Tanz der Blätter [Überarbeitet]

Senerva

Mitglied
Tanz der Blätter - 05.11.2003 © Janine Greis

[Überarbeitet am: 27.12.2003]

Ein lang gezogenes Seufzen entwich seinen Lippen, als er den Blättern bei ihrem alltäglichen Spiel mit dem Winde zusah – ja, er war diesen Tanz gewöhnt, denn schließlich war der Herbst über das Land hereingebrochen und forderte mit der Kälte und dem unruhigen, heftigen Wind seine Opfer – nicht nur die Blätter verließen ihre Plätze, die sie über das Jahr eingenommen hatten, sondern auch die Tiere suchten das Weite … und das Warme. Warum war er noch hier? Er konnte die Frage, die da in seinem Kopfe umhergeisterte, selbst beantworten. Er war auf der Suche, nein, auf der Jagd, doch hatte er sein Opfer noch keineswegs gefunden. Der Blick der grauen Augen wirkte glasig, abwesend, als er den Kopf hob und seinen Blick über die Lichtung des ewigen Feuers streifen ließ – viele Wesen hatten hier, heute Abend, einen Ort der Wärme und Geborgenheit gefunden, doch eines würde ihn nicht wieder lebend verlassen. Lebend? War dieses Wesen, das er suchte, nicht schon tot?... Musste er nicht Mitleid mit diesen haben, weil sie das Leben im Tode wiederfanden? Nein.

Der eiskalte Wind, der an diesem Abend über das Lande fegte, und die Bäume ihrer letzten, schützenden Blätter beraubte, ließ sie leicht zusammenzucken – der dünne, dunkelgrüne Umhang, den sie trug, versprach nicht die Wärme, die sie sich erhofft hatte, als sie ihn sich zu Hause umgelegt hatte. Der Pfad, der schon vor Jahrhunderten von der Natur in den Humus gezeichnet worden war, wurde, auch heute, noch immer recht oft benutzt, sodass sie nur einen Fuß vor den anderen setzen musste, um letztendlich die Lichte zu erreichen, auf welcher das ewige Feuer zu brennen vermochte, dessen Schein der Tod für andere Wesen bedeuten konnte.

Er spürte ihre Aura – ja, diese simple und einfache Anwesenheit eines Wesens, das nicht in diese Welt gehörte, ließ eine Gänsehaut auf seinem Körper entstehen, sodass er den Kopf rasch zur Seite wandte, um jenen Punkt zu suchen, der vielleicht in der Ferne des Waldes existierte. War es etwa ein imaginärer Punkt, den er einfach sehen wollte, um somit seine Langeweile zu vertreiben? Nein. Er spürte die Existenz jenes Wesens und er fühlte, wie sich tief in ihm etwas regte. Es war nicht der Rausch nach Blut, sondern etwas anderes. Etwas, dass ein leichtes Schmunzeln seinen Lippen entlockte und ihn sogar soweit trieb, dass er sich leicht mit der Fußsohle von dem Baum abstieß, an dem er zuvor noch gelehnt hatte.

Sie rieb die Hände leicht aneinander, sodass ein kleiner Funken Wärme zwischen ihnen entstand und sie erleichtert aufatmen ließ – ihre Schritte führten sie bis zum Rande der Lichtung, in dessen Schatten, den die Bäume noch bereitwillig spendeten, sie sofort eintauchte. Dunkelheit, ja, die pure Finsternis genoss sie auf der kühlen Haut ihres Gesichtes, nachdem sie die Kapuze des Umhanges, welche zuvor noch tief in ihrem Gesicht ruhte, aus diesem gestreift hatte. Tief atmete sie ein und aus, ehe sie die Augen schloss. Auch hier herrschte Dunkelheit, und selbst, wenn sie die Augen öffnete, würde sie nur Finsternis erkennen. Das Schlimmste war, ihr gefiel es … Sie schwelgte in dem Gefühl der Düsterkeit.

