Taufe

eli-fant

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"Hast du ihn vorher auch nochmal gestillt?" fragte Großtante Mathilde. Ihre Stimme klang besorgt.
"Ja, natürlich habe ich ihn gestillt!" Die junge Mutter, die den in weiße Spitzen gekleideten Säugling auf dem Arm hielt, versuchte, ihre Gereiztheit zu verbergen.
"Und gewickelt? Ist er frisch gewickelt?"

Die Taufgesellschaft stand wartend auf der Treppe vor dem Kirchenportal. Es war ein kalter, windiger Oktobernachmittag.
"Kann man denn da nicht reingehen?" erkundigte sich Onkel Bernd ungeduldig. "Es ist doch Unsinn, bei diesem Wetter hier draußen rumzustehen!"
Er ärgerte sich, daß er sich überhaupt hatte überreden lassen, an der Feier teilzunehmen. Er hielt nichts von Dingen, die mit Kirche und Religion zu tun hatten. Am heutigen Nachmittag hätte er wahrlich Sinnvolleres zu tun gehabt.
"Nein, wir können noch nicht in die Kirche." erklärte der Vater des Täuflings. "Der Pfarrer holt uns hier am Portal ab und dann ziehen wir gemeinsam feierlich bei Orgelmusik in die Kirche ein."
"Aha" sagte Onkel Bernd ungeührt. Er schlug seinen Mantelkragen in die Höhe und zog die Schultern hoch.
"Kälte hin oder her - jedenfalls wird das Kind im RICHTIGEN Glauben getauft!" sagte Großmutter Sophie laut, wobei sie einen vernichtenden Blick auf ihren zweiten Schwiegersohn warf, der etwas abseits der Gruppe am Fuß der Treppe stand. Er war evangelisch.
Währenddessen raunte Großtante Mathilde ihrer Schwester Emilie zu: "Gibt's da nachher bloß Kaffee oder sind wir auch zum Abendessen eingeladen?"
"Angebracht wäre ein Abendessen ja schon," flüsterte Emilie zurück, "nachdem einige von uns ja von weither angereist sind. Aber ich nehme an, wir werden mit Kaffee und einem Stück Kuchen abgespeist werden. Die jungen Frauen heutzutage" - sie warf einen kurzen Blick auf die Mutter des Säuglings - "halten nicht mehr so viel von Arbeit, wie wir früher."

Im selben Moment öffnete sich das Kirchenportal und der Pfarrer erschien, neben sich zwei in braune Kutten gekleidete Ministranten, ein Mädchen und einen Jungen.
Der Geistliche war ein freundlicher alter Herr mit weißem Haar. Er sagte nichts, ließ seinen Blick nur bedächtig über die Versammelten schweifen und hob grüßend eine Hand. Diese Geste hatte er dem Papst abgeschaut und sie verfehlte auch nicht ihre Wirkung. Augenblicklich verstummte die Taufgesellschaft.
Sekunden später zog sie beim Klang von Orgelmusik in die Kirche ein. Gesenke Köpfe, ernste Gesichter. Alle schienen sich der Feierlichkeit des Augenblicks bewußt zu sein. Einzig Onkel Bernd schielte verstohlen nach seiner Armbanduhr.
Vorne angekommen verteilte man sich auf die Kirchenbänke. Streng getrennt - rechts die Verwandten der Mutter, links die des Vaters.
Der Pfarrer blieb kurz vor dem Altar stehen und wandte sich dann mit einem für sein Alter durchaus eleganten Schwung den Versammelten zu.

Schon während seiner Zeit als junger Kaplan war er zu dem Schuß gekommen, daß es für einen Geistlichen nicht so wichtig war, was er sagte, sondern vielmehr, wie er es sagte und mit welchen Gesten er seine Worte begleitete. Die Menschen kamen schließlich nicht in die Kirche, um komplizierte Dinge anzuhören. Sie wollten - so meinte er - im Gottesdienst dem Alltag entfliehen und Eintauchen in eine Welt, die nichts mit ihren werktäglichen Sorgen und Mühen zu tun hatte. Und diese Welt schuf er ihnen: Wohlklingende, meist nichtssagende Worte, Kerzenschein und Weihrauchduft.
Die Bedürfnisse der Menschen waren verschieden - das hatte der Pfarrer früh festgestellt. Manche Menschen brauchten diese Gottesdienstatmosphäre einmal pro Woche und kamen regelmäßig. Andere sah er nur zweimal im Jahr und wieder andere zwei- oder dreimal in ihrem Leben, etwa wenn sie heiraten, ihre Kinder taufen oder ihre Eltern beerdigen lassen wollten.
Er war zu der Erkenntnis gelangt, daß es für ihn am vorteilhaftesten war, wenn er die Unterschiedlichkeit seiner Gemeindemitglieder respektierte. Allen begegnete er zuvorkommend und mit einem gütigen Lächeln - auch denen, die seine Dienste nur sehr selten in Anspruch nahmen - und niemals trat er irgendjemandem zu nahe.
Und er wurde von allen geachtet und mit Ehrerbietung behandelt. Er hatte kein unangenehmes Leben.

