Tanz mit dem Klabautermann

liselotterie

Mitglied
Die Möwen fliegen mit protestierendem Kreischen auf, als Maike auf ihrem Fahrrad um die Ecke schiesst, am Imbissstand vorbei, wo die Vögel an den Resten eines Fischbrötchens herumgezerrt haben. Sie ist spät dran und will nicht schon wieder eine Rüge kassieren. „Schiet!“(1) Der Fahrstuhl fährt ihr vor der Nase weg, doch anstatt zu warten, rennt sie fluchend die Treppen hinauf. Das Geschimpfe lässt allerdings von Etage zu Etage nach, denn sie braucht ihren Atem zum Laufen. Keuchend zieht sie die Tür im 7. Stock auf, streicht sich die kurzen schwarzen Haare aus der verschwitzen Stirn und beeilt sich, an ihren Schreibtisch zu kommen. Sie fährt den Computer hoch, setzt das Headset auf und meldet sich an. Zehn Uhr dreissig, zeigt der Bildschirm vor ihr. Geschafft!

„Traumsegler Rostock, Maike Övelgönne, Guten Tag, was kann ich für sie tun?“ begrüsst sie den ersten Anrufer, der zu ihr durchgestellt wird. Es ist ein älterer Herr, der bei der HANSE SAIL(2) als Gast mitfahren möchte.
„Äwer man bloot de Warnow rup unn rünner, mien Fru ward so fix seekrank“(3), schränkt er vorsichtig ein. Maike ist wieder einmal froh, dass ihre Grosseltern auch Plattdüütsch snacken(4) und sie so von klein auf gelernt hat, diese urige Sprache zumindest zu verstehen. Schnell sucht sie dem freundlichen Herrn ein paar Angebote heraus. Er hat Glück, denn die meisten Kunden wollen möglichst weit auf die Ostsee hinaus segeln und die schönen alten Segler sind längst ausgebucht. Aber eine Fahrt mit der Barkasse, bis zum Seehafen und zurück, ist genau das Richtige für ihn. „Schön Dank mien Diern“(5), verabschiedet er sich froh. Leider sind die nächsten Anrufer nicht so freundlich. Etliche werden sauer, als sie erfahren, dass die gewünschten Mitsegeltouren ausgebucht sind. Ein Berliner Anrufer unterstellt ihr gar, privat Karten unter der Hand zu überhöhten Preisen zu verkaufen.

Erleichtert geht Maike in die späte Mittagspause, froh, dem täglichen Wahnsinn für eine dreiviertel Stunde zu entrinnen. Wie immer verbringt sie diese Zeit mit ihrer besten Freundin und Kollegin Wiebke, die auch bei „Traumsegler“ arbeitet, allerdings in der Buchhaltung. Beide Frauen sind zwar gleich alt, könnten aber gegensätzlicher nicht sein. Maike ist gross, schlank und sportlich. In Jeans und weissem T-Shirt sieht sie immer ein wenig aus, wie einem amerikanischen Film entstiegen. Wiebke dagegen ist der mütterliche Typ. Klein, rundlich, mit dauergewellten Löckchen auf dem Kopf, die Maike manchmal scherzhaft als „Mutti-Frisur“ bezeichnet. Immerhin ist Wiebke ja auch Mutter zweier kleiner Kinder, fünfjähriger Zwillinge, derentwegen sie nur stundenweise Gleitzeit arbeitet.

Weil so schönes Wetter ist, holen sich die Freundinnen ein Backfischbrötchen vom Imbiss und schlendern am Stadthafen entlang. Von hier hat man einen guten Blick auf die Rostocker Altstadt, die grossen Speicher, in denen sich auch ihre Büros befinden und über die Warnow, hinüber nach Gehlsdorf. Kleine Segelboote ziehen an ihnen vorbei, Kinder mit Schwimmwesten steuern mit konzentrierter Miene ihre „Optimisten“(6) durch die Wellen.

„Au Mann, es ist fünf vor zwölf!“ entfährt es Maike plötzlich.
Wiebke schaut sie entgeistert an: „Nein, es ist dreiviertel Drei“, korrigiert sie mit einem Blick auf ihre Uhr.
„Du Huhn!“ Maike lacht. „Ich meine doch nicht die Uhrzeit. Sondern meine innere Uhr. Ich werde nächste Woche Dreissig. Und meine Oma sagt: Weg Diern bet dörtig keen Keerl hett, de fin‘nt nie nich eenen!“(7)
„Deine Oma ist in einer ganz anderen Zeit gross geworden. Die hatte mit Dreissig schon vier Kinder. Und Du bastelst noch an Deiner Karriere, hast Dich doch gerade erst um die Stelle als Abteilungsleiterin beworben.“
„Meinst Du, ich hab da eine Chance?“
„Klar! Du hast die nötigen Qualifikationen, kennst den Laden seit Jahren. Warum sollten sie Jemanden von aussen holen, wenn sie den Posten intern besetzen können?“
Maike wiegt zweifelnd den Kopf hin und her. „Bei meinem Pech sehe ich mich noch als Fünfzigjährige mit dem Headset da hocken. Und zuhause warten dann höchstens der Fernseher und sieben Katzen.“

Wiebke bleibt abrupt stehen, fasst ihre Freundin am Arm und dreht sie zu sich herum. „Jetzt hör mir mal zu. Alles wird gut! Eigentlich wollte ich Dich ja nächste Woche überraschen, aber Du brauchst die Aufmunterung wohl jetzt schon - ich hab für uns zwei Plätze auf der GULDEN LEEUW!“
„Was?“ Maike springt Wiebke vor Freude um den Hals. „Auf dem holländischen Dreimast-Topsegelschoner? Siebzig Meter lang, Eintausendvierhundert Quadratmeter Segelfläche. Ein Traum von einem Schiff!“
„Ja, ja, ich sehe, du hast Deine Hausaufgaben gemacht.“ Wiebke lacht nun auch. „Die dreihundert möglichen Partygäste hast du vergessen. Wer weiss, vielleicht findest du dort deinen Traummann.“
„Wohl eher den Klabautermann(8), aber ich freu mich trotzdem riesig. Dann segeln wir ja in meinen Geburtstag hinein.“

***

Mit gemischten Gefühlen sieht Maike dem kommenden Freitag entgegen. Einerseits freut sie sich wirklich auf die Segeltour, andererseits klingen ihr immer wieder die Worte ihrer Oma im Kopf.