Die Existenz des Punktes war gefährdet, so merkte er rasch, als er seinen Blick umher schweifen ließ. Der Punkt, oder das Etwas, war mittlerweile in seine Welt eingetaucht – eine Welt, die ihm keinesfalls fremd war. Obwohl er dem Schoße der Dunkelheit entsprungen war, vermochte er nicht auszumachen, wo es sich befand. Seine Füße führten ihn also ziellos umher – ziellos? Nicht wirklich. Außerhalb der Region, in welche der Schein des Feuers noch zu dringen vermochte, hielt er inne und schloss die Augen. Seine Sinne, die ihm zu Teil geworden waren, als seine Eltern sich vereinigt hatten, kamen ihm zur Hilfe, indem sie ihm zeigten, wo es sich befand. Bald würde die Zeit gekommen sein – bald würde es seinen letzten Atemzug tun. „My Lady.“ Seine Stimme war leise, rau, fast einem monotonen Flüstern gleich, als er neben ihr zum stehen kam. Sein musternder Blick glitt über ihre Gestalt – nein, verborgen war ihr dieser keinesfalls, war es doch in ihre Hände gelegt, wie sie reagieren würde.

Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sie jene höfliche Anrede vernahm. Ihr Kopf hob sich – das dunkelbraune Haar fiel somit in ihr Gesicht und versperrte den Blick auf ihre nackte, bloße Gesichtshaut … und auf das schwache Lächeln, das ihre weinroten Lippen preisgaben. Natürlich, sie spürte seinen musternden Blick, doch weshalb sollte sie darauf reagieren? Sie neigte nur den Kopf leicht zur Seite, sodass die Strähnen einen kleinen Teil ihres Gesichtes freigaben – blaue Augen, gebrochen im Nichts des Todes, blickten hinauf in die Seinen. Die sonst so rosigen Wangen waren nun leicht rot gefärbt, wohl ob des kalten Windes, der seinen Weg über die Erde suchte. Der dunkelgrüne Umhang, der sie trug, fiel in weiten Falten auf den Boden hinab – man konnte nur vermuten, was sie unter diesem zu tragen vermochte. „My Lord.“

Er lächelte kurz und verneigte sich, wobei er ihre Hand ergriff, um einen sanften Kuss auf den Handrücken zu hauchen – die Temperatur ihres Körpers machte ihn nicht aufmerksam, denn er hatte schon vorher gewusst, dass sie ein anderes Wesen sein musste. Ein Wesen, das alsbald von dieser Welt verschwinden würde und in das Elysium einkehrte. Der dunkelbraune, schäbige Mantel verdeckte gekonnt und gewollt seinen muskulösen Oberkörper – von sich aus würde er nie zugeben, dass dieser existierte. Die spitz zulaufenden Ohren, die das blonde, kurze Haar nur schwer zurückhalten konnten, ließen nur vermuten, dass das Blut der Elben durch seine Adern floss – und doch war dort etwas in dem Blick der grauen Augen, was genau das Gegenteil bezeichnete. Mischling? Halbelb? Wer weiß das schon. Eines der vielen Geheimnisse, die es um diesen Mann zu lösen gab – doch vermochte sie die Frau zu sein, die es lösen konnte?

Eine Braue hob, als sie seine freundlichen Gesten bemerkte – rührte sich dort nicht etwas in ihr, was sie versucht hatte, über die Jahre in einem Kerker einzusperren? Ja, sie merkte, wie sich das Schloss bewegte. Sie wusste, das ihr gegenüber ihr gehorchen würde, gleich, was sie von ihm verlangen sollte. Das Lächeln schwand von ihren Lippen und machte somit Platz für ein leichtes Grinsen, als sie ihre Hand zurückzog. Sie hatte genug gesehen und genug gefühlt. Ihre Hände krallten sich an seinem Mantel fest und somit zog sie ihn zurück, tiefer in die Dunkelheit … tiefer in ihr Sein.

