Tassilo Sauertopf

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Sammis

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Tassilo Sauertopf

Wenn Tassilo Sauertopf früh morgens in seinem Bett aufwachte, tat er das stets schlecht gelaunt. Es ärgerte ihn, wenn er zu früh aufwachte, geradeso als wenn er verschlief. So oder so blieb er stets noch lange im Bett liegen und ärgerte sich, weil es ihm unter der Bettdecke zu warm war oder die Vögel draußen vor dem Fenster zu laut zwitscherten. Tassilo mochte grundsätzlich nicht aufstehen. Völlig egal ob nun zu früh, zu spät oder zur rechten Zeit. Denn für Tassilo gab es nichts, was ihn erwartete, und somit keinen Grund einen neuen Tag zu beginnen, über den er sich ohnehin nur ärgern würde.
Wenn Tassilo dann doch irgendwann aufstand, geschah das unter Garantie mit dem falschen Fuß voraus. Tassilo stolperte über den kratzigen Teppich vor seinem Bett, stieß sich das Schienbein an der Kommode neben der Tür und fand den Lichtschalter nicht. Im Badezimmer angelangt war die Klobrille eiskalt und das Klopapier war selbstredend bis aufs letzte Blatt aufgebraucht.

Als Tassilo sich heute mit viel zu kaltem Wasser die Hände wäscht, bleibt ihm vor Schreck beinahe das Herz stehen. Was war das für ein entsetzliches Geräusch? „Uah!“, entfährt es Tassilo, da ist es schon wieder. Erst beim dritten Läuten verstand er, dass jemand bei ihm klingelt. Es muss Jahre her sein, als er das Klingeln zuletzt gehört hatte. Jedenfalls so lange, dass er es jetzt nicht sofort wiedererkannte. Mit den Händen unter dem rauschenden Wasserstrahl bleibt Tassilo wie gebannt stehen. Er traut sich kaum zu atmen und lauscht - jetzt aber bleibt es still. Hatte er sich etwa getäuscht? Hatte es gar nicht geklingelt und er es sich nur eingebildet?
POCH! POCH! POCH! Tassilo schreckt erneut zusammen. Eben klopfte jemand energisch an seine Haustüre und das bildet er sich ganz sicher nicht ein. Wer um alles in der Welt mag das sein? Nur mit Mühe gelingt es Tassilo sich aus seiner Erstarrung zu lösen. POCH! POCH! POCH! Schon wieder hämmert jemand gegen die Tür und dieses Mal noch viel lauter. Tassilo bekommt es mit der Angst zu tun. Langsam, ganz langsam bewegt er sich aus dem Badezimmer und schleicht dann auf Zehenspitzen den Flur entlang. Fast bei der Haustür angekommen fällt ihm das kleine Loch im oberen Drittel der Tür auf. Ein Türspion. Ein kleines, mit einem Vergrößerungsglas versehenes Loch, durch welches man unerkannt nach draußen sehen kann. Tassilo war gar nicht bekannt, dass es so etwas in seiner Haustür gibt. Es war ihm bisher nie aufgefallen, jetzt ist er jedoch sehr froh darüber, dass es da ist. Rasch huscht er die letzten Schritte bis zur Tür und lugt dann sogleich durch den Spion nach draußen. Aber da ist ja gar niemand. Dank des Vergrößerungsglases im Loch kann er den Großteil des Platzes vor seinem Haus einsehen. Und da ist weit und breit niemand zu sehen. „Hmm“, macht Tassilo. „Keiner da“, sagt er leise zu sich selbst. „Doch!“, tönt es von draußen und Tassilos Herz setzt vor Schreck einen Schlag aus. Tassilo stellt sich auf Zehenspitzen, da er glaubt, die Stimme von weiter unten vernommen zu haben. Doch so sehr er sich auch müht, er kann einfach niemanden entdecken.
„Ich bin hier“, kommt es von draußen, und jetzt kann Tassilo tatsächlich etwas sehen. Einen Haarschopf. Einen blonden Haarschopf, der am untersten Rand seines Sichtfeldes auftaucht und sofort wieder verschwindet. Da ist er wieder. Und schon ist er wieder weg. Da. Weg. Da. Weg. Jemand sehr kleines hüpft vor Tassilos Haustüre auf und ab, weil er ansonsten nicht zu sehen wäre.