***

Endlich ist es soweit. Der Freitagmorgen verspricht einen schönen Sommertag. Maike hat Frühschicht und radelt schon um halb Acht durch die Kröpeliner Tor Vorstadt, kurz KTV genannt, in Richtung Warnowufer und Stadthafen. Sie liebt dieses Viertel mit seinen alten Häusern und den schmiedeeisernen Balkonen davor. Die grossen Bäume spenden Schatten, von der Küste weht immer ein leichter oder auch stärkerer Wind und trägt den salzigen Geruch des Meeres mit sich. Bei ihrem Lieblingsbäcker hält sie kurz an und kauft zwei Hanseaten, einen für Wiebke und einen für sich. Sie war schon als Kind ganz vernarrt in diese mit Marmelade zusammengeklebten grossen Kekse, wahrscheinlich wegen der lustigen Glasur - eine Hälfte mit weissem, die andere mit rosa Zuckerguss. Im Büro bleibt noch Zeit für ein Schwätzchen mit Wiebke in der Küche. Dabei dreht sich alles um die Segeltour heute Abend. Maike wischt sich gerade die letzten Zuckergusskrümel vom Mund, da geht die Tür auf und Herr Nielsen, der Geschäftsführer kommt herein.
„Guten Morgen. Frau Övelgönne, wenn sie fertig sind, kommen sie bitte in mein Büro!“ Und schon ist er wieder draussen.
„War das jetzt gut oder schlecht?“ will Maike wissen. „Sag schon, es geht bestimmt um meine Bewerbung.“
„Denk positiv, Süsse!“ muntert die Freundin sie auf. „Geh gleich zu ihm, dann weisst Du mehr.“

Eine positiv denkende, selbstbewusst ausschreitende Maike betritt Nielsens Büro. Ein geknicktes Etwas kommt eine Viertelstunde später wieder heraus.
„Ach herje, so schlimm?“ Wiebke, die vor dem Büro gewartet hat, nimmt die Freundin in den Arm.
„Schlimmer!“ schluchzt Maike.
„Du hast die Stelle nicht bekommen?“
„Ich hab gar keine Stelle!“
„Was?“ Wiebke bleibt vor Entsetzten der Mund offen stehen. „Ist nicht wahr, oder?“
„Doch. Die ausgeschriebene Stelle wird nun doch extern vergeben. Ich wäre für die jetzige Tätigkeit überqualifiziert und würde bestimmt anderswo, meinen Fähigkeiten entsprechend...“ Der Rest geht in Schluchzen unter.

Später, in einem kleinen Kaffee am Marktplatz, mit Blick auf das siebentürmige Rathaus, sitzen die Freundinnen mit ernsten Gesichtern über ihrem Cappuccino.
„Meinst Du, es war klug, zu sagen, wenn ich schon gehen muss, dann sofort?“ Wiebke blickt ihre neue Ex-Kollegin fragend an.
„Ja, glaubst Du denn, ich bin noch motiviert, für die da irgendwas zu machen?“ Entrüstet deutet Maike mit der Hand in Richtung Stadthafen und schaut im nächsten Moment seufzend auf die kleine Plastiktüte mit persönlichen Dingen, die sie von ihrem Schreibtisch mitgenommen hat.
„Viereinhalb Jahre, und das ist Alles, was bleibt.“
„Ach nun komm, wenn die das so sehen, haben sie dich wirklich nicht verdient,“ versucht Wiebke ihre Freundin aufzumuntern. „Es kommt bestimmt etwas viel besseres.“ Sie schaut auf die Uhr. „Leider muss ich nun wirklich ins Büro. Wir sehen uns heute Abend auf der GOLDEN LEEUW und dann segeln wir Deinem neuen Glück entgegen.“
„Och, ich weiss gar nicht, ob ich dazu noch Lust habe.“
„Ich hol Dich ab, um 17 Uhr“, verspricht Wiebke. „Und keine Widerrede. Bis dahin tu Dir was Gutes.“
Sie umarmt ihre Freundin noch einmal und tippelt davon, ins Büro, zu ihren Zahlen.
Wie sehr hat Wiebke sich gefreut, sie mit dieser Segeltour zu überraschen, denkt Maike.
Watt mutt, dat mutt (9), da werd ich mich wohl mal zusammenreissen.

Bereits um halb fünf klingelt es an Maikes Tür. Sie öffnet im Bademantel, die Haare noch nass vom Duschen. „Du? Jetzt schon?
„Ich wollte sicher sein, dass Du rechtzeitig fertig bist.“ Wiebke umarmt die Freundin so herzlich, als hätten sie sich tagelang nicht gesehen. „Peter ist bei den Kindern, da konnte ich eher los.“
„Dein Mann ist ein Schatz“, seufzt Maike. „Wenn mir doch nur so Jemand begegnen würde!“

Arm in Arm bummeln sie wenig später in Richtung Warnow. Je näher sie dem Ufer kommen, um so mehr Menschen sind unterwegs. Der ganze Stadthafen ist ein einziges Volksfest. Karussels und Andenkenbuden reihen sich in bunter Abwechslung neben Bier- und Imbissständen ein. Eine schwere Wolke schwebt unsichtbar über dem Festgelände, vereint den Geruch von Pommes, Würstchen und Räucherfisch mit den Ausdünstungen von Aftershave und Sonnenöl. Das bunte Gewimmel wird von einem gewaltig hohen Riesenrad überragt wird.
„Von dort oben kann man bestimmt das Meer sehen“, ruft Maike, um das Getöse ringsum mit ihrer Stimme zu übertönen. Dabei leuchten ihre Augen vor Begeisterung. Die trüben Gedanken des Vormittags sind vergessen, jetzt sind sie hier und wollen Spass haben.