Oh, wie unwissend war sie doch! Genau auf diesen Moment hatte er gewartet. Bereitwillig und gehorsam ließ er sich von ihr tiefer in den Schatten ziehen, immer tiefer in sein Reich … zu seiner Mutter, der Dunkelheit, die ihre Hand schon suchend nach ihrem Sohne ausstreckte. Er versuchte, so gut wie es ging, das leise Klappern seiner Waffen zu unterdrücken, da diese immer gegen seine Beine schlugen, wenn er nur einen Schritt ging. Seine Hände legten sich um ihre Hüften – es sah so aus, als wolle er, wonach jedem Mann gelüste, wenn er eine Frau dieser Art trifft. Lust …

Wenn seine Lust vorgespielt war, so konnte er gut spielen. Das Grinsen verschwand, als ihre Hände den Weg unter seinen Mantel suchten. Ja, sie musste sich in diesem Moment eingestehen, dass auch ein gewisses Maß an Lust in ihr existierte, doch war es sicher nicht die Lust, die jeden Mann und jede Frau zu solchen Dingen trieb. Ihr gierte es nach dem Blut, dass dort durch seine Adern floss – dessen Reinheit ihr einfach die Sinne raubte und jenes Wesen entfesselte, dessen Kerker für viele Jahre geschlossen war. Der letzte Funke der Vernunft versiegte in ihr, als sie den Kopf leicht zur Seite neigte und diesen an seiner Schulter verbarg – gleich, nur noch wenige Sekunden, und sie würde endlich wieder das Elixier des Lebens spüren, den süßlichen Duft des ‚metallischen’ Blutes riechen – etwas, dass sie immer wieder zur Raserei trieb.

Er umfasstre ihre rechte Hand und zog sie leicht von seinem Bauch fort – ja, wenn sie wirklich genau hinsah, so merkte sie, dass er schon seit geraumer Zeit an dem Gürtel herumspielte. Wie sollte sie es merken, in ihrem Rausch der Lust? Er schloss die Augen für einen Moment und umfasste den Knauf des Dolches mit der rechten Hand. Sie würde nichts spüren, außer der Dunkelheit, welche sie zu sich nahm. Der Instinkt des Todes würde sie auf Schritt und Tritt verfolgen – oder er setzte ihrem Leben hier ein Ende. Er spürte einen Hauch von Leere in sich, als er den Dolch bis zum Heft in ihre Brust trieb. Er wich einen Schritt zurück und löste sich somit von der Gestalt, die kurz zusammenzuckte, dann aber den Knauf mit einer Hand umfasste.

Sie sah nichts, einfach nichts – die Sinne des Kindes der Nacht hatten sich einfach davon gestohlen, in die unendlichen Weiten der Schatten, die sie beide umgaben. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie genau jenes Geheimnis des Mannes zuerst lösen würde, denn er war der Jäger, sie die Gejagte – doch nun. Leise knurrte sie auf und umfasste den Dolch mit der Hand – dafür musste er büßen! Hier oder im nächsten Leben, das war ihr völlig gleichgültig, als sie einige Schritte auf ihn zu taumelte.

Sein Blick barg Mitleid, als seine Hand wieder seinen Weg unter den Mantel fand – dieses Mal würde es ihr Todesurteil sein. „Vampir.“ Er spuckte das Wort förmlich aus, als er die Armbrust lud und entsicherte. Der Bolzen flog mit einer unendlichen Geschwindigkeit durch die Luft – für die Frau würde es eine Qual der Minuten sein, bis jener ihr schließlich den Todesstoss geben würde. Die Spitze des Bolzens bohrte sich zuerst in die vordere Partie der Stirn und drang schließlich durch Knochen und Gehirn. Das Laub raschelte leise, als die Gestalt auf die Knie fiel und schließlich nach vorne kippte – die Blätter knackten leise, als sie brachen.
Mit einer schnellen Handbewegung ließ er die Armbrust unter dem Mantel verschwinden und wandte sich um – seine Füße würden den Weg in den Schoß der Mutter selbst finden, sodass er sich endlich seiner Gedankenwelt hingeben konnte. Das letzte, was er sah, bevor er eben in diese versank, war der Tanz, den die Blätter vollführten.
 

Gilmon

Mitglied
Hallo Senerva,

ein sehr stimmungsvoller Text. Dir gelingt es sehr gut, eine spannende Atmosphäre aufzubauen und den Leser zu fesseln. Auch der dialogische Charakter mit dem ständigen Sichtwechsel tut dem Text gut. Ich habe den Text gerne gelesen.

Grüße, Gilmon
 



 
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