„Willst du mir nicht aufmachen“, sagt dieser jemand und hüpft nun nicht mehr. Nein! Tassilo will ganz sicher nicht aufmachen. „Was willst du denn von mir?“, fragt er mit zitternder Stimme.
„Na rein will ich“, kommt es sogleich zurück. „sonst würde ich doch nicht fragen, ob du mir aufmachst?“ Nun gut, denkt Tassilo, mag schon sein. Nur warum ausgerechnet bei mir?
„Lässt du mich nun rein“, kommt es von draußen, „oder nicht?“ Tassilo überfordert die Situation komplett. Er will, wen auch immer, ganz sicher nicht hereinlassen. Dennoch gerät er ins Grübeln. Die Stimme klang freundlich und wurde keineswegs ungehalten oder gar zornig, obwohl Tassilo sich sehr viel Zeit lässt und nicht antwortet. „Ich kann morgen wieder kommen, falls dir das besser gefällt“, sagt die Stimme und fügt rasch hinzu: „Jetzt wäre es mir jedoch lieber.“ Tassilo bricht der Schweiß aus, als er dabei zusieht, wie sich seine Finger um den im Schlüsselloch steckenden Schlüssel legen, ihn herumdrehen und dadurch die Tür entriegeln. Dann legt sich seine Hand wie von selbst auf die Türklinke und drückt sie nach unten. Die Tür springt einen winzigen Spalt weit auf und Tassilo verlässt der Mut. Kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn und seine Augen sind weit aufgerissen. Warum um alles in der Welt hat er das getan? Warum hat er jemand völlig fremden die Tür geöffnet? Aber noch ist es nicht zu spät. Noch könnte er sie rasch wieder zuschieben und verriegeln.
„Darf ich?“, fragt die Stimme vorsichtig, „darf ich reinkommen?“ Tassilo versteht nicht warum, aber plötzlich weicht alle Furcht von ihm und verschwinden alle Zweifel. Er tritt zwei Schritte von der Tür zurück und sag: „Ja, bitte.“

Während sich der Türspalt langsam vergrößert, hämmert Tassilos Herz wie wild in seiner Brust.
„Hallo!“, sagt ein Kind mit freundlichen blauen Augen.
„Hallo“, sagt auch Tassilo und versteht nicht, was vor sich geht. Eigentlich müsste er sich doch ärgern, weil jemand vollkommen fremder ihn früh am Morgen unangemeldet aufsucht und seine Ruhe stört. Aber so ist es nicht. Es stört Tassilo keineswegs, dass der kleine Wuschelkopf mit den pechschwarzen, schulterlangen Locken vor ihm steht und ungemein herzlich aus kastanienbraunen Augen zu ihm aufschaut. Moment mal! Hatte der Knirps nicht eben noch blonde Haare und Blaue Augen?
„Was machst du?“, fragt der Junge und sein nun beinahe gänzlich glattes Haar schimmert mehr und mehr Rotbraun.
„Wah, w, was?“, stottert Tassilo und muss ungläubig mitansehen, wie plötzlich feuerrote, nach allen Seiten abstehende Haare ein auffallend blasses, jedoch immer noch freundlich dreinblickendes Gesicht umranden, aus welchem ein Paar unerhört hell leuchtend grüne Augen strahlen, wie Tassilo sie zweifelsfrei nie zuvor gesehen hat.
„Na was machen wir jetzt?“, fragt ihn das kleine Mädchen mit den kurzen blonden Zöpfen, auf dessen Stupsnase unzählige Sommersprossen tanzen. Tassilo glaubt den Verstand zu verlieren. Die winzigen goldbraunen Punkte auf ihrer Nase schwanken von links nach rechts und zurück. Dann drehen sie sich umeinander und verschmelzen letztlich miteinander, sodass am Ende ein dunkelhäutiges Mädchen mit tiefschwarzer Krause vor ihm steht.
„Wie machst du das?“, fragt Tassilo verstört.
„Was denn?“, fragt ein hellhäutiges Mädchen mit blondem Scheitel verwundert dreinblickend zurück.
„Na das!“, quiekt Tassilo, wobei ihm die Stimme entgleitet und er mit großen Augen und ausgestrecktem Arm auf das immer rascher schrumpfende Haar des Jungen deutet, der nun beinahe wieder so aussieht wie zu Beginn.