Sie lassen sich von den Menschenmassen treiben, immer am Kai entlang, wo die stolzen Segler liegen, die heute Abend noch mit ihren Gästen auslaufen werden.
Dabei kommen sie nur langsam voran, bleiben immer wieder stehen, um die Schiffe zu bewundern. Maike kennt sie alle, zumindest in der Theorie, hat unzählige Male den Kunden am Telefon davon erzählt.

Und dann betreten sie die GULDEN LEEUW. Der schöne Dreimaster hat ein riesiges Deck, auf dem sich alle Gäste gleichzeitig aufhalten können. Mit einem Glas Sekt in der Hand erkunden die Freundinnen das Schiff. Nur wenig später ertönt laut und kraftvoll die Stimme der Kapitäns, der sie mit nettem holländischen Akzent an Bord begrüsst. Die Freundinnen kichern, denn mit seinen langen blonden Haaren, der sonnengebräunten, wettergegerbten Haut und dem Ring im Ohr erinnert er sie eher an einen Rockmusiker, als an einen Käpt‘n. Als die Leinen gelöst werden und sie sich vom Ufer fort bewegen, spürt Maike, wie in ihr auch die letzte Anspannung verfliegt. Das hier ist ihr Abenteuer.

Ein leichter Wind trägt sie mit wenig Segel die Warnow hinab. Das Wasser plätschert leise. Am Ufer ziehen erst die Backsteinhäuser der Altstadt vorbei, dann die Vororte mit ihren Betonburgen. Andere Segler, grosse und kleine, nehmen den gleichen Kurs. Alle haben nur ein Ziel - hinaus aufs Meer. Möwen folgen ihnen kreischend. Überall winken fröhliche Menschen. Je näher sie der Ostsee kommen, desto frischer weht der Wind. Sie lassen den Seehafen rechts liegen, grüssen den Leuchtturm und den Teepott von Warnemünde und dann werden nach und nach alle Segel gesetzt. Weisse Gischt spritzt hoch auf, kleine Tropfen treffen die Freundinnen im Gesicht, die lachend über die Reeling schauen. Nun fliegt die GULDEN LEEUW übers Meer, die anderen, kleineren Segler hinter sich zurücklassend. Auch die Gebäude am Ufer, die Kräne der Werft im Hintergrund, werden kleiner und kleiner.

„Danke Wiebke, das ist wirklich das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich je bekommen habe“, strahlt Maike.
Musik erklingt vom Bug des Schiffes. Da steht nun ein echter Seebär mit Krausebart, Mütze und Pfeifchen im Mundwinkel. Genüsslich schmauchend spielt er alte Seemannslieder auf dem Schifferklavier (10), das er sich umgehängt hat. Das Publikum ringsum ist begeistert, die ersten Gäste beginnen tatsächlich auf dem schwankenden Deck zu tanzen.
„Komm mit!“ Wiebke zieht ihre Freundin durch die grosse Flügeltür ins Deckhaus hinein. „Da tanzen doch nur die Ollen. Lass uns mal schauen, was an der Bar los ist.“
Sie finden tatsächlich einen freien Platz und bestellen zwei Caipiriña.
„Auf Alle, die noch neunundzwanzig sind!“ Maike prostet ihrer Freundin zu.
„Auf dass Alles gut wird, wenn du dreissig bist, Süsse,“ lacht diese.

„Vielleicht war das mit den Cocktails doch keine so gute Idee.“ Wiebke ist plötzlich ganz blass.
„Oh je, wirst du etwa seekrank?“ Maike legt besorgt ihre Hand auf Wiebkes Stirn. „Ganz kalt. Komm, wir gehen an die frische Luft!“
„Nee, lass mal, da wackelt ja der ganze Horizont. Ich hab da hinten ein paar Couchen gesehen, da würde ich mich gern kurz hinlegen.“
Maike begleitet die Freundin, findet eine Decke und deckt sie vorsichtig zu.
„Besser?“
„Das wird schon. Geh du dich ruhig amüsieren, es ist dein Fest.“
„Nein, ich kann dich doch nicht allein lassen“
„Kannst du wohl. Ich bin nicht allein, schau dich doch um.“
Sie hat Recht. Mittlerweile sind die wenigen Sofas belegt und keiner der Liegenden sieht sonderlich glücklich aus. Zwei Damen der Crew gehen umher, reichen Decken und Tee.
„Ich komm gleich wieder“, verspricht Maike, als sie kurz vor Mitternacht hinaus geht.

Sie hat Glück und findet Platz auf einer der hölzernen Bänke. Das Deck ist voller Menschen, die halblaut redend und lachend umherschlendern. Maike schaut hinauf in den Sternenhimmel. Wunderschön, denkt sie. Eine tiefe Ruhe hüllt sie ein, während sie sich vom Schiff sanft über die Wellen getragen fühlt.
Der Seebär scheint sein Programm der Stimmung angepasst zu haben. Statt der Schunkel-Lieder trägt der Wind nun leise, seufzende, fast wehmütige Musik an Maikes Ohr.

„Dörw ik bidden?“(11)
Sie schreckt hoch und sieht in zwei strahlend blaue Augen. Vor ihr steht ein grosser, blonder Mann, der sie freundlich anlächelt und ihr auffordernd seine rechte Hand entgegenstreckt. Gut sieht er aus, sportlich und schlank. Maike schätzt ihn auf Mitte Dreissig. Fast automatisch ergreift sie seine Hand, die sich warm und rau anfühlt und lässt sich sanft empor ziehen.

