weihnachten im Arbeiterwohnheim, wie die Juden, die ungesäuertes Brot essen, um sich an ihren Marsch durch die Wüste zu erinnern, behalte ich mir mal vor.
PS: Der Film „Akrobat schö-ö-ön“ wurde auf dem Gelände der Tobis Filmgesellschaft (später Defa), Am Flughafen 6 in Johannisthal gedreht.
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