„Ach das“, sagt der Junge, das Mädchen, nein der Junge, nein das Mädchen. Die Gestalt des Kindes wandelt sich in immer schnellerem Tempo, was Tassilo erneut den Schweiß auf die Stirn treibt und er weiche Knie bekommt. Rote, braune, blonde, schwarze Haare. Lange, kurze, glatte oder lockige Haare. Grüne, graue, braune oder blaue Augen. Mädchen, Junge, Mädchen, Junge, Mädchen … „Stopp!“, schreit Tassilo. „Aufhören! Bitte aufhören!“
„Schließ deine Augen“, sagt das flackernde Kind, von dem man nicht länger sagen kann, ob es blond oder dunkelhaarig ist, blau oder braunäugig, Mädchen oder Junge. Tassilo folgt dieser Aufforderung nur allzu gern und schlägt sich die Hände vor die Augen.
„Du musst dich entscheiden“, sagt das Kind ruhig.
„Was?“, fragt Tassilo und versteht nicht, was es damit sagen will.
„Na wie ich aussehen soll“, erklärt das Kind. „Solange du dich nicht entscheidest, geht das endlos so weiter.“
„Dann wie zu Beginn“, sagt Tassilo rasch, „so, wie du reingekommen bist.“
„Okay“, kommt es knapp und bestätigend zurück.
„War’s das?“, fragt Tassilo ungläubig und hält seine Augen vorsichtshalber weiterhin geschlossen.
„Ja“, die prompte Antwort.
„Ganz sicher? Schon fertig?“, vergewissert sich Tassilo nochmals mit zitternder Stimme.
„Ja, alles gut“, versichert ihm das Kind, „du kannst wieder gucken.“ Zögerlich nimmt Tassilo die Hände von seinen Augen und öffnet sie. Tatsächlich. Jetzt steht wieder der Knirps vom Anfang vor ihm, mit den blonden Haaren, den leuchtend blauen Augen und dem freundlich lächelnden Gesicht. „Und was machen wir jetzt?“, fragt er Tassilo unbeschwert, so als wäre nichts gewesen.
„Wer bist du?“, entgegnet Tassilo verdutzt.
„Wer möchtest du denn, dass ich bin?“, fragt der Junge zurück. Tassilo schaut den kleinen unschlüssig an und hat sogleich das Gefühl, dass sich dessen Haar- und Augenfarbe erneut zu ändern beginnen. „Nein!“, entfährt es ihm und er schließt sofort seine Augen, „nicht schon wieder!“
„Wie soll ich heißen?“, will der Junge nun wissen.
Tassilo überlegt. „Jo-“, sagt er und verstummt mitten im Wort und denkt dabei an seinen Onkel Johann, den er als Kind sehr gemocht hatte. „Nein, Ma-“, sagt er dann und unterbricht sich mitten im Satz, während er an Tante Maria denkt, mit der er als kleiner Junge oft und gern gespielt hat. „Gut“, reißt ihn die Stimme des Jungens aus seinen Gedanken. „Joma also. Gefällt mir. Dann heiße ich ab jetzt Joma.“ Tassilo will zunächst protestieren, schon allein alten Gewohnheiten wegen, weil es ihn ärgerte, dass der Junge ihn inmitten seiner Überlegungen unterbrochen hat. Aber Joma gefällt ihm ebenso und der Junge strahlt ihn so herzerfrischend freundlich an, dass es Tassilo unmöglich erscheint, ihm jemals böse sein zu können.
„Und wie heißt du?“, will Joma jetzt wissen.
„Ich bin Tassilo“, sagt Tassilo und versucht dabei einen ernsten Ton anzuschlagen. „Tassilo Sauertopf, um genau zu sein. Und jetzt würde mich doch sehr interessieren, was du von mir willst.“
„Gar nichts“, erwidert Joma und schiebt sich an Tassilo vorbei ins Haus. Tassilo folgt ihm auf dem Fuß und solange er dem kleinen nicht ins Gesicht blicken muss, gelingt es ihm sogar ein kleinwenig ärgerlich zu werden. „Aber man kommt doch nicht einfach so in das Haus eines Fremden und will dann nichts wollen. Ähm, will nicht irgendwas, ähm, na du weiß schon! Das kannst du mir nicht erzählen!“ In Tassilos Ohren klang seine Stimme nun richtig ärgerlich und das tat gut. Lauttönend stapft er hinter Joma drein und verspürt große Lust sich in Rage zu reden. Abrupt bleibt Joma stehen und dreht sich zu Tassilo um. „Kann ich wohl“, sagt Joma, ohne Spott oder Hintergedanken. „Pass auf: Ich will überhaupt nichts wollen und bin trotzdem hier bei dir.“ Der kleine Junge lacht so aufrichtig und ansteckend, dass Tassilo nicht umhin kommt selbst zu lachen. Eigenartiger Weise ärgert es ihn überhaupt nicht, dass der Junge ihn nachäfft. Vielleicht weil er das genau genommen gar nicht tat. Tassilos Versprecher war lustig und allein darum lachte Joma. Aus keinem anderen Grund. Eigenartiger Weise steht das für Tassilo außer Frage, weswegen er mit ihm lachen kann. Tassilo lacht lauthals über sich selbst. Das hatte er nie zuvor getan und es tat richtig gut.