Und dann tanzen sie. Zu diesen wundervollen Klängen, mit wiegenden Bewegungen, die sich nicht nur dem Rhythmus der Musik, sondern auch dem der Wellen anpassen. Es ist ein Wiegen und ein Wogen, fast ein Schweben. Niemand sonst hält sich mehr an Deck auf, sie sind die einzigen Tänzer. Und auch der Seebär mit dem Akkordeon ist nicht mehr zu sehen, nur die Musik klingt magisch durch die Nacht.

„Vertell mi vun di“(12), bittet der Fremde sie mit sanfter Stimme, während er sie fest und sicher in seinen Armen hält. Tief in sich spürt Maike ein Vertrauen zu ihm, eine Wärme, die sie nicht erklären kann. Als wären sie sich schon einmal begegnet. Und so beginnt sie von sich zu erzählen. Von ihrer Liebe zum Meer und zu den Schiffen, von ihrem Job, den sie gerade verloren hat und selbst davon, dass sie immer noch auf der Suche ist, nach dem Einen, dem Richtigen. Mit einem Lächeln fügt sie den Spruch ihrer Oma hinzu:
„Weg Diern bet dörtig keen Keerl hett, de fin‘nt nie nich eenen!“(7)
Es ist kein Klagen, eher ein von der Seele Reden. Für Maike fühlt es sich richtig an, ihn das Alles wissen zu lassen.

„Ick heff ‘n niegen Arbeit för di. Hett mit Schäp to daun“(13). Dabei sieht er sie erwartungsvoll an. Sie hält seinem Blick stand, verliert sich in der Tiefe seiner blauen Augen, in denen sich das Meer zu spiegeln scheint, obwohl um sie herum längst schwarze Nacht ist.
„Das hört sich spannend an. Du musst mir unbedingt mehr davon erzählen.“ Maike lacht. „Nach diesem Tanz.“ Und in Gedanken fügt sie hinzu - wenn ich dreissig bin.

Die Musik hat sich verändert, klingt nun lauter, fröhlicher und verspielter. Ihre Schritte nehmen den neuen Rhythmus auf. Sie wirbeln Arm in Arm herum, fliegen über die blank gescheuerten Decksbohlen, springen, wilder und wilder, immer der Melodie folgend. Nebel hüllt die GULDEN LEEW ein, Maike hört über sich die Segel im Wind knattern. Sie fühlt sich empor gehoben, die Musik ist nun überall, lauter, Alles übertönend. Ihre Füsse tanzen auf dem schmalen Grat der Reeling, sie sieht die Schaumkronen der Wellen unter sich, Gischt schlägt ihr ins Gesicht. Doch sie ist sicher und geborgen in seinen Armen. Immer weiter nach oben zieht er sie, nun tanzen sie auf den Rahen (14). Unter ihnen blinken Teile der grossen weissen Segel auf. Maike kichert. Was für ein lustiger Tanz! Sie schmeckt die salzige Luft, der Wind zerrt und zaust an ihren Haaren, fährt ihr in die Kleider, doch sie friert nicht. Eine angenehme Wärme geht von diesem Mann aus, die sich auf sie überträgt. Dann spürt sie keinen Boden mehr, doch sie tanzen immer weiter, nur sie und er, durch den Nebel.

Ihr fällt ein, dass er noch gar nichts von sich erzählt hat. Nicht einmal seinen Namen weiss sie. Auch danach wird sie ihn fragen. Nach diesem Tanz.

***

Aus dem Polizeibericht:

„Die diesjährige HANSE SAIL wird überschattet von einem tragischen Unglücksfall. Eine junge Frau, die sich an Bord der GULDEN LEEUW befand, wird seit der Nacht von Freitag auf Samstag vermisst. Es wird vermutet, dass sie über Bord ging. Sofort eingeleitete Suchmassnahmen der Seenotrettung blieben bisher ohne Erfolg.“ Worterklärungen

(1) „Schiet!“
Sch..., Mist!

(2) HANSE SAIL - grösstes Volksfest Mecklenburg
Vorpommerns. Findet jedes Jahr am zweiten Augustwochenende in Rostock statt. Über 300 Grosssegler und unzählige kleinere Schiffe und Boote sind auf der Warnow und der Ostsee unterwegs.

(3) „Äwer man bloot de Warnow rup unn rünner, mien Fru
ward so fix seekrank“
„Aber nur die Warnow rauf und runter, meine Frau
wird so schnell seekrank.“

(4) Plattdüütsch snacken
Plattdeutsch sprechen

(5) „... mien Diern“
„... mein Mädchen“

(6) Optimist - Bootsklasse (kleine leichte Jolle, damit
lernen Kinder Segeln)

(7) „Weg Diern bet dörtig keen Keerl hett, de fin‘nt nie nich
eenen!“
„Welches Mädchen bis dreissig keinen Mann hat,
findet nie einen!“ (8) Klabautermann (von Plattdeutsch: „klabastern“ =
poltern, lärmend umhergehen) ist ein meist
unsichtbarer Kobold oder Schiffsgeist, vor allem in der
Segelschifffahrt.