Bei der schwungvollen Drehung, die er vollzog, um sich den Anwesenden zuzuwenden, hatte der Pfarrer eines nicht beachtet:
Die Putzfrau hatte eine Stunde zuvor die Bodenvase vor dem Altar anders plaziert. Es handelte sich um ein Arrangement aus Rosen und den Zweigen eines Dornenstrauchs, das anläßlich einer Marienandacht am vorigen Abend aufgestellt worden war.
Es kam, wie es kommen mußte:
Das Meßgewand des Pfarrers verfing sich in den Dornen und riß die Vase um, die mit lautem Klirren zerbrach. Eine Pfütze breitete sich auf dem Boden aus.
Alle machten erschrockene Gesichter - einzig der Pfarrer ließ sich nicht beirren und tat so, als wäre nichts geschehen. Seine Auffassung vom Wert einer ungestörten Zeremonie verbot es ihm, seine Stellung vor dem Altar zu verlassen und so begann er seine Begrüßungsansprache in der Wasserlache stehend.
Damit zwang er auch die beiden Ministranten, ihren Standort beizubehalten. Das Mädchen hatte neumodische Schuhe mit hohen Sohlen an und blieb relativ unbehelligt von der Nässe, während der Junge, der Gesundheitssandalen trug, ein unglückliches Gesicht machte und ab und zu mit den Zehen wackelte, um sie warmzuhalten.

"Brüder und Schwestern! In der allergrößten Freude sind wir heute an dieser geweihten Stätte zusammengekommen, um mitzuerleben, wie..."
Die Atmung des Täuflings wurde regelmäßiger und die Mutter beobachtete, wie ihm langsam die Augen zufielen. Sie wunderte sich. Um diese Uhrzeit schlief der Kleine sonst nie.

Die Tauffeier nahm ihren Fortgang. Alle lauschten mit recht andächtigen Gesichtern, nur Onkel Bernd blickte in regelmäßigen Abständen auf seine Uhr.
Auch Großonkel Xaver begann nach einiger Zeit unruhig auf der Bank hin- und herzurutschen. Seine Gattin Erna warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. Großonkel Xaver war manchmal nicht mehr ganz richtig im Kopf und hatte sie schon des öfteren in unangenehme Situationen gebracht. Da begann er auch schon laut zu jammern:
"Wann gibt's denn den Kaffee? Es is' doch glei' drei! I möcht jetzt mein' Kaffee!"
Seine Frau brachte ihn durch einen unsanften Stoß in die Rippen zum Schweigen.
"Bist net glei' staad! Mia san doch in der Kirch'!"
Ein paar Minuten später beugte sie sich nach vorne und tippte ihrer vor ihr sitzenden Cousine auf die Schulter.
"Da schau 'nüber!" zischte sie. Sie deutete mit einer Kopfbewegung zu den auf der anderen Seite sitzenden Verwandten der Mutter. "Die können net amal s'Vaterunser auswendig! Von dene' bet' keiner laut mit!"
"Tatsächlich!" Die Cousine folgte ihrem Blick und starrte eine Weile mißbilligend zu der so unfrommen Verwandtschaft hinüber, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Pfarrer zuwandte.

Dieser wies gerade mit einer salbungsvollen Geste zum Taufbecken.
"Und nun" sagte er, dessen dünne Lederschuhe bereits völlig durchgeweicht waren, mit Würde in der Stimme, "und nun wollen wir zur eigentlichen Taufe schreiten."

"Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes..."
Der schlafende Säugling zuckte zusammen und riß erschrocken die Augen auf, als ihm das Wasser über die Stirn lief. Doch dann siegte die Müdigkeit über den kleinen Körper. Statt loszukreischen, wie alle Anwesenden erwarteten, entschwand der Täufling mit einem leisen Seufzer wieder ins Reich der Träume. Er rümpfte nur noch einmal das Näschen, ehe er wieder in Tiefschlaf sank.