Im Wohnzimmer angekommen lachen die beiden noch immer, bis Joma prustend fragt: „Wo sind deine Spielsachen?“
„Meine Spielsachen?“, wiederholt Tassilo die Frage. „Ich fürchte, ich habe überhaupt gar keine.“
„Überhaupt gar keine?“, wiederholt Joma und klingt dabei ernsthaft erschüttert. „Aber du musst doch spielen“, sagt er aus tiefster Überzeugung, „du musst doch mit irgendwas spielen!“
„Nein“, erwidert Tassilo und das Lachen gefriert ihm im Gesicht. „Ich fürchte, ich habe wirklich nichts zum Spielen im Haus.“
„Das glaube ich nicht“, sagt Joma verblüfft. „Aber du brauchst dich nicht zu fürchten, wir finden schon etwas.“ Schon blickt Joma wieder heiter drein, während er sich im Zimmer umsieht. „Was ist das da?“, will er wissen und deutet mit dem Finger auf den Wohnzimmerschrank. „Sind das Bücher? Das sind doch keine Bücher, oder? Die sehen komisch aus.“ Joma läuft zum Schrank und Tassilo folgt ihm. „Du hast recht“, erklärt Tassilo, „das sind keine Bücher, das sind VHS Kassetten.“
„VHwas Kassetten?“, fragt Joma und schnappt sich eine davon.
„S. VHS“, erläutert Tassilo, „Video Home System. Und sei bitte vorsichtig damit, die sind schon sehr alt. Damit spielt man nicht.“
„Ach nicht?“, fragt Joma grinsend und behält die Kassette in Händen. „Und was macht man damit?“, will er wissen.
„Man steckt sie in den Videorekorder und sieht sie sich an“, sagt Tassilo bestimmt.
„Ach so“, sagt Joma und fragt: „Und wo ist der Videodingsda?“
„Videorecorder“, verbessert ihn Tassilo und seine Stimme klingt angespannt. „Ich habe keinen“, führt er aus.
„Ach nicht?“, fragt Joma verwundert.
„Nein“, bestätigt Tassilo knapp.
„Hm“, macht Joma. „Komische Bücher, die nur für ein Dingsda da sind, das man nicht hat“, murmelt er grüblerisch, während er die Kassette aus der Hülle nimmt. „Hm“, macht er noch einmal und schaut Tassilo direkt an. Tassilo zögert einen Augenblick, ehe er kleinlaut eingesteht: „Du hast ja recht. Das ist albern. Ich habe die Dinger schon seit Jahren nicht mehr angefasst.“ Joma grins breit und schnappt sich ein paar weitere Kassetten. „Schau mal“, sagt er und stapelt die Bänder aufeinander, „das sind doch prima Bauklötze. „Und guck mal hier, das ist ja lustig!“ Tassilo stockt der Atem. Joma hat eine weitere Kassette aus der Hülle genommen, die Klappe geöffnet und das Magnetband im hohen Bogen herausgezogen. Kurz ist Tassilo versucht sich fürchterlich aufzuregen, besinnt sich dann jedoch eines anderen und ruft lachend: „Ach was soll’s!“

Zwei Stunden später thront auf Tassilos Wohnzimmertisch eine stattliche Pyramide, bestehend aus weit über 100 Videokassetten. Verziert ist das Kunstwerk mit reichlich Bandsalat und im Ganzen wirklich schön anzusehen. Jetzt begleitet Tassilo Joma zur Haustür, da der Junge vor kurzem verkündet hatte, dass er nun gehen müsse.