(9) Watt mutt, dat mutt
Was sein muss, muss sein

(10) Schifferklavier
Akkordeon

(11) „Dörw ik bidden?“
„Darf ich bitten?“

(12) „Vertell mi vun di“
„Erzähl mir von dir!“

(13) „Ick heff ‘n niegen Arbeit för di. Hett mit Schäp to
daun.“
„Ich hab eine neue Arbeit für dich. Hat mit Schiffen zu
tun.“

(14) Rahe - Querstange beim Segelschiff, Teil der
Takelage
 

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Tanz mit dem Klabautermann

Die Möwen fliegen mit protestierendem Kreischen auf, als Maike auf ihrem Fahrrad um die Ecke schiesst, am Imbissstand vorbei, wo die Vögel an den Resten eines Fischbrötchens herumgezerrt haben. Sie ist spät dran und will nicht schon wieder eine Rüge kassieren. „Schiet!“(1) Der Fahrstuhl fährt ihr vor der Nase weg, doch anstatt zu warten, rennt sie fluchend die Treppen hinauf. Das Geschimpfe lässt allerdings von Etage zu Etage nach, denn sie braucht ihren Atem zum Laufen. Keuchend zieht sie die Tür im 7. Stock auf, streicht sich die kurzen schwarzen Haare aus der verschwitzen Stirn und beeilt sich, an ihren Schreibtisch zu kommen. Sie fährt den Computer hoch, setzt das Headset auf und meldet sich an. Zehn Uhr dreissig, zeigt der Bildschirm vor ihr. Geschafft!

„Traumsegler Rostock, Maike Övelgönne, Guten Tag, was kann ich für sie tun?“ begrüsst sie den ersten Anrufer, der zu ihr durchgestellt wird. Es ist ein älterer Herr, der bei der HANSE SAIL(2) als Gast mitfahren möchte.
„Äwer man bloot de Warnow rup unn rünner, mien Fru ward so fix seekrank“(3), schränkt er vorsichtig ein. Maike ist wieder einmal froh, dass ihre Grosseltern auch Plattdüütsch snacken(4) und sie so von klein auf gelernt hat, diese urige Sprache zumindest zu verstehen. Schnell sucht sie dem freundlichen Herrn ein paar Angebote heraus. Er hat Glück, denn die meisten Kunden wollen möglichst weit auf die Ostsee hinaus segeln und die schönen alten Segler sind längst ausgebucht. Aber eine Fahrt mit der Barkasse, bis zum Seehafen und zurück, ist genau das Richtige für ihn. „Schön Dank mien Diern“(5), verabschiedet er sich froh. Leider sind die nächsten Anrufer nicht so freundlich. Etliche werden sauer, als sie erfahren, dass die gewünschten Mitsegeltouren ausgebucht sind. Ein Berliner Anrufer unterstellt ihr gar, privat Karten unter der Hand zu überhöhten Preisen zu verkaufen.

Erleichtert geht Maike in die späte Mittagspause, froh, dem täglichen Wahnsinn für eine dreiviertel Stunde zu entrinnen. Wie immer verbringt sie diese Zeit mit ihrer besten Freundin und Kollegin Wiebke, die auch bei „Traumsegler“ arbeitet, allerdings in der Buchhaltung. Beide Frauen sind zwar gleich alt, könnten aber gegensätzlicher nicht sein. Maike ist gross, schlank und sportlich. In Jeans und weissem T-Shirt sieht sie immer ein wenig aus, wie einem amerikanischen Film entstiegen. Wiebke dagegen ist der mütterliche Typ. Klein, rundlich, mit dauergewellten Löckchen auf dem Kopf, die Maike manchmal scherzhaft als „Mutti-Frisur“ bezeichnet. Immerhin ist Wiebke ja auch Mutter zweier kleiner Kinder, fünfjähriger Zwillinge, derentwegen sie nur stundenweise Gleitzeit arbeitet.

Weil so schönes Wetter ist, holen sich die Freundinnen ein Backfischbrötchen vom Imbiss und schlendern am Stadthafen entlang. Von hier hat man einen guten Blick auf die Rostocker Altstadt, die grossen Speicher, in denen sich auch ihre Büros befinden und über die Warnow, hinüber nach Gehlsdorf. Kleine Segelboote ziehen an ihnen vorbei, Kinder mit Schwimmwesten steuern mit konzentrierter Miene ihre „Optimisten“(6) durch die Wellen.

„Au Mann, es ist fünf vor zwölf!“ entfährt es Maike plötzlich.
Wiebke schaut sie entgeistert an: „Nein, es ist dreiviertel Drei“, korrigiert sie mit einem Blick auf ihre Uhr.
„Du Huhn!“ Maike lacht. „Ich meine doch nicht die Uhrzeit. Sondern meine innere Uhr. Ich werde nächste Woche Dreissig. Und meine Oma sagt: Weg Diern bet dörtig keen Keerl hett, de fin‘nt nie nich eenen!“(7)
„Deine Oma ist in einer ganz anderen Zeit gross geworden. Die hatte mit Dreissig schon vier Kinder. Und Du bastelst noch an Deiner Karriere, hast Dich doch gerade erst um die Stelle als Abteilungsleiterin beworben.“
„Meinst Du, ich hab da eine Chance?“
„Klar! Du hast die nötigen Qualifikationen, kennst den Laden seit Jahren. Warum sollten sie Jemanden von aussen holen, wenn sie den Posten intern besetzen können?“
Maike wiegt zweifelnd den Kopf hin und her. „Bei meinem Pech sehe ich mich noch als Fünfzigjährige mit dem Headset da hocken. Und zuhause warten dann höchstens der Fernseher und sieben Katzen.“

Wiebke bleibt abrupt stehen, fasst ihre Freundin am Arm und dreht sie zu sich herum. „Jetzt hör mir mal zu. Alles wird gut! Eigentlich wollte ich Dich ja nächste Woche überraschen, aber Du brauchst die Aufmunterung wohl jetzt schon - ich hab für uns zwei Plätze auf der GULDEN LEEUW!“
„Was?“ Maike springt Wiebke vor Freude um den Hals. „Auf dem holländischen Dreimast-Topsegelschoner? Siebzig Meter lang, Eintausendvierhundert Quadratmeter Segelfläche. Ein Traum von einem Schiff!“
„Ja, ja, ich sehe, du hast Deine Hausaufgaben gemacht.“ Wiebke lacht nun auch. „Die dreihundert möglichen Partygäste hast du vergessen. Wer weiss, vielleicht findest du dort deinen Traummann.“
„Wohl eher den Klabautermann(8), aber ich freu mich trotzdem riesig. Dann segeln wir ja in meinen Geburtstag hinein.“

***

Mit gemischten Gefühlen sieht Maike dem kommenden Freitag entgegen. Einerseits freut sie sich wirklich auf die Segeltour, andererseits klingen ihr immer wieder die Worte ihrer Oma im Kopf.