"So ein braves Kind! Nicht ein einziges Mal hat es geschrien...!"
"Der Pfarrer hat es aber auch sehr feierlich gemacht, das muß man sagen. Eine wirklich schöne Taufe!"
"Und sogar mit Orgelmusik! Das ist durchaus nicht in jeder Pfarrei üblich."
Die Taufgäste drängten sich im Wohnzimmer.
Die meisten von ihnen musterten dann und wann verstohlen mit hungrigen Blicken die Kuchen und Torten, die auf dem Tisch aufgebaut waren. Der Vater stand etwas abseits und versuchte unbeholfen, den Säugling, der langsam quenglig wurde, zu beruhigen.
Gleich nach der Heimkehr von der Kirche war die Mutter mit ihrer Schwester, der Taufpatin, in der Küche verschwunden, um Kaffee und Tee für die Gäste zu kochen.
Großtante Erna hatte den beiden mit einem Stirnrunzeln nachgesehen:
"Des hätt' net sei' müssen, daß eine von dene' Taufpatin wird!" raunte sie Großtane Mathilde zu, die neben ihr stand. "Die woll'n doch alle von der Kirch' nix wissen. Da hätt' sich doch in unserer Verwandschaft aa jemand g'funden!"
"Mag schon sein ..." räumte Mathilde flüsternd ein. "Andererseits hat man doch als Pate bloß Scherereien. Jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten muß man ein Geschenk parat haben. Das kann mit der Zeit mehr als lästig werden!"
"Da hast aa wieder recht." murmelte Erna. "Dann kann ma' ja direkt von Glück red'n, daß von uns keiner Pate word'n is'!" Sie ließ sich diese neue Erkenntnis durch den Kopf gehen, während sie mit kritischem Hausfrauenblick die verschiedenen Kuchen musterte.
Als die ersten Kannen mit frischem Kaffee hereingetragen wurden, setzte man sich erwartungvoll an den Tisch. Die Tassen wurden gefüllt, Milch und Zucker herumgereicht und Kuchen verteilt.
Vor Großmutter Sophies Platz stand ein Teller mit mehreren Stücken Aprikosentorte.
Sie nahm sich ein Stück.
"Der Diabetikerkuchen ist GEKAUFT!" sagte sie absichtlich laut. Ihre Stimme war eisig. "Das ist schon ein Armutszeugnis für eine Hausfrau, die einen zuckerkranken Gast einlädt!"
Allgemeines Schweigen.
Onkel Christoph, der den betroffenen Blick der Mutter sah, versuchte, die Situation zu retten.
"Der Bienenstich ist ausgezeichnet!" sagte er mit vollem Mund. "Du hast eine wundervolle Ehefrau." Er wandte sich dem Vater zu und klopfte ihm jovial auf die Schulter. "Ja, ja, ich sage es immer wieder - das einzig Wichtige an einer Frau ist, daß sie Backen und Kochen kann. Du hast es wirklich gut getroffen!"
Er bemerkte nicht, daß die Mutter die Lippen ärgerlich zusammenpresste und ihre Gesichtsfarbe dunkler wurde.
Kurze Zeit später war die ganze Gesellschaft mit Essen und Trinken beschäftigt und somit einigermaßen friedlich.
Bis Onkel Xavers laut klagende Stimme zu vernehmen war:
"Ja, gibt's denn da koa Schlagsahne zu dem Kuacha?"
Die Mutter, die sich gerade auf dem Sofa niedergelassen hatte um das Baby zu stillen, sprang betreten wieder auf und lief in die Küche.

Nachdem am frühen Abend die letzten Verwandten die Wohnung verlassen hatten, brach die Mutter des Täuflings in Tränen aus. Die Aufregungen des Tages waren zu viel für sie gewesen, die Berge von schmutzigem Geschirr, die in der Küche auf sie warteten, gaben ihr den Rest.
Von ihrem Weinen erwachte der Säugling. Er drückte die Lippen fest aufeinander und presste eine gehörige Portion Kacke in die Windel. Dann begann er zu kreischen. Er hatte Hunger. Er wollte jetzt seine Milch.
In der kommenden Woche würde sein Name im Kirchenanzeiger zu lesen sein in der Rubrik:
- In die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen -
 

klara

Mitglied
Hallo,
teilweise fühlte ich mich ungeduldig, als ich die Geschichte las. Die zermürbende Atmosphäre, die ich auch kenne, wollte ich schon beim Lesen hinter mich bringen.
Bis zum Ende gelesen.
Geduld hin oder her. Einfach köstlich.
Grüße
 
J

josipeters

Gast
sehr anschaulich geschildert, diese Geschichte

man kann die Situation sehr gut nachempfinden, diese anstrengende Feier kurz nach der Entbindung und die nervigen Gäste. Prima hingekriegt, alle Achtung
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo eli-fant,

so kann man auch mit Alltagsdingen
seinen Lesern Freude bringen.

Ja, das Lesen hat Spaß bereitet und wurde von Schmunzeln, lautem Auflachen und heftigem Nicken begleitet. Leider ist am Ende mein Mitgefühl mit der jungen Mutti (Papa bleibt dagegen recht blas - wie so viele Männer in solchen Situationen) so groß, daß ich mich nicht in der Lage fühle, etwas Kritisches anzumerken. Oder liegt es am Text? Hm - kann auch sein.

Gruß Ralph
 



 
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