„Das war lustig“, sagt Joma in der offenen Tür stehend, und die Freude steht ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Ja“, stimmt Tassilo zu, „das hat wirklich Spaß gemacht.“
„Tschüss Tassilo!“, ruft Joma über die Schulter und ist schon bis zum Gartentürchen gelaufen.
„Tschüss Joma!“, ruft Tassilo ihm nach und fügt rasch hinzu: „Kommst du morgen wieder?“ Aber da ist der kleine Junge schon um die Ecke verschwunden und Tassilo bleibt ohne Antwort zurück.

Am Tag darauf, das war Dienstag, kam Joma nicht wieder. Er kam nicht am Mittwoch und ließ sich auch donnerstags nicht blicken. Am Freitag war Tassilo sehr verzweifelt, weil er davon überzeugt war, den Jungen niemals mehr wiederzusehen. Jeden einzelnen Tag, die ganze Woche über, hatte er von früh bis spät auf Joma gewartet und doch von Anfang an bezweifelt, dass der Junge wiederkommen würde. Das bisschen Zeit, dass sie am Montag miteinander verbracht hatten, hatte Tassilo so viel Spaß gemacht, dass ihm schon bald drauf klar wurde, dass ihm solch eine Freude nicht noch einmal vergönnt sein würde. Warum auch sollte ein lebensfroher Junge wie Joma mit ihm Zeit verbringen wollen? Langweilig und miesepetrig, wie er nun einmal ist. Nein, er würde Joma nicht wieder sehen, das stand für Tassilo außer Frage.
Freitagabend legte Tassilo sich sehr früh schlafen. Den Großteil des Tages hatte er ohnehin im Bett verbracht, lediglich zwei Mal war er zum Klo gegangen und ein paar wenige Male mehr zum Küchenfenster, von wo aus er den Vorgarten bis hin zur Straße hin einsehen konnte. Aber Joma zeigte sich auch heute nicht.
Jetzt zieht Tassilo die Bettdecke über seinen Kopf und presst sich die Hände auf die Ohren. Tassilo möchte nichts hören oder sehen. Er ist enttäuscht, entmutigt und verärgert. Und er ist traurig. Tassilo ist so traurig, dass er unter der Bettdecke zu weinen beginnt. „War ja klar“, schnieft er, „war von Anfang an sonnenklar! Joma wird nicht wiederkommen.“ Dicke Tränen laufen über Tassilos Wangen, nie zuvor empfand er die Welt so ungerecht. Aber ich kann es ihm nicht verübeln, denkt Tassilo, es hat ihm einfach keinen Spaß mit mir gemacht. Wie auch? Ich habe ja noch nicht einmal richtiges Spielzeug. Bitterlich weint Tassilo, bis es draußen dunkel und er müde wird. Kurz bevor Tassilo einschläft, flüstert er in die Finsternis: „Ich wünschte, du wärst jetzt hier bei mir Joma.“
„Schläfst du schon?“
Tassilo setzt sich ruckartig im Bett auf und wirft die Bettdecke von sich.
„Bist du schon müde? Ich nicht“
Tassilo kann überhaupt nichts sehen, so dunkel ist es im Zimmer.
„Fürchtest du dich im Dunklen? Also ich nicht. Obwohl, ein bisschen unheimlich ist es schon.“
Tassilo springt aus dem Bett und ist mit drei großen Schritten bei der Tür. Er betätigt den Lichtschalter und die Lampe an der Zimmerdecke flammt auf. Tassilos Augen benötigen ein, zwei Sekunden bis sie sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnen. Mitten im Zimmer steht Joma. „Das ist besser“, sagt er. Tassilo möchte jetzt eigentlich erfahren, wie Joma hereingekommen ist. Anstatt sagt er jedoch: „Schön, dass du hier bist!“
„Schön, dass du hier bist!“, erwidert Joma und Tassilo kann sehen, dass der Junge das auch genau so meint. „Aber warum hast du mich so lange warten lassen?“, platzt es aus Tassilo heraus.
„Hab ich doch gar nicht“, antwortet Joma.
„Aber ich warte doch schon die ganze Woche über auf dich!“, sagt Tassilo leicht vorwurfsvoll.