***

Endlich ist es soweit. Der Freitagmorgen verspricht einen schönen Sommertag. Maike hat Frühschicht und radelt schon um halb Acht durch die Kröpeliner Tor Vorstadt, kurz KTV genannt, in Richtung Warnowufer und Stadthafen. Sie liebt dieses Viertel mit seinen alten Häusern und den schmiedeeisernen Balkonen davor. Die grossen Bäume spenden Schatten, von der Küste weht immer ein leichter oder auch stärkerer Wind und trägt den salzigen Geruch des Meeres mit sich. Bei ihrem Lieblingsbäcker hält sie kurz an und kauft zwei Hanseaten, einen für Wiebke und einen für sich. Sie war schon als Kind ganz vernarrt in diese mit Marmelade zusammengeklebten grossen Kekse, wahrscheinlich wegen der lustigen Glasur - eine Hälfte mit weissem, die andere mit rosa Zuckerguss. Im Büro bleibt noch Zeit für ein Schwätzchen mit Wiebke in der Küche. Dabei dreht sich alles um die Segeltour heute Abend. Maike wischt sich gerade die letzten Zuckergusskrümel vom Mund, da geht die Tür auf und Herr Nielsen, der Geschäftsführer kommt herein.
„Guten Morgen. Frau Övelgönne, wenn sie fertig sind, kommen sie bitte in mein Büro!“ Und schon ist er wieder draussen.
„War das jetzt gut oder schlecht?“ will Maike wissen. „Sag schon, es geht bestimmt um meine Bewerbung.“
„Denk positiv, Süsse!“ muntert die Freundin sie auf. „Geh gleich zu ihm, dann weisst Du mehr.“

Eine positiv denkende, selbstbewusst ausschreitende Maike betritt Nielsens Büro. Ein geknicktes Etwas kommt eine Viertelstunde später wieder heraus.
„Ach herje, so schlimm?“ Wiebke, die vor dem Büro gewartet hat, nimmt die Freundin in den Arm.
„Schlimmer!“ schluchzt Maike.
„Du hast die Stelle nicht bekommen?“
„Ich hab gar keine Stelle!“
„Was?“ Wiebke bleibt vor Entsetzten der Mund offen stehen. „Ist nicht wahr, oder?“
„Doch. Die ausgeschriebene Stelle wird nun doch extern vergeben. Ich wäre für die jetzige Tätigkeit überqualifiziert und würde bestimmt anderswo, meinen Fähigkeiten entsprechend...“ Der Rest geht in Schluchzen unter.

Später, in einem kleinen Kaffee am Marktplatz, mit Blick auf das siebentürmige Rathaus, sitzen die Freundinnen mit ernsten Gesichtern über ihrem Cappuccino.
„Meinst Du, es war klug, zu sagen, wenn ich schon gehen muss, dann sofort?“ Wiebke blickt ihre neue Ex-Kollegin fragend an.
„Ja, glaubst Du denn, ich bin noch motiviert, für die da irgendwas zu machen?“ Entrüstet deutet Maike mit der Hand in Richtung Stadthafen und schaut im nächsten Moment seufzend auf die kleine Plastiktüte mit persönlichen Dingen, die sie von ihrem Schreibtisch mitgenommen hat.
„Viereinhalb Jahre, und das ist Alles, was bleibt.“
„Ach nun komm, wenn die das so sehen, haben sie dich wirklich nicht verdient,“ versucht Wiebke ihre Freundin aufzumuntern. „Es kommt bestimmt etwas viel besseres.“ Sie schaut auf die Uhr. „Leider muss ich nun wirklich ins Büro. Wir sehen uns heute Abend auf der GOLDEN LEEUW und dann segeln wir Deinem neuen Glück entgegen.“
„Och, ich weiss gar nicht, ob ich dazu noch Lust habe.“
„Ich hol Dich ab, um 17 Uhr“, verspricht Wiebke. „Und keine Widerrede. Bis dahin tu Dir was Gutes.“
Sie umarmt ihre Freundin noch einmal und tippelt davon, ins Büro, zu ihren Zahlen.
Wie sehr hat Wiebke sich gefreut, sie mit dieser Segeltour zu überraschen, denkt Maike.
Watt mutt, dat mutt (9), da werd ich mich wohl mal zusammenreissen.

Bereits um halb fünf klingelt es an Maikes Tür. Sie öffnet im Bademantel, die Haare noch nass vom Duschen. „Du? Jetzt schon?
„Ich wollte sicher sein, dass Du rechtzeitig fertig bist.“ Wiebke umarmt die Freundin so herzlich, als hätten sie sich tagelang nicht gesehen. „Peter ist bei den Kindern, da konnte ich eher los.“
„Dein Mann ist ein Schatz“, seufzt Maike. „Wenn mir doch nur so Jemand begegnen würde!“

Arm in Arm bummeln sie wenig später in Richtung Warnow. Je näher sie dem Ufer kommen, um so mehr Menschen sind unterwegs. Der ganze Stadthafen ist ein einziges Volksfest. Karussels und Andenkenbuden reihen sich in bunter Abwechslung neben Bier- und Imbissständen ein. Eine schwere Wolke schwebt unsichtbar über dem Festgelände, vereint den Geruch von Pommes, Würstchen und Räucherfisch mit den Ausdünstungen von Aftershave und Sonnenöl. Das bunte Gewimmel wird von einem gewaltig hohen Riesenrad überragt wird.
„Von dort oben kann man bestimmt das Meer sehen“, ruft Maike, um das Getöse ringsum mit ihrer Stimme zu übertönen. Dabei leuchten ihre Augen vor Begeisterung. Die trüben Gedanken des Vormittags sind vergessen, jetzt sind sie hier und wollen Spass haben.

Sie lassen sich von den Menschenmassen treiben, immer am Kai entlang, wo die stolzen Segler liegen, die heute Abend noch mit ihren Gästen auslaufen werden.
Dabei kommen sie nur langsam voran, bleiben immer wieder stehen, um die Schiffe zu bewundern. Maike kennt sie alle, zumindest in der Theorie, hat unzählige Male den Kunden am Telefon davon erzählt.

Und dann betreten sie die GULDEN LEEUW. Der schöne Dreimaster hat ein riesiges Deck, auf dem sich alle Gäste gleichzeitig aufhalten können. Mit einem Glas Sekt in der Hand erkunden die Freundinnen das Schiff. Nur wenig später ertönt laut und kraftvoll die Stimme der Kapitäns, der sie mit nettem holländischen Akzent an Bord begrüsst. Die Freundinnen kichern, denn mit seinen langen blonden Haaren, der sonnengebräunten, wettergegerbten Haut und dem Ring im Ohr erinnert er sie eher an einen Rockmusiker, als an einen Käpt‘n. Als die Leinen gelöst werden und sie sich vom Ufer fort bewegen, spürt Maike, wie in ihr auch die letzte Anspannung verfliegt. Das hier ist ihr Abenteuer.

Ein leichter Wind trägt sie mit wenig Segel die Warnow hinab. Das Wasser plätschert leise. Am Ufer ziehen erst die Backsteinhäuser der Altstadt vorbei, dann die Vororte mit ihren Betonburgen. Andere Segler, grosse und kleine, nehmen den gleichen Kurs. Alle haben nur ein Ziel - hinaus aufs Meer. Möwen folgen ihnen kreischend. Überall winken fröhliche Menschen. Je näher sie der Ostsee kommen, desto frischer weht der Wind. Sie lassen den Seehafen rechts liegen, grüssen den Leuchtturm und den Teepott von Warnemünde und dann werden nach und nach alle Segel gesetzt. Weisse Gischt spritzt hoch auf, kleine Tropfen treffen die Freundinnen im Gesicht, die lachend über die Reeling schauen. Nun fliegt die GULDEN LEEUW übers Meer, die anderen, kleineren Segler hinter sich zurücklassend. Auch die Gebäude am Ufer, die Kräne der Werft im Hintergrund, werden kleiner und kleiner.

„Danke Wiebke, das ist wirklich das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich je bekommen habe“, strahlt Maike.
Musik erklingt vom Bug des Schiffes. Da steht nun ein echter Seebär mit Krausebart, Mütze und Pfeifchen im Mundwinkel. Genüsslich schmauchend spielt er alte Seemannslieder auf dem Schifferklavier (10), das er sich umgehängt hat. Das Publikum ringsum ist begeistert, die ersten Gäste beginnen tatsächlich auf dem schwankenden Deck zu tanzen.
„Komm mit!“ Wiebke zieht ihre Freundin durch die grosse Flügeltür ins Deckhaus hinein. „Da tanzen doch nur die Ollen. Lass uns mal schauen, was an der Bar los ist.“
Sie finden tatsächlich einen freien Platz und bestellen zwei Caipiriña.
„Auf Alle, die noch neunundzwanzig sind!“ Maike prostet ihrer Freundin zu.
„Auf dass Alles gut wird, wenn du dreissig bist, Süsse,“ lacht diese.

„Vielleicht war das mit den Cocktails doch keine so gute Idee.“ Wiebke ist plötzlich ganz blass.
„Oh je, wirst du etwa seekrank?“ Maike legt besorgt ihre Hand auf Wiebkes Stirn. „Ganz kalt. Komm, wir gehen an die frische Luft!“
„Nee, lass mal, da wackelt ja der ganze Horizont. Ich hab da hinten ein paar Couchen gesehen, da würde ich mich gern kurz hinlegen.“
Maike begleitet die Freundin, findet eine Decke und deckt sie vorsichtig zu.
„Besser?“
„Das wird schon. Geh du dich ruhig amüsieren, es ist dein Fest.“
„Nein, ich kann dich doch nicht allein lassen“
„Kannst du wohl. Ich bin nicht allein, schau dich doch um.“
Sie hat Recht. Mittlerweile sind die wenigen Sofas belegt und keiner der Liegenden sieht sonderlich glücklich aus. Zwei Damen der Crew gehen umher, reichen Decken und Tee.
„Ich komm gleich wieder“, verspricht Maike, als sie kurz vor Mitternacht hinaus geht.

Sie hat Glück und findet Platz auf einer der hölzernen Bänke. Das Deck ist voller Menschen, die halblaut redend und lachend umherschlendern. Maike schaut hinauf in den Sternenhimmel. Wunderschön, denkt sie. Eine tiefe Ruhe hüllt sie ein, während sie sich vom Schiff sanft über die Wellen getragen fühlt.
Der Seebär scheint sein Programm der Stimmung angepasst zu haben. Statt der Schunkel-Lieder trägt der Wind nun leise, seufzende, fast wehmütige Musik an Maikes Ohr.

„Dörw ik bidden?“(11)
Sie schreckt hoch und sieht in zwei strahlend blaue Augen. Vor ihr steht ein grosser, blonder Mann, der sie freundlich anlächelt und ihr auffordernd seine rechte Hand entgegenstreckt. Gut sieht er aus, sportlich und schlank. Maike schätzt ihn auf Mitte Dreissig. Fast automatisch ergreift sie seine Hand, die sich warm und rau anfühlt und lässt sich sanft empor ziehen.