„Und warum hast du das nicht früher gesagt?“, erwidert Joma. „Ich wäre sofort gekommen.“
Tassilo möchte Joma sagen, dass er das sehr wohl getan hat. Die ganze Woche über. Jeden Tag. Jede einzelne Stunde. Dennoch bleibt Tassilo stumm. Er sagt nichts, weil das genau genommen nicht stimmt. Er hatte die ganze Zeit über daran gezweifelt. Nein, schlimmer noch, er war die ganze Woche davon überzeugt gewesen, dass Joma nicht kommen wird. Er hat schwarzgemalt. Er war vom Schlimmsten ausgegangen, ganz so, wie er es immer tat. Joma hat recht. Erst vor wenigen Minuten hatte er sich tatsächlich gewünscht, dass der Junge kommen solle. Und schon war Joma erschienen. Nun aber schiebt Tassilo die dunklen Gedanken von sich und freut sich aufrichtig, da Joma nun endlich bei ihm ist. „Was möchtest du machen?“, fragt er den Jungen.
„Weiß nicht“, antwortet Joma, „was möchtest du denn machen?“
Tassilo überlegt kurz und sagt dann wahrheitsgemäß: „Ich habe einen Bärenhunger. Ich möchte etwas essen.“
„Ich auch“, sagt Joma. „Ich habe auch Bärenhunger. Mindestens! Oder Elefantenhunger!“
„Blauwaalhunger!“, sagt Tassilo lachend.
„Dinosaurierhunger!“, sagt Joma triumphierend.
„Ja“, stimmt Tassilo zu, „Dinosaurierhunger. Mehr Hunger geht nicht.“
Lachend marschieren die beiden in Tassilos Küche und knipsen unterwegs sämtliche Lichter an. „Was möchtest du essen Joma?“, fragt Tassilo beim Kühlschrank angekommen.
„Was ist denn da?“, will Joma wissen.
„Mal sehen“, sagt Tassilo und öffnet den Kühlschrank. „Da sind Würstchen“, sagt Tassilo und Joma ruft: „Ja!“
„Und wir haben Pudding“, sagt Tassilo, worauf Joma seine Hände ausstreckt und erneut Ja! ruft. Tassilo sieht Joma leicht verwundert an, reicht ihm jedoch beides. Der Junge setzt sich mit Pudding und Würstchen an den Küchentisch und fragt: „Was hast du noch?“
Tassilo überlegt scharf und zählt auf: „Brot, Essiggurken, ähm, Honig und ein Rest Kuchen ist auch noch da.“
„Lecker!“, sagt Joma und schaut Tassilo voll Vorfreude an.
„Das möchtest du jetzt alles haben?“, fragt Tassilo ungläubig.
„Ja?“, bestätigt Joma mit leuchtenden Augen und fügt hinzu: „Dinosaurierhunger!“

Nachdem sie nahezu alles verputzt haben, gehen die beiden ins Wohnzimmer, wo inmitten noch immer die Pyramide aus Videokassetten steht. „Willkommen zurück in Ägypten“, sagt Tassilo spaßeshalber und Joma sieht ihn fragend an. „Na wegen der Pyramiden dort“, sagt Tassilo, „die Königsgräber uns so, du weißt schon.“
„Nein“, sagt Joma, „weiß ich nicht schon.“
„Weißt du nicht?“, fragt Tassilo verwundert. „Du kennst die Pyramiden in Ägypten nicht?“
„Nein“, verneint Joma noch einmal, „Püromiemen kenne ich nicht und in Ägüpdings war ich auch noch nicht. Du schon? Wo ist denn das?“
„Hm, ja, nein. Also dort war ich auch noch nicht. Aber ich kenne Bilder und-“
„Wollen wir da jetzt hingehen?“, unterbricht ihn Joma mitten im Satz.
„Na ja“, entgegnet Tassilo, „toll wäre das schon. Aber so einfach geht das nicht. Ägypten ist ganz schön weit. Da müssten wir einen Flug buchen und das kostet Geld. Und man braucht einen Reisepass und-“
„Aber du würdest da jetzt gern mit mir hingehen, oder?“, unterbricht ihn Joma erneut mit vor Tatendrang leuchtenden Augen.
„Ja schon, aber wie gesagt-“
„Toll!“, sagt Joma und dann macht es Rums!
Plötzlich ist es stockfinster um die beiden und Tassilo wird ruckartig nach hinten gerissen. In seinen Ohren tost lautes Rauschen und eine einzige Sekunde später ist alles in gleißendes Licht getaucht. Tassilo hat das Gefühl durch die Luft geschleudert zu werden, um dann urplötzlich unsanft mit dem Hintern in warmem Sand zu landen. Mit offenstehendem Mund sitzt Tassilo mit weit aufgerissenen Augen neben Joma und kann nicht glauben, was er sieht.