Und dann tanzen sie. Zu diesen wundervollen Klängen, mit wiegenden Bewegungen, die sich nicht nur dem Rhythmus der Musik, sondern auch dem der Wellen anpassen. Es ist ein Wiegen und ein Wogen, fast ein Schweben. Niemand sonst hält sich mehr an Deck auf, sie sind die einzigen Tänzer. Und auch der Seebär mit dem Akkordeon ist nicht mehr zu sehen, nur die Musik klingt magisch durch die Nacht.

„Vertell mi vun di“(12), bittet der Fremde sie mit sanfter Stimme, während er sie fest und sicher in seinen Armen hält. Tief in sich spürt Maike ein Vertrauen zu ihm, eine Wärme, die sie nicht erklären kann. Als wären sie sich schon einmal begegnet. Und so beginnt sie von sich zu erzählen. Von ihrer Liebe zum Meer und zu den Schiffen, von ihrem Job, den sie gerade verloren hat und selbst davon, dass sie immer noch auf der Suche ist, nach dem Einen, dem Richtigen. Mit einem Lächeln fügt sie den Spruch ihrer Oma hinzu:
„Weg Diern bet dörtig keen Keerl hett, de fin‘nt nie nich eenen!“(7)
Es ist kein Klagen, eher ein von der Seele Reden. Für Maike fühlt es sich richtig an, ihn das Alles wissen zu lassen.

„Ick heff ‘n niegen Arbeit för di. Hett mit Schäp to daun“(13). Dabei sieht er sie erwartungsvoll an. Sie hält seinem Blick stand, verliert sich in der Tiefe seiner blauen Augen, in denen sich das Meer zu spiegeln scheint, obwohl um sie herum längst schwarze Nacht ist.
„Das hört sich spannend an. Du musst mir unbedingt mehr davon erzählen.“ Maike lacht. „Nach diesem Tanz.“ Und in Gedanken fügt sie hinzu - wenn ich dreissig bin.

Die Musik hat sich verändert, klingt nun lauter, fröhlicher und verspielter. Ihre Schritte nehmen den neuen Rhythmus auf. Sie wirbeln Arm in Arm herum, fliegen über die blank gescheuerten Decksbohlen, springen, wilder und wilder, immer der Melodie folgend. Nebel hüllt die GULDEN LEEW ein, Maike hört über sich die Segel im Wind knattern. Sie fühlt sich empor gehoben, die Musik ist nun überall, lauter, Alles übertönend. Ihre Füsse tanzen auf dem schmalen Grat der Reeling, sie sieht die Schaumkronen der Wellen unter sich, Gischt schlägt ihr ins Gesicht. Doch sie ist sicher und geborgen in seinen Armen. Immer weiter nach oben zieht er sie, nun tanzen sie auf den Rahen (14). Unter ihnen blinken Teile der grossen weissen Segel auf. Maike kichert. Was für ein lustiger Tanz! Sie schmeckt die salzige Luft, der Wind zerrt und zaust an ihren Haaren, fährt ihr in die Kleider, doch sie friert nicht. Eine angenehme Wärme geht von diesem Mann aus, die sich auf sie überträgt. Dann spürt sie keinen Boden mehr, doch sie tanzen immer weiter, nur sie und er, durch den Nebel.

Ihr fällt ein, dass er noch gar nichts von sich erzählt hat. Nicht einmal seinen Namen weiss sie. Auch danach wird sie ihn fragen. Nach diesem Tanz.

***

Aus dem Polizeibericht:

„Die diesjährige HANSE SAIL wird überschattet von einem tragischen Unglücksfall. Eine junge Frau, die sich an Bord der GULDEN LEEUW befand, wird seit der Nacht von Freitag auf Samstag vermisst. Es wird vermutet, dass sie über Bord ging. Sofort eingeleitete Suchmassnahmen der Seenotrettung blieben bisher ohne Erfolg.“



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Worterklärungen

(1) „Schiet!“
Sch..., Mist!

(2) HANSE SAIL - grösstes Volksfest Mecklenburg
Vorpommerns. Findet jedes Jahr am zweiten Augustwochenende in Rostock statt. Über 300 Grosssegler und unzählige kleinere Schiffe und Boote sind auf der Warnow und der Ostsee unterwegs.

(3) „Äwer man bloot de Warnow rup unn rünner, mien Fru
ward so fix seekrank“
„Aber nur die Warnow rauf und runter, meine Frau
wird so schnell seekrank.“

(4) Plattdüütsch snacken
Plattdeutsch sprechen

(5) „... mien Diern“
„... mein Mädchen“

(6) Optimist - Bootsklasse (kleine leichte Jolle, damit
lernen Kinder Segeln)

(7) „Weg Diern bet dörtig keen Keerl hett, de fin‘nt nie nich
eenen!“
„Welches Mädchen bis dreissig keinen Mann hat,
findet nie einen!“ (8) Klabautermann (von Plattdeutsch: „klabastern“ =
poltern, lärmend umhergehen) ist ein meist
unsichtbarer Kobold oder Schiffsgeist, vor allem in der
Segelschifffahrt.

(9) Watt mutt, dat mutt
Was sein muss, muss sein

(10) Schifferklavier
Akkordeon

(11) „Dörw ik bidden?“
„Darf ich bitten?“

(12) „Vertell mi vun di“
„Erzähl mir von dir!“

(13) „Ick heff ‘n niegen Arbeit för di. Hett mit Schäp to
daun.“
„Ich hab eine neue Arbeit für dich. Hat mit Schiffen zu
tun.“

(14) Rahe - Querstange beim Segelschiff, Teil der
Takelage
 



 
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