„Ganz schön groß“, sagt Joma mit in den Nacken gelegtem Kopf. Tassilo streckt zögerlich seinen rechten Arm aus. Seine Fingerspitzen berühren tatsächlich den ersten Stein einer unfassbar hohen Pyramide, die sich unmittelbar vor ihnen scheinbar bis in den Himmel hinauf auftürmt. „Ist das?“, stammelt er, „sind wir etwa in?“
„Ja“, bestätigt Joma knapp, „ist es und sind wir.“ Joma springt auf und klettert auf die erst Stufe.
„Aber wie ist das möglich?“, fragt Tassilo halb fasziniert, halb entsetzt.
„Keine Ahnung“, antwortet Joma unbekümmert, „ist doch egal! Wir sind hier, also komm!“ Tassilo sitzt noch immer ungläubig dreinschauend auf seinem Hintern im Wüstensand, unfähig sich zu bewegen.
„Komm!“, sagt Joma noch einmal und streckt ihm die Hand entgegen. Tassilo ergreift sie und lässt sich von dem Jungen auf die Beine helfen.

Zwanzig Minuten später haben die beiden einen Bruchteil der schier unzähligen Steinstufen erklommen und dennoch schon eine beachtliche Höhe erreicht. „Ist das nicht wunderbar!“, ruft Joma, der Tassilo die ganze Zeit über ein bis zwei Stufen voraus ist.
„Wahnsinn“, antwortet Tassilo außer Atem, bemüht nicht noch weiter zurückzufallen.
„Und das da unten ist alles Ägüpdings?“, will Joma wissen. Tassilo schließt zu dem Jungen auf und setzt sich auf die Kante der Stufe. „Ja“, sagt er, „es ist ganz und gar unfassbar, aber das da unten ist wahrhaftig Ägypten.“
„Toll“, sagt Joma und macht sich sogleich daran, die nächste Stufe zu erklimmen.
„Weißt du was“, ruft Tassilo ihm nach, „sieh du dir denn Rest an, ich warte hier auf dich.“
„Aber möchtest du gar nicht wissen, was da oben ist?“, fragt Joma verwundert.
„Doch, schon“, antwortet Tassilo, „aber das ist viel zu anstrengend für mich, dafür bin ich wohl nicht mehr jung genug.“
Joma kehrt zu Tassilo zurück und fragt: „Wie jung müsstest du denn sein, damit du mit mir bis ganz nach oben klettern kannst?“
„Also früher, so in deinem Alter-“ Tassilo zögert, ehe er weiterspricht. „Du wirst mich jetzt aber nicht in einen sieben jährigen Jungen verwandeln?“, sagt er leicht erschrocken.
„Möchtest du das denn?“, fragt Joma.
„Nein!“, antwortet Tassilo bestimmt und ohne zu zögern. „Warum bist du hier?“, fragt Tassilo Joma dann mit ernster Miene.
„Na um mir die Püramiemen anzugucken“, antwortet Joma.
„Nein“, sagt Tassilo, „das mein ich nicht. Ich meine, warum bist du zu mir gekommen und machst all die wunderlichen Dinge mit mir?“
„Weiß nicht“, antwortet der Junge wahrheitsgemäß. „Das musst du schon selbst wissen. Ich bin ja deinetwegen hier.“

Als Tassilo früh morgens die Augen aufmacht, kann er bei bestem Willen nicht mit Gewissheit sagen, ob er alles nur geträumt hat oder er tatsächlich vergangene Nacht in Ägypten war. Die Sonne scheint hell ins Zimmer und draußen vor seinem Fenster zwitschern ausgelassen die Vögel. Tassilo steht auf, geht zur Haustür und öffnet sie. Barfuß läuft er ein paar Schritte in den Garten hinaus und sieht sich um. Das scheint ein herrlicher Tag zu werden, denkt er und geht frohen Mutes zurück ins Haus. In der Küche angelangt fragt Tassilo: „Joma?“
„Ja“, hört Tassilo den Jungen antworten, obgleich weit und breit niemand zu sehen ist. „Was möchtest du frühstücken?“, fragt Tassilo seinen neu gewonnenen Freund, den es genau genommen gar nicht gibt.
„Na alles, was du da hast“, antwortet Tassilo Sauertopf lachend sich selbst.

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